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Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

771-774

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Theissen, Gerd

Titel/Untertitel:

Neutestamentliche Wissenschaft vor und nach 1945. Karl Georg Kuhn und Günther Bornkamm.

Verlag:

Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2009. 260 S. 8° = Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 47. Geb. EUR 42,00. ISBN 978-3-8253-5630-9.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Der Heidelberger Neutestamentler Gerd Theissen hat seine Funktion als Sekretar der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und das 100. Jubiläum dieser hochberühmten Gelehrtengesellschaft zum Anlass genommen, sich intensiv mit der wissenschaftlichen und (kirchen-)politischen Biographie zweier seiner Fachkollegen zu befassen, deren Lebenswege, so denkbar verschieden sie waren, sich in der Heidelberger Akademie trafen: Karl Georg Kuhn (1906–1976) und Günther Bornkamm (1905–1990). Konkretes Anliegen seiner Studie war zunächst zu klären, wie die Zuwahl Kuhns zur Akademie im Jahr 1964 auf Vorschlag von Günther Bornkamm und Gerhard von Rad zu erklären sei, wo doch dessen Verstrickung in den Nationalsozialismus zu dieser Zeit längst bekannt, wenn auch noch nicht breiter öffentlich diskutiert worden war. Bornkamm dagegen, wie von Rad engagierter Vertreter der Bekennenden Kirche, war 1936 die Lehrerlaubnis entzogen worden, so dass er sich nach kurzer Lehrtätigkeit an der Kirchlichen Hochschule Bethel in verschiedenen Vertretungspfarrstellen durchschlagen musste, bevor er 1943 zum Kriegsdienst eingezogen wurde (vgl. zu ihm jetzt das Porträt von F. Hahn in: C. Breytenbach/R. Hoppe, Neutestamentliche Wissenschaft nach 1945, Neukirchen-Vluyn 2008, 167–176).
Th. nimmt diese befremdliche Konstellation zum Ausgangspunkt für zwei biographische und wissenschaftliche Porträts, in denen wesentliche Schwerpunkte und Rahmenbedingungen neutestamentlicher Wissenschaft in Deutschland im 20. Jh. sichtbar werden. Für die Darstellung Bornkamms konnte er auf seine Würdigung des Heidelberger Neutestamentlers bei der akademischen Gedenkfeier im Jahr 1991 zurückgreifen (vgl. EvTh 51 [1991], 308–332), die er freilich jetzt erheblich ausgeweitet hat. Für Kuhn hat er erstmals umfassende Recherchen vorgenommen, nicht zuletzt in den Akten der Heidelberger Akademie, aber auch in den Archiven der Universitäten, an denen dieser vor und nach 1945 tätig war, und bis hin zu Presseerzeugnissen der 30er Jahre. Daraus ist ein minutiös nachgezeichnetes Lebensbild entstanden, das sich in seiner Genauigkeit und Differenziertheit wohltuend abhebt von manchen früheren Publikationen zu Kuhn und anderen Neutestamentlern, die sich mehr oder weniger stark mit dem nationalsozialistischen Regime und seinen kirchlichen Verbündeten eingelassen hatten.
Zunächst wird Kuhns akademischer Werdegang von 1925 bis 1945 nachgezeichnet (Studium 1925–1930 in Bethel, Breslau und Tübingen, wo er von G. Kittel in die Judaistik eingeführt wurde, Promotion 1931 in Tübingen bei dem Orientalisten Enno Littmann, 1932 Eintritt in die NSDAP, Lehr- und wissenschaftliche Hilfstätigkeit an der Tübinger Theologischen Fakultät, 1934 Habilitation in der Philosophischen Fakultät, danach intensive Lehr- und Vortragstätigkeit als Privatdozent ohne festes Einkommen bis zu seiner Ernennung als Dozent im Oktober 1939). Dabei wird deutlich, wie sich Kuhns Positionen gegenüber dem Judentum schrittweise wandeln von einem anfangs historisch-akademisch interessierten Philosemitismus hin zu einem schließlich rassebiologisch zugespitzten Antisemitismus (35). Lässt dieses Urteil an Klarheit auch nichts zu wünschen übrig, so würdigt Th. dennoch zugleich auch gegenläufige Indizien und Beobachtungen. So habe Kuhn seiner ehemaligen Verlobten gegenüber im Jahr 1939 ausdrücklich betont: »Ich bin Dozent für Semitistik und nicht für Antisemitistik.« (38) Und in Vorträgen vor kirchlichen Gruppen habe er sich in dieser Zeit mehrfach positiv zum Alten Testament geäußert. Gleichwohl leidet es keinen Zweifel, dass Kuhn sich aus innerster Überzeugung und mit akademischer Kompetenz im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie als Kämpfer gegen das Judentum engagiert hat.
Dennoch wurde er nach 1945 in mehreren Spruchkammerverfahren als nicht belastet eingestuft und konnte ab 1948 wieder lehren. Ein Jahr später wurde er – auf Fürsprache von Joachim Jere­-mias– auf eine besoldete Dozentur nach Göttingen berufen, 1954 schließlich auf den neutestamentlichen Lehrstuhl in Heidelberg. Auch diese Vorgänge werden von Th. detailliert und differenziert, ohne plakative Schuldzuweisungen, aber doch aus historischem Abstand mit klar kritischer Beurteilung dargestellt. Nicht unerwähnt bleibt auch der 1951/52 in der »Evangelischen Theologie« publizierte Widerruf Kuhns mit Bezug auf seine schlimmste antisemitische Schrift, »Die Judenfrage als weltgeschichtliches Problem« (1939), ebenso wenig freilich, dass sich Kuhn später weigerte, auch seine übrigen antijüdisch ausgerichteten Arbeiten aus diesen Jahren öffentlich zu widerrufen.
Besonders ausführlich werden die Vorgänge im Zusammenhang mit der Aufnahme Kuhns in die Heidelberger Akademie geschildert. Eingefügt sind hier eine ganze Reihe von Kurzporträts von weiteren Akademiemitgliedern, die daran mehr oder weniger intensiv beteiligt waren, u. a. zu Gerhard von Rad, Heinrich und Günther Bornkamm, Hans von Campenhausen, Hanns Rückert, Martin Heidegger, Hans-Georg Gadamer, Werner Conze, Franz Dirlmeier, Hildebrecht Hommel, Hans Schaefer, Viktor Pöschl, Siegfried Reicke. Auf diese Weise entsteht ein plastisches und vielschichtiges Bild der akademischen Landschaft in Westdeutschland in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, das überaus aufschlussreich ist auch mit Blick auf die Umwälzungen dieser Landschaft am Ende der 60er Jahre, die freilich hier weitgehend außer Betracht bleiben. Schließlich wird noch eigens die Antrittsrede Kuhns vor der Akademie vom 11. Juli 1964 gewürdigt. Da solche Antrittsreden nach Tradition der Heidelberger Akademie stark autobiographischen Charakter hatten, kommt Kuhns Rede als Dokument der Selbsteinschätzung im Rückblick auf seinen akademischen Weg besondere Bedeutung zu. In kritischer Analyse dieses Textes kommt Th. zu dem Schluss: »Die Selbstvorstellung erzählt den virtuellen Lebenslauf eines K. G. Kuhns, der sich mit seiner realen Biographie an vielen Stellen überschneidet. Kuhn verschweigt sehr viel. Aber was er sagt, hat m. E. meist einen Wahrheitskern.« (103)
Ausführlich und mit systematisch-analytischem Ansatz versucht Th. anschließend, den Antisemitismus Kuhns in die geistes- und theologiegeschichtlichen Kontexte der ersten Hälfte des 20. Jh.s, insbesondere in die »Tübinger Theologie« dieser Jahre, einzuordnen, mit dem Ergebnis, Kuhn habe nicht wie sein Lehrer Kittel einen theologisch-heilsgeschichtlichen Antisemitismus vertreten, sondern »einen religionsgeschichtlich argumentierenden Kulturantisemitismus« (126). Daran knüpft Th. seine Vermutung, ein solcher Kulturantisemitismus weise »formal eine gewisse Verwandtschaft mit dem existentialen Antijudaismus« auf (ebd.), der auch in solchen theologischen Strömungen zu beobachten sei, die sich eindeutig gegen die antisemitische Politik der Nationalsozialisten gewandt hatten. Beide könnten als theologische Modernisierungsversuche gegenüber einem kirchlichen Konservativismus gewertet werden und zeigten auch eine gewisse innere Verwandtschaft mit dem Modernisierungswillen der nationalsozialistischen Bewegung, ganz unabhängig von den aktuellen politischen Haltungen ihrer Protagonisten zu dieser. Eine solche formale Nähe könne es vielleicht verständlicher machen, warum Bornkamm später Kuhn trotz ihrer politisch entgegengesetzten Positionen gegenüber dem Nationalsozialismus theologisch leichter akzeptieren konnte, ob­wohl Bornkamm die negative Wertung des Judentums im nationalsozialistischen Kontext immer abgelehnt hatte. Hier deuten sich weiterführende Überlegungen zu den theologischen Konstellationen in der protestantischen neutestamentlichen Wissenschaft vor und nach 1945 an, die es wert sind, vertieft und in breiterem Rahmen erforscht zu werden (vgl. dazu auch meinen Beitrag zu Walter Grundmann in: R. Deines/V. Leppin/K.-W. Niebuhr [Hrsg.], Walter Grundmann. Ein Neutestamentler im Dritten Reich, Leipzig 2007, 239–274).
Auf die Darstellung zu Günther Bornkamm kann im Rahmen dieser Rezension nicht mehr näher eingegangen werden. Sie bietet zunächst eine Würdigung der exegetischen Arbeiten Bornkamms, wobei mit Blick auf sein Paulus-Bild und seine Jesus-Darstellung in der negativen Bewertung des Judentums ein »gemeinsame(r) Nenner zwischen Kuhns Sicht des Judentums und derjenigen der Bultmann-Schule« (185) hervortritt, die Th. als »Allo-Judaismus« be­zeichnet: »Juden und ihre Lebensweise werden zu einem Symbol für das Andere, von dem man sich unterschieden weiß.« (173) »Das Judentum wird als Alternative zu Ethos und Religion des Christentums verstanden. Es ist das ›Andere‹, dessen Anderssein das ›Eigene‹ definiert.« (185) Allerdings habe Bornkamm sein Bild vom Judentum in späteren Auflagen seines Jesus-Buches und weiteren Studien korrigiert. Th. vermutet, diese Tendenz wäre in dem von Bornkamm vorbereiteten Matthäuskommentar wohl noch deutlicher hervorgetreten (188). Allerdings lassen das die erst kürzlich publizierten Vorarbeiten dazu nicht erkennen (vgl. meine Rezension in ThLZ 135 [2010], 1208–1210).
Eine »Schlussbetrachtung« zieht in leicht essayistischer Weise einige der in den biographischen und wissenschaftsgeschichtlichen Skizzen gezeichneten Linien bis in die gegenwärtige Lage der neutestamentlichen Wissenschaft hinein aus. Insgesamt beeindruckt das Buch schon durch die Fülle an biographischen Infor­-mationen, zeitgeschichtlichen Hintergründen und theologiegeschichtlichen Zusammenhängen. Noch eindrucksvoller ist der kritische und analytische Zugriff auf die zusammengetragenen Ma­terialien, der in angemessenem Verhältnis zwischen histo­-rischer Distanz und engagierter Beurteilung ein außerordentlich plastisches Bild der deutschen protestantischen neutestamentlichen Wissenschaft in den Jahrzehnten vor und nach 1945 hervortreten lässt. Am meisten aber haben mich die Fairness und die Differenziertheit des Urteils beeindruckt, mit welchen Th. den beiden von ihm behandelten Neutestamentlern als Wissenschaftlern wie als Menschen gerecht zu werden versucht hat.