Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

776-778

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Nicklas, Tobias, Merkt, Andreas, u. Joseph Verheyden [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gelitten – Gestorben – Auferstanden. Passions- und Oster­traditionen im antiken Christentum.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. VIII, 380 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 273. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-150233-0.

Rezensent:

Margareta M. Gruber

Der von Tobias Nicklas, Andreas Merkt und Joseph Verheyden herausgegebene Aufsatzband »Gelitten – Gestorben – Auferstanden. Passions- und Ostertraditionen im antiken Christentum« (WUNT II, 273, Tübingen 2010) geht auf zwei Tagungen zurück: ein Seminar der Arbeitsgruppe »Christian Apocrypha« auf der SBL-Tagung 2007 und ein Treffen der Projektgruppe des »Novum Testamentum Patristicum (NTP) 2007. Entsprechend diesem Projekt werden die behandelten Texte aus der apokryphen und hagiographischen Literatur des frühen Christentums und der frühen Patristik nicht auf ihren Ertrag für die historische Rekonstruktion christlicher Be­kenntnisbildung befragt, sondern als Teil der Rezeptionsgeschichte der neutestamentlichen Passions- und Ostertradition in ur­christlicher Theologie und Frömmigkeit im Raum der Spätantike gelesen. Die 18 Beiträge in englischer, deutscher und französischer Sprache von ausgewiesenen Experten der jeweiligen Schriften behandeln apokryphe Texte wie die Apokryphen Apostelakten (I. Czachesz, J. E. Spittler, C. B. Horn), die Acta Pilati (D. S. Dodson, Chr. Furrer), das Petrusevangelium (P. Foster), die rekonstruierten judenchristlichen Evangelien (P. Luomanen), das Judasevangelium (A. Marjanen) und die von J. Hartenstein in ihrem Beitrag so be­zeichneten Erscheinungsevangelien aus Nag Hammadi, aber auch die eher der hagiographischen Literatur zugehörige Dormitio Mariae des Pseudo-Johannes (Th. R. Karmann) und die Sibyllinischen Orakel (J.-M. Roessli). Der Band bietet ferner Studien zur Rezeption der neutestamentlichen Passions- und Ostertradition in der frühchristlichen Märtyrerliteratur (P. Gemeinhardt) und in der frühchristlichen Kunst (J. Dresken-Weiland) sowie in der patristischen Literatur (M. Meiser, A. Merkt, P. de Navascués), darunter die sehr sorgfältige Untersuchung der Kreuzesnachfolge in den Briefen des Ignatius von Antiochien (T. Nicklas) und der Interpretation des paulinischen Auferstehungskapitels 1Kor 15 bei Origenes (R. Roukema). Ein Stellenregister (369) und ein Sachregister (375–380) be­schließen den Band.
Die Fokussierung des literarisch und zeitlich doch weit gestreuten Materials auf das zentrale Thema des christlichen Glaubens, Tod und Auferstehung Jesu, verleiht dem Band seine Einheit und gibt dem Leser den Eindruck, einen repräsentativen Querschnitt durch die frühchristliche Theologie und Frömmigkeit in all ihrer Vielfalt, ihren Kontroversen und ihrem recht unterschiedlichen theologischen Niveau zu erhalten. Der Rückbezug auf die kanonischen Texte in vielen Beiträgen lässt jedoch auch diese wieder in neuem Licht strahlen und zeigt deren Berechtigung als Kanon christlicher Schriften. Die Rezension kann aus der Fülle des gebotenen Materials nur einzelne Themen herausgreifen.
Derek S. Dodson (21–30) liest die Acta Pilati im Licht antiker Traummagie und zeigt die rhetorische Strategie dieser Schrift: Sie zeichnet die jüdische Führerschaft als verleumderisch und korrupt, indem sie eine für die Leserschaft leicht zu durchschauende Anklage gegen Jesus als magischen Verursacher quälender Träume vorbringt (29 f.).
Die Bedeutung der Magie im frühen Christentum wird auch deutlich in Jutta Dresken-Weilands Vorstellung einer sog. magischen Gemme aus dem Ende des 2. oder frühen 3. Jh.s (31–46), die eine realistische Darstellung eines nackten Gekreuzigten zeigt, mit einer Inschrift, die außer dem Namen Jesu Christi auch unbekannte Zauberwörter aufweist.
Weniger bekannt als die apokryphen Kindheitsgeschichten mit ihrer mirakulösen Anreicherung des Erzählstoffs ist die von Paul Foster behandelte dramatisierende Um- und Ausgestaltung der neutestamentlichen Passions- und Ostertradition im Petrusevangelium (47–68). Es findet sich wie häufig eine Verschiebung der Schuld von den römischen auf die jüdischen Autoritäten und einen Mob, der die Hinrichtung vorantreibt (55). Interessant ist das Detail, dass Jesus von diesem Mob zur Verspottung auf den Richterstuhl des Pilatus gesetzt wird (Petr Ev 3.7). Vielleicht hat also der Autor die in der Johannesexegese umstrittene Verbform ἐκάθισεν in Joh 19,13 transitiv gelesen (56). Der Schrei der Verlassenheit wird frei umformuliert in eine die Gefühle ansprechende Äußerung (»meine Kraft, o Kraft, du hast mich verlassen«, Petr Ev 5.19b). Da­hinter ist nach Foster weniger eine doketische Christologie zu suchen als vielmehr das Bedürfnis, ein theologisch schwieriges Faktum der kanonischen Passionserzählung für die fromme Leserschaft des 2. Jh.s zu »domestizieren« (61).
Diese didaktische Absicht samt der die jüdischen Autoritäten beschuldigende Tendenz ist auch in den von Christine Furrer vorgestellten Pilatusakten erkennbar (69–96). Die Schrift bietet ein aus allen vier kanonischen Evangelien schöpfendes liturgisches Drama, dessen Ort vielleicht in der Jerusalemer Liturgie des 4. Jh.s zu suchen ist, die die Liturgie der Heiligen Woche unter Einbeziehung der Heiligen Orte dramatisierte (77).
Ein wichtiges Stück Rezeptionsgeschichte der biblischen Auferstehungstradition wird in den von Peter Gemeinhardt untersuchten frühchristlichen Märtyrerakten erkennbar (97–122). Die Auferstehung der Märtyrer ist das »eschatologische Hoffnungszeichen« für alle, auch wenn für Tertullian die sofortige Aufnahme ins Paradies das Vorrecht der Märtyrer ist (116). Ihr Mut im Leiden bezeugt für die Zeitgenossen das Proprium des christlichen Glaubens: »Die Zuversicht der Christen ist die Auferstehung von den Toten. Wir sind, was wir sind, weil wir daran glauben« (Tert. resurr. 1,1, vgl. 98). So wird die »ursprüngliche Bandbreite der Auferstehungshoffnung … auf eine bestimmte Gruppe von Christen konzentriert …, um angesichts der auf Dauer gestellten Existenz der Kirche in der Welt die Unselbstverständlichkeit der himmlischen Gemeinschaft mit Christus einzuschärfen« (122).
Die mittlerweile wieder kontroverse Frage, ob das Judasevangelium den Verräter der Evangelien rehabilitiere, beantwortet Antti Marjanen eindeutig positiv (209–224). Er meint sogar aufzeigen zu können, dass der Text den Apostel der »großen und heiligen Generation« zurechnet, deren Seele sie nach dem Tod in den himmlischen Bereich aufsteigen lasse, während die Sterblichen mit dem Verlassen ihres Geistes endgültig dem Tod anheim fallen (222 f.).
Ein für die lukanische Theologie vielleicht interessantes textkritisches Detail bietet Patricio de Navascués (247–266): »Die syrische Version Harklensis, die auf der Basis griechischer Manuskripte im ägyptischen Kloster Enaton verfasst wurde, bestätigt genauso wie die Zeugnisse des Nestorius, Eusebius von Dorylanum und Cyrill die Existenz einer griechischen Variante von Apg 1,2, in der das Syntagma διὰ πνεύματος ἁγίου unmittelbar vor dem Verb ἀν-ελήμφθη steht« (265); das bedeutet, dass für diese Textzeugen und Autoren die Himmelfahrt Jesu auf das Handeln des Geistes zurück­geführt wird (258).
In der berühmten koranischen Sūrat al-Nisā’ [4]: 153–162 werden die Juden beschuldigt, sich fälschlich eine Tat zuzuschreiben, die nicht oder nicht in der von ihnen behaupteten Weise stattgefunden habe, nämlich die Kreuzigung und Tötung Jesu. Die Übersetzung und Auslegung der in Sūrat al-Nisā’ [4]: 157 gebotenen Begründung für diesen Irrtum, walākin šubbiha lahum, »er wurde ihnen ähnlich dargestellt« (Übersetzung nach A. Khouri), ist um­stritten. Cornelia B. Horn zeigt auf (143–164), dass diese Formulierung ihre deutlichste Parallele in den Apokryphen Johannesakten 98 hat, wo »der Herr« dem Johannes in exklusiver Weise zeigt, dass am Kreuz nur μορφὴ μία καì ἰδέα ὁμοία, »eine Gestalt und eine gleiche Ähnlichkeit« hing, Jesus selbst aber am Fuß des Kreuzes stand (159 f.). So liefert sie einen Baustein für das noch weithin unerforschte Feld der Wirkungsgeschichte frühchristlicher Traditionen bei der Entstehung des Korans im Raum der Spätantike.