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Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

786-787

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kummer, Ulrike

Titel/Untertitel:

Autobiographie und Pietismus. Friedrich Christoph Oetingers Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes=Gelehrten. Untersuchungen und Edition.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2010. 264 S. 8°. Geb. EUR 46,80. ISBN 978-3-631-60070-2.

Rezensent:

Martin Weyer-Menkhoff

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Oetinger, Friedrich Christoph: Genealogie der reellen Ge­dancken eines Gottes-Gelehrten. Eine Selbstbiographie. Hrsg. v. D. Ising. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2010. 267 S. 8° = Edition Pietismustexte, 1. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-374-02797-2.


Es wäre ja auch verwunderlich, wenn bei der Beschäftigung mit dem schwäbischen Universalgelehrten und Theologen des Leibes und Lebens Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) nicht etwas Kurioses passierte, was hier anzuzeigen ist. »Er hat seinen Lebenslauff selbst beschrieben, mit dem Anverlangen, selbigen zu seiner Zeit, mit Beydruckung aller seiner Lieder herauszugeben. Das Manuscript ist groß, und gäbe ein eignes Bändgen. Es ist in guten Händen, wird aber davor gehalten, mit der Ausgabe desselben zur Zeit noch gemach zu thun.« Man hat sehr gemach getan, denn die Zeit, von der Oetingers Schwiegersohn hier kurz nach dessen Tod schrieb, war offensichtlich erst im vorigen Jahr gekommen, nachdem das verloren geglaubte Manuskript bereits in den 1950er Jahren aus den »guten Händen« in die des Landeskirchlichen Archivs Stuttgart übergegangen war. Oetinger hat seine Autobiographie 1762, im Alter von 60 Jahren, diktiert, danach fortgeschrieben und bis in die letzten Lebensjahre ergänzt.
Bis zur Wiederentdeckung des Urtextes waren lediglich zwei unvollständige Abschriften als MS bekannt. Nach und nach wurde die Selbstbiographie erst in Auszügen, dann in verschiedenen, nicht ganz vollständigen Ausgaben gedruckt, von 1961 bis 1990 in drei Auflagen als gut brauchbarer und wohlfeiler Text. Erst jetzt ist der Text kritisch ediert, dafür aber unabhängig voneinander in zwei »Bändgen«. Was ist davon zu halten?
Die zuerst erschienene Ausgabe ist die Veröffentlichung der Frei­burger germanistischen Dissertation von Ulrike Kummer bei Joachim Telle. Die Selbstbiographie wird separat mit Marginalien ohne Hilfsüberschriften auf knapp 60 Seiten wiedergegeben, Varianten und ein Stellenkommentar schließen sich in doppeltem Umfang als Anmerkungen an. Wie schon in der Einleitung wird auch hier das Interesse dieser Ausgabe deutlich: hinzuweisen auf die alchemistischen und hermetischen Traditionen, die für Oetinger (allerdings unter anderen) wichtig sind. Die theologische Bedeutung der Hermetik für Oetinger aufzuzeigen, bleibt trotz vor­- züglicher Arbeiten, etwa von Antoine Faivre, auch weiterhin eine Aufgabe, zu der diese Edition auffordern will. In den verwandten For­schungsfeldern zur Kabbala und zu Jakob Böhme sind wir weiter. So ist es erfreulich, dass Kummer sich auf dieses schwierige Gebiet wagt und eine Reihe von Traditionen beleuchtet und nicht leicht zu findendes Material zur Weiterarbeit präsentiert. Denn »es steht zu vermuten, daß die Strahlkräfte der Alchemie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in einem viel breiteren Maße wirkten als bislang angenommen« (20). Der Titel »Autobiographie und Pietismus« leitet etwas in die Irre. Neben dem alchemistischen Schwerpunkt erschließt der Stellenkommentar Personen, Orte, Zitate, Anspielungen. Darin stecken große Arbeit und Findigkeit, die auch von Gespür für theologische Sachverhalte zeugen. Etwas gewöhnen muss man sich an den immer wieder belehrenden Stil Kummers, den man teils als Entdeckerfreude verstehen kann, der aber bisweilen unangemessen ist.
Ein halbes Jahr später kam die von Dieter Ising besorgte Edition heraus. Offensichtlich überrascht von Kummers Arbeit konnte er noch während der Buchproduktion auf sie anmerkungsweise eingehen. Diese Edition setzt als 1. Band in neuem Gewand (und zu teuer) die bisherige Reihe »Kleine Texte des Pietismus« fort. In gut lesbarer Weise wird der Text typographisch durchdacht und mit Ko­-lumnentiteln versehen auf gut 200 Seiten präsentiert. Die Textgestaltung folgt überzeugenden Grundsätzen, offensichtliche in­haltliche Fehler und Verschreibungen werden angemerkt und Verbesserungen vorgeschlagen; auch dies macht die Ausgabe für ein breiteres Publikum brauchbar. Der Text wird fortlaufend mit fast 1200 Fußnoten kommentiert bzw. erläutert; das lästige Blättern entfällt. Ising weist selbst darauf hin, dass es sich hierbei nicht um einen systematischen Kommentar, sondern um einzelne, notwendige Erläuterungen handele. Diese Beschränkung ist sinnvoll, be­dürfte es sonst eines weiteren Bandes. Gleichwohl erschließen die Erläuterungen nicht nur Personen, Orte, literarische, vor allem biblische Anspielungen oder Zitate, alte Sprachformen und Übersetzungen, sondern verifizieren in breiter Weise (auch sehr entlegene) Quellen zu den verschiedensten Wissenschaftsgebieten, mit denen sich Oetinger be­schäftigte. Sorgfältig ausgewählt weist Ising auf das hin, womit er einerseits den Interessenten weiterführt und andererseits gegenüber der Kennerin, dem Fachmann in eine Dis­kussion eintritt und gleichwohl Raum für eigene Interpretationen lässt.
Sachlich und formal gibt es in beiden Ausgaben nur Kleinigkeiten zu korrigieren, zum Beispiel zu bibliographischen Angaben. Über manche Einschätzungen der Forschungslage kann man streiten. Dass man in diesen Ausgaben immer noch etwas zum Ergänzen finden kann, ist bei diesem Polyhistor kein Wunder.
Die Ausgabe von Ulrike Kummer eignet sich als Studientext für Leute, die gern Texte in kleiner Drucktype lesen; für Forscher der immer noch wenig bearbeiteten alchemistischen Bezüge und Ideen Oetingers ist sie unverzichtbar. Die vorzügliche Edition Dieter Isings ist nicht nur für breitere Kreise geeignet, sondern angetan, die wissenschaftliche Standardausgabe der Selbstbiographie Oetingers zu werden. So ergänzen sich beide Editionen. – Durch den Handschriften-Fachmann Ising kann man sich gut die Erfüllung eines weiteren Desiderats der Oetinger-Forschung vorstellen: eine kritische Edition der Briefe.
Eines der wesentlichen und unverzichtbaren Werke zum Verständnis Oetingers, seine Selbstbiographie, liegt nun also vollständig und erschlossen in kritischer Ausgabe vor. Das war nötig – die unbeabsichtigte Doppelung zeigt, wie sehr. Das enge Verhältnis von Biographie und Genealogie seiner Theologie bietet einen guten Einstieg zum Verständnis dieses Denkers, dessen programmatische Einfachheit umständehalber etwas kompliziert geworden ist. Oetingers Briefe und umfangreiches Werk zeigen, dass die Selbstbiographie äußerst präzise und wenig glättend verfasst ist. Über das historische Studium Oetingers, des Pietismus, der Autobiographie hinaus ist die Beschäftigung mit diesem unkonventionellen Theologen in Zeiten von fundamentalistischen Tendenzen, Funktionalisierungen, Quantifizierungen und Simplifizierungen er­schütternd anregend. Natürlich sind viele Erkenntnisse seiner Elektro- oder Chemotheologie überholt. Das gilt aber nicht von Oetingers Überzeugung, dass Gott im Detail steckt, und von der Weise, wie die Theologie sich daher mit Einzelheiten befassen und das Gespräch mit allen Wissenschaften suchen muss – und dies muss keineswegs neuplatonisch sein, und ist es schon bei Oetinger nicht.