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Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

788-789

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Weiß, Bardo

Titel/Untertitel:

Jesus Christus bei den frühen deutschen Mys­tikerinnen. Teil 2: Das Wirken.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2010. 1227 S. gr.8°. Geb. EUR 118,00. ISBN 978-3-506-76973-2.

Rezensent:

Werner Thiede

»Das, was die frühen deutschen Mystikerinnen anstrebten, und wonach der heutige Mensch sucht, hat viele Gemeinsamkeiten«, meint Bardo Weiß – Priester der Diözese Mainz und Professor em. für Dogmatik an der dortigen Universität – im Nachwort seines opulenten Werkes. Ob diese Aussage so stehen bleiben kann oder Skepsis verdient, kann dahingestellt bleiben, weil es dem fleißigen Autor darum gar nicht geht. Er bietet eine breit angelegte und akribisch durchgeführte historische Sichtung unter thematisch geordneten Aspekten.
Während der erste Band (2009) die unterschiedlichen Namen für Jesus Christus bei den deutschen Mystikerinnen behandelt, ist der zweite Band dem betrachteten und gedeuteten Wirken Jesu Christi gewidmet. Dieses umfasst auch das überirdische Wirken des noch nicht Inkarnierten und setzt darum ein beim innertrinitarischen Ratschluss des Vaters, um sich bis zur anvisierten Wiederkunft Christi am Ende der Zeit zu erstrecken.
Am häufigsten haben die Mystikerinnen sich allemal mit dem Sterben und Auferstehen Christi beschäftigt, wie denn überhaupt ihr Denken in der Regel zutiefst christozentrisch und in der Regel dogmatisch korrekt ausfällt. Es geht um meditatives bzw. visionäres Erspüren und Erfahren des kirchlich Geglaubten, nicht um häretischen Enthusiasmus. Allerdings ist die Liebe zum theologisch nicht unbedingt maßgeblichen Detail ein verbreitetes Charakteristikum der behandelten Texte. Betont wird gern die kenosis des Logos, ohne diese theologisch zu reflektieren. Sodann begegnet eine ausgeprägte »Kindheitjesufrömmigkeit«. Beispielsweise wird schon den Schmerzen des Jesus-Babys in der Krippe und bei der Beschneidung erlösende Wirkung zugeschrieben. Überhaupt stößt man auf eine »Fülle der Erlösungsmodelle« (1210), die allesamt liebesmystischem Denken dienlich sind.
W. beschreibt mit extremer Gründlichkeit die so vielfältigen Versuche, Christi Wirken darstellend zu erfassen, um davon die persönliche Verehrung, die Christusfrömmigkeit in einem eigenen Kapitel abzuheben. Bei alledem bezieht er neben zahlreichen Mys­tikerinnen wie z. B. Mechthild und Margareta von Magdeburg, Hildegard von Bingen, Lukardis von Oberweimar, Elisabeth von Schönau, Agnes von Blannbekin, Beatrijs von Nazareth, Juliana von Cornillon, Mechthild von Hackeborn, Gertrud der Großen und Christina von Stommeln auch männliche Mystiker wie etwa Hugo von St. Viktor, Johannes von Ford, Wilhelm von St. Thierry, Isaak von Stella, Gilbert von Hoyland, Guerricus von Igny oder Bernhard von Clairvaux selbstverständlich (angesichts des Titels eigentlich zu selbstverständlich) mit ein.
Nachdem Fragen der Historizität und Authentizität sowie der philologische Hintergrund bereits in den Prolegomena des ersten Bandes behandelt worden waren, setzt W. sogleich mit dem Ratschluss der Dreifaltigkeit zur Erlösung ein. Man merkt von Anfang an, dass die historische Puzzle-Arbeit einschließlich der erforderlichen Begriffsklärungen von einem Dogmatiker geleistet wird. Was er zusammengetragen hat und zusammenfügt, sind Visions- und Reflexionselemente aus frommer mystischer Betrachtung, die zwar viele Jahrhunderte zurückliegen, aber der heutigen Leserschaft einen Eindruck davon verschaffen können, wie über den »garstigen Graben« der geschichtlichen Distanz und auch über die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz hinweg das Wirken Jesu Christi anschaulich und einfühlsam gedacht und vorgestellt werden kann. Der Informationswert über mittelalterliche Mystik ist hierbei das Eine; das Andere der spirituelle Wert als solcher, weil mit dieser Zusammenstellung aufs Neue ein mystagogischer Zugang zum Christusglauben eröffnet werden will. Der aber ist – das steht außer Frage – klar von römisch-katholischer Tradition und eben auch mittelalterlichen Fragestellungen und Vorstellungsweisen geprägt. Kant hat in diesem Kontext nichts verloren, ebenso wenig Schleiermacher oder Troeltsch.
Lateinische Zitate werden übersetzt. Alles ist in Tausenden von Fußnoten sauber belegt. Ein Literaturverzeichnis ist beigegeben, aber ein Personenverzeichnis – das ohne Zweifel sinnvoll gewesen wäre – hat man sich bei der ohnehin enormen Länge des Werkes am Ende leider gespart.