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Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

795-796

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Thiede, Werner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Glauben aus eigener Vernunft? Kants Religionsphilosophie und die Theologie.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. 258 S. 8°. Kart. EUR 42,95. ISBN 978-3-525-56703-6.

Rezensent:

Harald Seubert

Das verbreitete Diktum von Kant als dem »Philosophen des Protes­tantismus« bedarf gerade angesichts der jüngeren Debatten um den Zusammenhang von Glaube und Vernunft der Überprüfung. Dazu trägt ein Sammelband bei, den Werner Thiede, Außerplanmäßiger Professor für Systematische Theologie in Erlangen und Verfasser grundlegender Bücher u. a zu Theologie und Natur, Christologie und Mystik, vorgelegt hat. Der Rede vom Philosophen des Protestantismus scheint schon die Kantische Explikation einer ›reinen Vernunftreligion‹ zuwiderzulaufen, wobei sich aus theologischer Sicht nicht zuletzt die Frage stellt, inwiefern ein »autonomer« Vernunftglaube möglich oder zumindest moralisch naheliegend sei. Die Problematik wird dadurch weiter kompliziert, dass seit Georg Picht ins Feld geführt wird, dass die Gottesfrage das Zentrum der Kantischen Philosophie insgesamt ausmache.
Die Auswahl der einschlägigen Aspekte und die Anlage des Bandes sind für eine theologische Überprüfung des Kantbildes gut geeignet. Er wird durch eine Tour d’horizon von Gunther Wenz eröffnet, die die Tektonik der Kantischen Philosophie, von der ›Kritik der reinen Vernunft‹ bis hin zu den Hauptwerken der Praktischen Philosophie und Religionsphilosophie, rekapituliert und da­bei bewusst einen ›unparteiischen‹ Gesichtspunkt einnimmt. Ge­rade für Theologen ist dies eine unüberbietbar klare und knappe Einführung in Kantisches Denken, die allerdings deren aporetische Züge weniger stark belichtet.
Vor dem Hintergrund der Frage, ob Gnade als »Ergänzung« der reinen Vernunft verstanden werden könnte, wendet sich der Herausgeber Werner Thiede dann ganz entschieden jener Aporetik zu. Damit steht und fällt auch die Rolle, die der Religion bei Kant zukommt. Was hat es damit auf sich, dass Kant den Schritt von der Moral zur Religion als »unumgänglich« auffasst? Thiede kommt zu dem Ergebnis, dass der Kantische Gnadenbegriff in einem Zirkel verstrickt ist, indem er unter einer Bedingung steht, die durch Gnade erst eingelöst werden könne, nämlich dem befreiten Willen.
Volker Stümke geht sodann der Frage einer Pneumatologie bei Kant nach. Er geht von der »dogmatisch ungewöhnliche[n]« Be­stimmung des Heiligen Geistes als Richter aus; besonderes Gewicht kommt dabei der Situierung des trinitarischen Gottesbegriffs unter der Rubrik des Geheimnisses zu. Dass der Kantische Gottesbegriff nicht, wie im Rationalismus der Aufklärung, in der theoretischen Vernunft verankert bleibt, sondern in den philosophischen Glauben führt, notiert Stümke mit Zustimmung. Wenn die Figur des Herzenskündigers auch auf die Lesbarkeit einer menschlichen Gesinnung ›coram Deo‹ durchlässig ist, so kommt Stümke doch letztlich zu einer Negativbilanz. Da in der Kantischen Religionsphilosophie die Beziehung zwischen dem Geist Gottes und der menschlichen Vernunft ungeklärt bleibe, könne man letztlich gar nicht von einer Kantischen Pneumatologie sprechen.
Martin Leiner wendet sich in einem besonders kenntnisreichen Beitrag Kants Rede von der Kirche zu: Leiner folgt der hermeneutischen Maxime, dass Kant in diesem Bereich vielleicht kritische Spitzen zurückgenommen habe, dass er aber kaum gegen seine Überzeugung geschrieben haben dürfte. Leiner begreift die Religionsschrift als Programm einer Kirchenreform in der Spannung zwischen den fortbestehenden statutarischen Elementen und dem angezielten reinen Religionsglauben. Die kirchen- und heteronomiekritischen Akzente, etwa der Verweis auf ›Afterdienst‹ und ›Religionswahn‹, haben darin ihre Funktion. Leiner kontrastiert den Kantischen Ansatz mit kirchenkritischen Akzenten Luthers und schreibt ihn in der Spannung zwischen empirischer und wahrer Kirche und moralischer Weltgesellschaft auch auf gegenwärtige Debatten hin fort. Das eigentlich unterscheidende Moment wird auch hier pointiert herausgearbeitet. Es besteht darin, dass Kant »von der Gewissenserfahrung der unbedingten Forderung ausgeht und bei ihr […] stehenbleibt«, während das Gewissen für Luther durch den extrinsischen Freispruch Gottes bestimmt ist.
Hans Schwarz widmet sich in eingehenden Erwägungen dem Eschaton in Kants Sichtweise. Ende und Erfüllung gingen auch bei Kant keineswegs in einem moralischen Anspruch auf. Kant intendiere einen Glauben, der in der Liebe sich bewährt und »übersinnlich«, damit aber nicht den Zeitbedingungen unterworfen angelegt sei. Hier rücken Affinitäten Kants zu evangelischen Theologoumena offensichtlich stärker in den Vordergrund als in früheren Beiträgen des Bandes, eine Linie, die sich in Matthias Heeschs instruktiver Studie über Kants Wirkung auf Schleiermacher fortsetzt. Obgleich Schleiermacher die postulatorische Kantische Ethik auf eine geschichtlich orientierte Ethik hin modifiziere, folge er doch Kant in wesentlichen Stücken, wenn auch im Sinn einer eigenständigen Rezeption. Während Kant nämlich Welt- und Gottesbewusstsein weitgehend einander konfrontiere, verfolge Schleiermacher die Oszillation zwischen beiden.
Am Ende des Bandes steht eine Interpretation des sittlichen höchsten Gutes bei Kant und Ritschl aus der Feder von Christine Axt-Piscalar, die die Reichweite der sittlichen Interpretation des Reiches Gottes nachzeichnet.
Auch vor dem Hintergrund einer zunehmenden katholischen Rezeption der Kantischen Religionsphilosophie (Norbert Fischer u. a.) ist dieser Band sehr zu begrüßen. Seine Beiträge enthalten im Einzelnen strittige Diskussionspunkte, und es wäre wünschenswert gewesen, diese Differenzen auszutragen oder in einem eigenen Aufsatz zumindest zu benennen. Mit solchen weitergehenden Überlegungen wäre das Profil des Bandes wohl aufgesprengt worden. Die Hinweise sind daher nicht so sehr als Einwände zu verstehen. Sie sollten vielmehr zeigen, dass sich hier weitere Forschungen anschließen lassen. Einer wünschenswerten Neuauflage sollten Literaturverzeichnis und Personenregister angefügt werden.