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Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

781-783

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Zwierlein, Otto

Titel/Untertitel:

Petrus in Rom – Die literarischen Zeugnisse. Mit einer kritischen Edition der Martyrien des Petrus und Paulus auf neuer handschriftlicher Grundlage.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2009. XIII, 476 S. u. 4 Tfn. m. Abb. gr.8° = Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte, 96. Lw. EUR 98,00. ISBN 978-3-11-020808-5.

Rezensent:

Jan Dochhorn

Die anzuzeigende Abhandlung zerfällt in zwei Teile: Zunächst wird nachzuweisen versucht, dass die Überlieferung vom Aufenthalt und Martyrium des Petrus in Rom ahistorisch ist, und dann wird ein Text aus dem Bestand der Petrus- und Paulusakten neu herausgegeben. Die Besprechung wird sich zunächst der Edition und dann der Petrusthese widmen:
Nahezu unübersehbar ist, was sich an apokryphen Petrus- und Pauluserzählungen in der Literatur der Antike und des Mittelalters erhalten hat. Ein altes Zeugnis zur Petrusüberlieferung sind die Actus Vercellensis, eine lateinisch erhaltene Petruserzählung, die in einem Codex aus dem 7. Jh. auf uns gekommen ist (ediert bei Lipsius, Acta Apostolorum Apocrypha I,45–103, vgl. ibid. XXXIII–LII). Diese endet mit einem Martyrium des Petrus, das sich in einigen griechischen Handschriften und orientalischen Übersetzungen separat erhalten hat (Lipsius I,84–103) und sekundär durch die Passio Petri des Pseudo-Linus bezeugt wird (Lipsius I,1–22). Eine Athoshandschrift hat darüber hinaus ein griechisches Korrelat zu drei Kapiteln, die dem Martyrium in den Actus Vercellenses vorausgehen (Lipsius I,78–85). In den genannten griechischen Zeugnissen folgt auf das Martyrium des Petrus ein Martyrium des Paulus, das eine Parallele in einem lateinischen Fragment findet; auch bei Ps-Linus folgt auf die Passio Petri eine Passio Pauli (vgl. Lipsius I,23–44). Es gibt also eine wohl ursprünglich griechische Sammelausgabe der Martyria Petri et Pauli, deren Petrus-Teil eine Parallele in den Actus Vercellensis hat und daher ziemlich alt sein wird.
Diese Sammelausgabe gibt Z. neu heraus (339 ff., vgl. speziell die Einleitung, 339–400). Er greift dabei auf die schon bei Lipsius verwendeten Textzeugen zurück und integriert weitere, unter anderem neu hinzugekommene koptische Textzeugen und ein Papyrus aus Hamburg, vgl. Lipsius I,LV und Z. 338–342, vor allem aber einen bisher unbekannten griechischen Textzeugen aus Ochrid (Sigel O, vgl. 338), der Z. zufolge im Verbund mit der slawischen Überlieferung den gesamten übrigen Zeugenbestand aufwiegt, vgl. das Stemma auf S. 360.
Z.s editorische Arbeit gibt, so verdienstvoll gerade die Einarbeitung des Textzeugen aus Ochrid erscheint, Anlass zur Kritik: So bleibt vieles an seinem Stemma unbegründet, weil er fast nur den Text aus Ochrid im Auge hat. Umso mehr stellt sich die Frage, warum Z. sich so wenig Mühe mit der slawischen Version gemacht hat: Wenn sie als einziger Zeuge neben dem Text aus Ochrid steht, hätte er sich nicht mit den unvollständigen Angaben aus dem Apparat von Lipsius zufriedengeben dürfen (vgl. 341.351), vielmehr wäre eine vollständige Erschließung des slawischen Textes notwendig gewesen. Die koptischen Zeugen werden immerhin erfasst (nach den italienischen Übersetzungen). Aber wo bleiben die auf S. 38 ohne bibliographische Angaben erwähnten anderen orientalischen Textzeugen?
Z.s Untersuchung zur Petruslegende ermangelt nicht des Muts zur These: Z. legt dar, dass die Assoziation von Petrus mit Rom auf einen Fehler des Justin zurückgeht, der eine Statue des Semo sancus fälschlich auf Simon Magus bezog (vgl. Justin bei Eus, Hist Eccl II,13,3–5) – mit der Folge, dass sich eine Acta 8 nachgebildete Überlieferung von einer Konfrontation zwischen Simon und Petrus in Rom entwickelte und anschließend eine Tradition über ein Petrusmartyrium in Rom (vgl. 332–333). Doch dabei bleibt Z. nicht stehen: Er präsentiert eine literarhistorische Skizze, die fast die gesamte frühchristliche Literatur um 100 n. Chr. betrifft. Der 1Petr etwa ist nach 110 verfasst, der 1Clem um 125 und die sieben bei Euseb ge­nannten Ignatiusbriefe aus der gemischten Sammlung sind unecht (geschrieben etwa um 170 n. Chr.). Begründet werden diese Aussagen fast durchgängig durch konkordante und inhaltliche Übereinstimmungen zwischen Texten, die konsequent auf literarische Abhängigkeit zurückgeführt werden, ohne dass dabei auch nur der Schatten eines Zweifels übrig bliebe – sowohl im Hinblick auf die Tatsächlichkeit des Abhängigkeitsverhältnisses wie auch auf das Gefälle zwischen den Texten. Als Beispiel mag man sich S. 285–287 zu Gemüte führen, wo Z. darlegt, dass die Wiedergeburtsmotivik des 1Petr von der des Johannesevangeliums abhänge, und zwar einmal indirekt über den Jakobusbrief und zum anderen direkt. Z. kennt sehr wohl die in der neutestamentlichen Wissenschaft be­vorzugte Alternative, gemeinsame Traditionen anzunehmen (245–246), sieht aber die Gefahr, dass man mit diesem Erklärungsversuch »unbequemen chronologischen Folgerungen« ausweiche. Andere Begründungsmuster kommen ins Spiel, wenn nachzuweisen ist, dass die Quellen »etwas anderes sagen«: So hat Hegesipp etwa in Rom keine Sukzessionsliste erstellt, sondern sich dort einfach nur aufgehalten (statt διαδοχήν ἐποιησάμην ist in Euseb, Hist Eccl IV,22,1–3 mit Rufin διατριβήν ἐποιησάμην zu lesen, vgl. 166–169).
Z.s Standpunkt kann in dieser Rezension nicht widerlegt werden. Einleuchtende Gegenargumente wird man immer noch finden bei B. Altaner: War Petrus in Rom?, in: Ders.: Kleine patristische Schriften (Texte und Untersuchungen 83), Berlin 1967, 509–526, der sich gegen Heussis Versuch einer Dekonstruktion der Petruslegende wendet. Doch soll wenigstens Skepsis hinsichtlich der Argumen­tationsweise Z.s angedeutet werden, und zwar anhand dreier älterer Zeugnisse zum Aufenthalt und Martyrium des Petrus in Rom.
– 1Petr 5,13: Gegen Abschluss seines Briefes grüßt Petrus, ob nun echt oder unecht, seine Adressaten aus »Babylon«. »Babylon« wird mit Euseb, Hist Eccl II,5,2 oft als Deckname für Rom aufgefasst, vgl. den Sprachgebrauch der Apokalypse, rabbinische Zeugnisse bei Strack-Billerbeck III,816 und Or Sib V,155–161, wo die Zerstörung Babylons und Italiens angekündigt wird. Für Z. (7–12) ist eine solche Bedeutung in Abrede zu stellen, und zwar »zwingend« (das Wort kommt mehrfach vor auf den betreffenden Seiten). Er sieht »Babylon« als Symbolnamen für den Aufenthalt in der Diaspora und ordnet es so der Diasporamotivik des Briefes zu. Eine Gleichung Babylon = Rom hätte etwas »ungemein Gehässiges und Diffamierendes« (7) und werde »durch den ganzen Briefduktus ausgeschlossen« (11), der durch »Loyalität zum römischen Staatswesen« ge­prägt sei (7). Doch die Gegenargumente Z.s sind nicht »zwingend«, weil sie der Komplexität des 1Petr nicht gerecht werden: So ist die Obrigkeitsparänese in 1Petr 2,13–17 zwar durchaus loyal, aber eben auch gehässig, denn das Ziel des anbefohlenen Gehorsams besteht darin, den Gegnern der Christen das Maul zu stopfen (1Petr 2,15). Außerdem wirkt die Gleichsetzung von Babylon und Rom nur in der Apokalypse eindeutig polemisch. Bei den Rabbinen ist dies nicht durchweg der Fall, und in 1Petr 5,13 kann Babylon auch einfach nur die Hauptstadt der Diaspora sein.
– 1Clem 5,4: Dort heißt es, dass Petrus Qualen erlitten, »Zeugnis abgelegt« habe (μαρτυρήσας) und zu dem ihm gebührenden Ort der Herrlichkeit gelangt sei. Z. sieht hier keinen Hinweis auf ein Martyrium, weil μαρτυρέω im 1Clem sonst keine martyriumstheologische Bedeutung habe (vgl. 17). Aber in 1Clem 5,4 weist die Sequenz Leiden/Zeugnis/Ort der Herrlichkeit wohl doch auf eine Todesart. Ein vom Kontext abweichender Sprachgebrauch ist bei Traditionsübernahme übrigens gut denkbar, und 1Clem 5,4 bietet Wissen über eine andere Person, also Tradition. Man wird 1Clem 5,4 wohl gegen Z. als Beleg für einen technischen Martyriumsbegriff werten können. Vorbereitet ist dieser Sprachgebrauch schon länger, vgl. 1Petr 5,1, wo Petrus sich nach einem Hinweis auf einen möglichen Tod um des Glaubens willen (1Petr 4,19) als μάρτυς τῶν τοῦ Χριστοῦ παθημάτων darstellt, und Apc Joh 2,13, wo der um des Glaubens willen getötete Antipas als μάρτυς bezeichnet wird. Z. meint unter Hinweis auf die Belegsituation in Lampes Lexikon (17, Anm. 46), dass μαρτυρέω im Sinne von »to suffer martyrdom« erst ab 170 n. Chr. be­zeugt sei. Doch Referenzen auf den lexikalischen Befund tragen angesichts der lückenhaften Quellenlage zur Spätantike oft nur wenig aus. Ohne Sap Sal 7,1; 10,1; Apc Mos superscr. würde man z. B. wohl auch den Titel πρωτοπλαστός für Adam für ein Wort aus der Kirchenväterliteratur halten.
– Ignatius, Rom 4,3: Hier schreibt Ignatius den Römern, dass er ihnen nicht wie die Apostel Petrus und Paulus Anweisungen geben werde. Eine solche Bemerkung passt gut, wenn Petrus und Paulus in Rom waren – und getötet wurden, denn Ignatius erörtert gerade sein in Rom zu erwartendes Martyrium. Dies alles stellt Z. nicht in Abrede, aber er hält im Anschluss an Hübner (1997) die sieben bei Euseb, Hist Eccl III,36 genannten Ignatiusbriefe in ihrer nichtinterpolierten Fassung, wie sie etwa von Bihlmeyer herausgegeben wurden, nicht für ein Werk des durch Polykarp, Phil 9 und 13 bezeugten Märtyrers, sondern für eine nach 170 n. Chr. entstandene Fälschung (vgl. 183–237). Ein wesentliches Argument für die Spätdatierung ergibt sich für ihn aus einer textkritisch unsicheren Stelle in Ign, Magn 8,2. Dort heißt es über Christus, dass dieser »Gottes Logos ist, der aus dem Schweigen hervorging« ( ὅς ἐστιν αὐτοῦ λόγος ἀπὸ σιγῆς προελθών). So lesen es jedenfalls die neueren Ausgaben, gestützt durch die armenische Übersetzung und eine syrisch erhaltene Testimoniensammlung des Severus von Antiochien. Doch gibt es noch einen Langtext, der von dem einzigen griechischen Zeugen der nichtinterpolierten Fassung des Briefes (Cod. Mediceo-Laurentianus 57,7 [saec XI]), der lateinischen Übersetzung des Robert Grosseteste und der syrisch erhaltenen Testimoniensammlung des Timotheus Aelurus geboten wird. Dieser liest ὅς ἐστιν αὐτοῦ λόγος ἀΐδιος οὐκ ἀπὸ σιγῆς προελθών, und hier ist Christus »Gottes ewiger Logos, der nicht aus dem Schweigen hervorging«. Diesen Langtext hält Z. wie schon Hübner für den ursprünglichen (187–188). Die Zeugen für den Kurztext hätten minderen Rang, denn die armenische Übersetzung sei unzuverlässig und Severus entstamme einer späteren Zeit. Auf der Seite des Langtextes hingegen stünden die besseren Zeugen, für Z. übrigens auch die interpolierte Fassung der Ignatianen. Außerdem sei ein Ausfall von ἀΐδιος οὐκ paläographisch leicht zu erklären. »Allein durch philologische Textkritik … ohne Rück­sichtnahme auf irgendwelche theologiegeschichtlichen Erwägungen« komme man so auf einen Grundtext, der sich nur auf die Σιγή als eine Gestalt aus dem valentinianischen Pleroma beziehen könne. Dann aber müsse das Korpus der sieben nicht interpolierten Ignatiusbriefe später datieren als 150 n.Chr. und könne damit nicht auf den von Polykarp bezeugten Märtyrer zurück­gehen. Hier argumentiert Z. gleich mehrfach voreilig: Was den interpolierten Magnesierbrief betrifft, so bietet dieser an der betreffenden Stelle einen ganz anderen Text und fällt somit als Zeuge aus. Lightfoot verortet ihn übrigens eher auf der Seite des Kurztextes (The Apostolic Fathers II/2,126). Unbegründet bleibt Z.s Verdikt über die armenische Version. Für Lightfoot ist sie nicht »unzuverlässig«, sondern die älteste erhaltene Textform (ebd.). Und Severus datiert nicht wesentlich später als Timotheus Aelurus, dessen hohes Alter Z. mit einigem Nachdruck hervorhebt. Zudem ist ἀΐδιος οὐκ im gegebenen Kontext nicht der klassische Fall eines durch aberratio oculi ausgefallenen Textstückes. Darum kann Z. auch nicht mit gutem Grund die »rein philologische Textkritik« auf seiner Seite verbuchen, die hier offenbar die Rolle eines Beweises aus dem Reagenzglas zu übernehmen hat. Kurz darauf folgen dann freilich auch bei ihm »irgendwelche theologiegeschichtlichen Erwägungen«, wenn er die Σιγή als Referenz auf das valentinianische Lehrsystem sieht. Und in dieser Sache ist die Lage nicht so eindeutig, wie er meint: Lightfoot sieht den Langtext noch als Polemik gegen die Logoslehre des Marcell von Ankyra, und er zitiert für seine Sicht anders als Z. eine Vielzahl von Belegen (II/2,126–127). Wenn Lightfoot Recht hat, dann ist der Langtext sekundär, und wir haben es mit einer orthodox corruption zu tun, wie sie Bart Ehrman so gerne an neutes­tamentlichen Texten wahrnimmt.