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Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

779-780

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Rammelt, Claudia

Titel/Untertitel:

Ibas von Edessa. Rekonstruktion einer Biographie und dogmatischen Position zwischen den Fronten.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2008. X, 344S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 106. Lw. EUR 104,95. ISBN 978-3-11-020218-2.

Rezensent:

Peter Bruns

Die Arbeit stellt eine überarbeitete und geringfügig erweiterte Fassung einer im Winter 2006/07 fertiggestellten Göttinger theolo­-gischen Dissertation dar. Sie beschäftigt sich mit dem edessenischen Bischof Ibas (syr. Hîbâ), der aufgrund des spärlichen Quellenmaterials in der bisherigen Forschung etwas stiefmütterlich behandelt wurde. Neuere Quellen kann Claudia Rammelt auch nicht bieten, wenngleich ihr das unstrittige Verdienst gebührt, erstmalig eine umfassende und recht zuverlässige historische Ge­samtdarstellung von Leben und Werk des umstrittenen Bischofs, der von 435 bis 457 (mit Unterbrechung zwischen 449–451) regierte, vorgelegt zu haben. Das geringe Forschungsinteresse der Vergangenheit ist zu einem guten Teil auf die spärliche Quellenlage zurückzuführen; der edessenische Bischof gehört mit seinem literarischen Nachlass, der aus einem einzigen, noch dazu auf dem V. Ökumenischen Konzil inkriminierten Brief besteht, im Vergleich zu Severus oder Ephräm nicht gerade zu den produktivsten Vertretern seiner Zunft. Viel eher tat er sich als eifriger Baumeister in Edessa hervor (58–61), sowohl die kreuzförmige Apostelkirche als auch die Sergiuskapelle wurden unter seiner Ägide fertiggestellt. Man kann darüber spekulieren, ob diese am Osttor der Stadt errichteten Sakralgebäude einer eher syrisch-persischen Christengemeinde dienen sollten.
Der ominöse Brief des Ibas (62–110) nimmt selbstverständlich eine Schlüsselstellung im gesamten Denken und besonders in der Christologie des edessenischen Bischofs ein, weshalb ihn R. (69–72) zunächst aus dem griechischen Text nach Schwartz übersetzt und einer detaillierten Analyse unterzieht. Ursprünglich syrisch verfasst, liegt er in einer griechischen Fassung der Konzilsakten von Chalcedon und einer syrischen Rückübersetzung der sog. Räubersynode von Ephesus (449) vor. Es wäre vielleicht auch ratsam gewesen, gleichzeitig neben der eigenen Übersetzung noch die von Fleming (49–53) oder eine eigene modifizierte, sprachlich geglättete Übertragung des syrischen Textes zum Vergleich vorzulegen. Nun sind die Differenzen zwischen den beiden Versionen nicht wesentlich; aber auch wenn der Brief ursprünglich nicht griechisch geschrieben ist, kann ihm eine syrische Rückübersetzung etwas von seinem orientalischen Flair zurückgeben.
Ibas’ christologisches Kerygma gipfelt in der griffigen Formel: »zwei Naturen, eine Kraft, eine Person, das ist der eine Sohn, der Herr Jesus Christus« (70.81–89). Die Rede von der einen »Kraft« oder »Dynamis« (syr. ħailâ) kommt angesichts des strengen Diphysitismus ein wenig überraschend. Sie ist dogmengeschichtlich recht interessant, da sie die Möglichkeit aufzeigt, eine moderate Form des Monenergetismus mit der Zweinaturenlehre zu versöhnen. Die eine »Dynamis« wirkt wie eine Brücke, auf der die verfeindeten Parteien, Diphysiten und Monophysiten, terminologisch zueinander finden können. Doch ist und bleibt Ibas, bei aller Rücksichtnahme auf die starke Partei der Cyrillianer, ein strenger Antiochener. Denn mit seinem Brief an den Amtsbruder Mari gibt sich Ibas als eingefleischter Gegner des Rabbula, des »Tyrannen von Edessa«, und als treuer Parteigänger des Theodor von Mopsuestia zu erkennen, dessen Werke er ins Syrische übersetzt hat. Gleichzeitig positioniert er sich mit seinem diphysitischen Ansatz als bekennender Antiochener im christologischen Streit jener Tage, indem er die Unionsformel von 433 als für alle Seiten tragfähigen Kompromiss zum Ausgangspunkt nahm. Ohnehin bildete Ibas’ Christologie das Herzstück seines Denkens und wurde zwischen den Konzilien von Ephesus und Chalcedon immer mehr zum Zielpunkt der zeitgenössischen Kritik (111–234). Da er eher als Übersetzer denn als origineller Theologe in Erscheinung trat, bot sein bescheidenes literarisches Œuvre nur wenig Angriffsfläche. Als Übersetzer der Werke Theodors aus dem Griechischen ins Syrische hatte sich Ibas indes so viele Feinde unter den eingefleischten Monophysiten der Stadt gemacht, dass diese ihn mit aller Gewalt aus dem Amte zu drängen suchten.
Sieht man einmal von dem adoptianistisch klingenden Diktum »Ich beneide Christus nicht, daß er Gott geworden«, zielten die Anklagen der Gegner vor allem auf die Amtsführung und Vermögensverwaltung des Bischofs. Eine erste Beschwerde edessenischer Kleriker bei Proclus von Konstantinopel, dem Nachfolger des Nestorius, aus dem Jahre 438 hatte nicht den gewünschten Erfolg. Die gerichtlichen Untersuchungen in Beirut und Tyrus (153–179) beschädigten das Ansehen des Bischofs schwer und führten durch die von den Gegnern angezettelten Unruhen in Edessa in den Jahren 447–449 zur völligen Demontage des Ibas, der auf der sog. »Räubersynode« von Ephesus seines Amtes enthoben wurde. In Chalcedon 451 rehabilitiert, konnte der Bischof schließlich wieder auf seine Kathedra zurückkehren und bis zu seinem Tode im Jahre 457 einigermaßen ungestört regieren. Ibas reagierte, so R. (294), recht flexibel auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe, wusste um des Friedens willen Zugeständnisse zu machen, gab aber seine christologische Grundüberzeugung von den beiden Naturen niemals auf. Dennoch waren die Verhältnisse für die Anhänger Theodors von Mopsuestia nach Chalcedon keineswegs günstig. R. zeichnet so­dann recht akribisch den verschlungenen Pfad Edessas und seiner Oberhirten zwischen der reichskirchlichen Or­thodoxie und dem erstarkenden Monophysitismus nach (235–289), der schließlich un­ter Kaiser Zenon mit der Schließung der von Ibas geleiteten und stets geförderten Perserschule triumphierte. Ihr theologisches Ur­teil ist stets zurückhaltend und irenisch, vor allem aber voller Verständnis für die angefochtene Position eines Bischofs »zwischen den Fronten«, der auf dem schlüpfrigen Terrain der Reichskirche und seiner zum Teil recht intriganten Mitbrüder um sein nacktes Überleben kämpfen musste.
Man erfährt zwar aus dieser Arbeit nichts umstürzend Neues, dafür aber das wenige Wissenswerte in größtmöglicher Ausführlichkeit. Als ein Beispiel für die Detailfreude R.s ist das Kapitel über den syrischen Namen des Ibas (35–40) zu werten, der wohl mit der syrischen Wurzel y-h-b (»geben«) zusammenhängen dürfte. Für den theophoren Gebrauch dieses eher seltenen Namens weiß sie einige interessante Parallelen aus der Sprachgeschichte des syrischen Raumes beizubringen. Einen Schönheitsfehler jedoch hat die vorgeschlagene Konjektur Îhîbîschôc (40) als Vollversion für Hîbâ: Sie lässt sich im Gegensatz zu Ischojahb literarisch nicht belegen. Was die in der Chronik von Arbela bezeugte Lesart mit angehängtem y zu h-y-b-y anbelangt, so mag das diphthongische ay für persische Ohren gefälliger klingen (vgl. z. B. Theodor bar Qôn[a]î), wenn es sich beim y nicht wie im Arabischen um eine bloße mater lectionis (ya = â) handelt.
Gelegentlich unterläuft R. bei all ihrer vorsichtigen Interpretation der Quellen ein kleinerer Lapsus. Aus dem Faktum, dass Ibas seinen Neffen zum Bischof von Harran geweiht hat, schließt sie (57), dass er verheiratet gewesen sein müsse. Aber warum hat er dann nicht seine Kinder eingesetzt? Die bischöfliche Askese ist eben kein Differenzpunkt zwischen Monophysiten und Diphysiten, auch wenn Rabbula sicherlich der strengere Mönchsbischof war; alles in allem ein interessantes und äußerst spannungsreiches Kapitel orientalischer Kirchengeschichte, in das die vorliegende Dissertation den Leser einführen will.