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Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

783-785

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Beutel, Albrecht, Leppin, Volker, Sträter, Udo, u. Markus Wriedt [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2010. 394 S. m. Abb. gr.8° = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 31. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-374-02790-3.

Rezensent:

Reinhold Rieger

In diesem Band erscheinen zum dritten Mal Erträge des Arbeitskreises »Religion und Aufklärung«, der sich einmal jährlich in Wittenberg zusammenfindet, um konzentriert zentrale, aber bisher wenig erforschte Bereiche der Theologie der Aufklärungsepoche auszuleuchten. Der jetzt von den Herausgebern, die auch die Leiter des Arbeitskreises sind oder waren, zusammengestellte Band hat einen Schwerpunkt beim Thema der Toleranz, das in zehn von 23 Beiträgen zur Sprache kommt, somit ca. 40 % des Bandes in An­spruch nimmt. Um dieses Kernthema herum gruppieren sich in reizvoller Weise Aufsätze zu Literatur mit religiösen Themen in der Aufklärungszeit, Beiträge zu politischen Aspekten, zur biblischen Hermeneutik, Historiographie, Pädagogik und Homiletik. Der im Titel gesteckte zeitliche Rahmen wird in vier Beiträgen überschritten, einmal zurück ins Konfessionelle Zeitalter, dreimal vorwärts ins 19. Jh. Der fleißigste Autor war Dirk Fleischer mit drei Beiträgen, gefolgt von Michael Maurer, der zwei Aufsätze beisteuerte, während alle anderen Autoren sich mit einem Text begnügten.
Das Hauptthema der Toleranz, ein Grundbegriff und Grundanliegen der Aufklärung, wird von dem im Erscheinungsjahr des Bandes verstorbenen Tübinger Praktischen Theologen Hans Martin Müller durch eine Analyse der Entstehungsbedingungen des Menschenrechts der Religionsfreiheit, in der er auf die Antike zurückgreift und die Entwicklung im Christentum bis zur Aufklärung nachzeichnet, eingeführt. In diesem Prozess waren schließlich drei Impulse wirksam, die bis heute anhalten: »1. Die Steigerung des Toleranzgedankens in Richtung auf eine als Menschenrecht verstandene Religionsfreiheit. 2. Die Unterscheidung von in­dividueller und kollektiver Religionsfreiheit. 3. Die Forderung nach konsequenter Trennung von Kirche und Staat« (137).
Dirk Fleischer stellt die Theorie religiöser Toleranz bei dem Schüler Johann Lorenz Mosheims, Johann Peter Miller, vor, der in den von ihm verfassten Bänden der Sittenlehre der Heiligen Schrift zwischen einer theologischen und einer bürgerlichen Toleranz unterscheidet. Hans-Martin Kirn untersucht das Thema Toleranz im Dictionnaire historique et critique von Pierre Bayle und zeigt, dass für Bayle Toleranz keineswegs Indifferenz gegenüber der Wahrheitsfrage bedeutete, obwohl er auf die Tradition des Skeptizismus zurück­griff, um dem »konfessionellen Deutungsmonopol« zu entgehen. Christoph Bultmann bezieht die Toleranzvorstellungen von Hugo Grotius und Gotthold Ephraim Lessing aufeinander und weist auf, dass vom einen zum anderen eine Traditionslinie verläuft, die sich an Lessings Festhalten an Wahrheitsgewissheit zeige. Christian Weidemann versucht, verbreitete Missverständnisse des Verhältnisses von Immanuel Kants Toleranzbegriff zu seiner Kritik an positiver Religion und Atheismus auszuräumen, indem er zeigt, dass die Argumente für religiöse Toleranz dieser Kritik nicht widersprechen, ja sie sogar bedingen. Christopher Voigt-Goy stellt die Revision des lutherischen Ketzerrechts im Halleschen »rationalen Territorialismus« bei Christian Thomasius, Justus Henning Böhmer und Siegmund Jacob Baumgarten dar, der die Häresie nicht als Verbrechen, sondern als Irrtum zu betrachten lehrte. Michael Maurer verfolgt Ausprägung und Grenzen der Toleranz in England, Schottland und Irland von der Glorreichen Revolution 1689 bis ins 19. Jh. auf der Grundlage der Geschichte ihrer Kirchen seit dem 16. Jh. Andreas Urs Sommer führt ein »Meisterstück indirekter Kritik an der Institution Kirche und der von ihr praktizierten Intoleranz« (261) am Beispiel einer Kunstkritik von Fried­rich Melchior Grimm, der über zwei Gemälde von Carle Vanloo im Pariser Salon der Königlichen Akademie für Malerei und Bildhauerei berichtete, vor Augen. In einem über den Zeitrahmen des Bandes hinausgreifenden Beitrag über den amerikanischen Lutheraner Samuel Simon Schmucker, der 1846 eine Reise nach Europa unternahm, führt Angelika Dörfer-Dierken ein frühes Beispiel für einen »Konfessionstourismus« vor, in dem sich die Konfessionen gegenseitig wahrnehmen und der von Kontroverstheologie begleitet ist. Der Konfessionstourist erkennt im Österreich des 19. Jh.s eine politische Macht des Katholizismus, die zur Intoleranz gegenüber anderen Konfessionen führte, und macht selbst die Erfahrung der Bedrohung durch die intolerante Staatsmacht. Ein weiterer Reisebericht zum Thema Toleranz wird von Ulrich Dreesmann vorgestellt: die fiktiven »Briefe über den Religionszustand in den preußischen Staaten« von 1778–1780, in denen der Berliner reformierte Prediger J. H. F. Ulrich sein »Toleranzkonzept im Gewand der Erfahrung, im Kleid der Empirie, vorführt« (295). Auch beim Thema der religiösen Eide auf den britischen Inseln, mit dem Michael Maurer hinter den Zeitrahmen des Bandes auf das Konfessionelle Zeitalter zurückgreift, kommt die Toleranz am Rande, also am Ende des besprochenen Zeitabschnitts mit der Toleranzakte von 1689, die es Dissentern wie den Quäkern erlaubte, auf einen religiösen Eid zu verzichten, zur Sprache.
An die Beiträge zur Toleranz schließen sich vier Aufsätze mit politischen Themen an. Christoph T. Beckmann untersucht die poli­­-tische Dimension in Gottlieb Jacob Plancks Geschichte der luthe­-rischen Bekenntnisbildung bis zur Konkordienformel vom Ende des 18. Jh.s, deren thematische Fokussierung eine Folge seiner pragmatischen, auf den Menschen als Handelnden abzielenden Historiographie ist. Stefan Michel stellt um 1800 ein Aufkommen politischer Predigten fest und veranschaulicht das am Beispiel des Geraer Superintendenten Johann Zacharias Hermann Hahn, der in seinen Predigten programmatisch Politik, Religion und Moral verbinden und damit christlichen Staat und Gesellschaft fördern wollte. Rolf Schäfer stellt die durch Prinzipien der Aufklärung be­stimmte Religions- und Bildungspolitik gegenüber Juden, evangelischer Kirche und Erweckungsbewegung im Herzogtum Ol­denburg um 1800 dar, die von Albrecht von Haller beeinflusst wurde. Klaus-Bernward Springer zeigt den »letzten geistlichen Reichsfürsten« Carl von Dalberg als katholischen Aufklärer, der in seiner Zeit als Statthalter des Kurfürs­ten von Mainz in Erfurt Ende des 18. Jh.s Ideen der Aufklärung politisch, besonders bildungs- und sozialpolitisch umsetzen wollte.
Den Umgang der Aufklärung mit der Bibel thematisieren drei Beiträge: Daniel Weidner untersucht Johann David Michaelis’ Übersetzung des Alten Testaments, die er mit umfangreichen his­torischen und philologischen Anmerkungen versehen hat, und beobachtet, wie eine doppelte Übersetzung entsteht – eine am Wortlaut orientierte und eine rationale, die in den Anmerkungen entfaltet wird. Dirk Fleischer entfaltet die Kontroverse zwischen Hermann Samuel Reimarus und Johann Salomo Semler über das Verständnis der Bibel, die sich am siebten Fragment von Reimarus entzündete und bei Semler einen methodischen »Strukturwandel in der Erforschung des Urchristentums« (79) erkennen lässt. Klaus Fitschen stellt Gustav Friedrich Dinters Schullehrer-Bibel von 1824–1830 vor, in der er eine moderat aufgeklärte Lesart der Bibel zu pädagogischen Zwecken vertrat. – Zwei Beiträge behandeln literarische Themen: Volker Leppin beschäftigt sich mit zwei »unspiel­baren Dramen« von Friedrich Gottlieb Klopstock und seiner Frau Meta, von denen das des Ersten ein paar Mal aufgeführt wurde, aber eigentlich nicht für Inszenierungen gedacht war. Beiden Autoren ging es in ihren Stücken um ein Problem aufgeklärter biblischer Hermeneutik. Chris­tina Reuter stellt Johann Caspar Lavaters vierbändiges Riesenwerk »Pontius Pilatus« von 1782/83 als einen Versuch vor, eine »Bibel im Kleinen« zu schreiben, die sich aus der Szene der Verurteilung Christi entfaltet.
Drei Beiträge lassen sich keiner anderen thematischen Gruppe zuordnen: Wolf-Friedrich Schäufele untersucht »Grundsätze theologischer Frühaufklärung« in der weit verbreiteten Enzyklopädie von Johann Heinrich Zedler aus den Jahren 1732–1754. Andres Straßberger revidiert die Terminologie von Rechts- und Linkswolffianismus in der Theologie am Beispiel von Johann Lorenz Schmidt und Johann Gustav Reinbeck, deren Differenz er an einem Unterschied zwischen hermeneutica universalis und hermeneutica sacra aufweist und sie als »liberal-theologischen« bzw. »konservativ-theo­logischen Wolffianismus« bezeichnet. Dirk Fleischer schließlich weist auf die 1788 veröffentlichte Theorie der Kirchengeschichte als Wissenschaft beim Prager katholischen Theologen Kaspar Royko hin, der sich auf Mosheim, Schroeckh und Walch stützte und konsequent die pragmatische Methode propagierte, die auch die Dogmatik ganz historisch werden ließ.
Der Sammelband enthält einen bunten Strauß von erhellenden Beiträgen zur theologischen Aufklärung auch über die Grenzen des im Titel genannten 18. Jh.s hinaus und bringt die Aufklärungsforschung wieder um ein gutes Stück weiter.