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Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

767-770

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Rasimus, Tuomas [Ed.]

Titel/Untertitel:

The Legacy of John. Second-Century Reception of the Fourth Gospel.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2010. XI, 406 S. gr.8° = Supplements to Novum Testamentum, 132. Geb. EUR 121,00. ISBN 978-90-04-17633-1.

Rezensent:

Titus Nagel

Generationen von Theologen, Pfarrern und Religionslehrern galt (oder gilt) das JohEv als das »gnostische« Evangelium – eine Sicht, die sich den einflussreichen Thesen von Walter Bauer (1934) über die gnostische Dominanz der frühchristlichen Johannesrezeption und von Rudolf Bultmann (1925; 1941) über die gnostischen Ur­sprünge des JohEv verdankt.
Insbesondere die erste der beiden Thesen behauptete sich vornehmlich in der anglophonen Forschung bis zum Ende des vergangenen Jh.s, erfuhr jedoch in jüngerer Zeit eine aus den Quellen exegetisch begründete Relativierung von verschiedenen Seiten. Daneben zeichnet sich in jüngster Zeit ein differenzierteres Verständnis jenes religionsgeschichtlichen Phänomens ab, das seit der Zeit der frühen Kirchenväter als »Gnosis« bekannt ist und das vor allem seit den Funden von Nag Hammadi mit eigener Stimme sprechen kann, und damit verbunden ist auch eine beginnende Neubewertung bzw. Infragestellung der alten häresiologischen Kategorien von Heterodoxie und Orthodoxie für das frühe Chris­tentum oder besser: die frühen Christentümer. In dieser exege­tischen und hermeneutischen Großwetterlage erscheint der hier anzuzeigende Sammelband, der »a fresh, comprehensive look at the Fourth Gospel’s early reception history« (2) – so Tuomas Rasimus in der »Introduction« (1–16) – verspricht.
Die Auswahl der behandelten Quellen und ihre Gewichtung zeigt jedoch, wie sehr die überkommene These von der »heterodoxen« Präponderanz in der frühen Johannesrezeption die Debatte nach wie vor prägt – nur drei der zwölf Beiträge widmen sich der sog. »großkirchlichen« Wirkungsgeschichte des vierten Evangeliums, wobei (fast) die gesamte »unverdächtige« vorirenäische Johannesrezeption lediglich in einem Beitrag, wenn auch dort gründlich, abgehandelt wird:
Charles E. Hill (»›The Orthodox Gospel‹: the Reception of John in the Great Church prior to Irenaeus«, 233–300), der Verfasser der jüngsten englischsprachigen Monographie zum Thema (2006), macht dabei zumindest deutlich, dass nicht erst Irenäus das JohEv für die »Großkirche« retten musste, weil die mehr oder minder breiten Spuren seiner Benutzung und Wertschätzung bis zu den frühen Apologeten (Justin) und den apostolischen Vätern (Ignatius, Polykarp von Smyrna) reichen.
Nicholas Perrin unterzieht sich der verdienstvollen Aufgabe, das für die Rezeption des JohEv weithin unbeachtete Diatessaron Tatians in den Fokus zu rücken: »The Diatessaron and the Second-Century Reception of the Gospel of John« (301–318). Anhand der (erschlossenen originären) Perikopenabfolge des Diatessaron kann er zeigen, dass »John is a kind of primus inter pares« (308). Diese Wertschätzung des vierten Evangeliums verdankt sich nicht erst Tatians späterer Zuwendung zu »heterodoxen« Kreisen, sondern hat ihren Grund bereits in der Selbstverständlichkeit, mit der schon sein Lehrer Justin die vier Evangelien benutzte (313).
Gleichwohl tritt erst gegen Ende des 2. Jh.s mit Irenäus der bedeutendste Johannes-Theologe auf den Plan: Bernhard Mutschler rekapituliert in seinem Beitrag »John and his Gospel in the Mirror of Irenaeus of Lyons« (319–343) im Wesentlichen die Ergebnisse seiner profunden Studien zur Bedeutung des vierten Evangeliums für den Lyoneser Bischof in historischer, literarischer und theologischer Perspektive. M. ist überzeugt, dass Irenäus über verlässliche Kenntnisse hinsichtlich der Entstehungsumstände des JohEv verfügt (326 f.). Und obgleich das MtEv und das LkEv zwar in absoluten Zahlen von ihm öfter zitiert bzw. alludiert werden als das JohEv (330 f.), zitiert er doch das JohEv so umfassend und präzise wie kein Theologe vor ihm (332). Wichtiger aber noch ist der Umstand, dass Irenäus als der Johannes-Theologe des 2. Jh.s zu gelten hat, der vor allem die joh Inkarnationstheologie gegen die Gnostiker in Stellung brachte (340).
Die beiden Beiträge zur Johannes-Rezeption der valentinianischen Gnosis bestätigen einerseits von den Quellen her, dass nicht erst die Valentinianer das JohEv wertschätzten. Andererseits hielt das vierte Evangelium jedoch in besonderer Weise Anknüpfungspunkte für ihre spezifische Interpretation bereit:
Tuomas Rasimus (»Ptolemaeus and the Valentinian Exegesis of John’s Prologue«, 145–171) folgert aus Übereinstimmungen im Gebrauch von Joh 1,3.10–11 bei Irenäus und Ptolemäus, dass beide unabhängig voneinander »utilizised an already established anti-Marcionite use of the Prologue« (153), dass also bereits Ptolemäus um 150 in Rom den »antihäretischen« Einsatz des JohEv bezeugt und an die damit verbundene Wertschätzung desselben anknüpf t– nicht zuletzt, um den valentinianischen Mythos von der pleromatischen »Achtheit« mithilfe des Prologs als eines »apostolic proof-text« (164) zu fundieren.
Einar Thomassen (»Heracleon«, 173–210) macht deutlich, dass der Valentinianer Herakleon durchaus Exegese (und nicht Eise­gese, 202–207) des JohEv treibt, wenn er die Aussagen des vierten Evangeliums (und nicht nur die des joh Jesus [195 f.], was kanonsgeschichtlich relevant ist) vor dem Hintergrund valentinianischer Theo­logie und Anthropologie deutet. Das JohEv selbst sei es, das gnostische Interpretation zulässt: »[Heracleon] is expounding the gospel by employing terminology and ideas that are internal to the text« (202 – hier in Bezug auf den Logos; zum soteriologischen Determinismus vgl. 204). Eine Sonderstellung des JohEv für die valentinianischen Gnostiker lässt sich daraus jedoch nicht ableiten (201).
Das Verhältnis der sog. sethianischen Gnosis zum JohEv bzw. zum joh Christentum wird ebenfalls in zwei Beiträgen beleuchtet: John D. Turner (»The Johannine Legacy: The Gospel and Apocryphon of John«, 105–144) nimmt dabei eine eigene religionsgeschichtliche Perspektive ein: Nach Turner haben sowohl das joh Christentum als auch die »Sethianer« gemeinsame Wurzeln als frühjüdische Täuferbewegungen, die in der zweiten Hälfte des 2. Jh.s christianisiert wurden und im weiteren Verlauf in ein spannungsvolles Konkurrenzverhältnis gerieten, wovon die Polemik des Johannes-Apokryphons (und auch der »Dreigestaltigen Protennoia«) gegen das vierte Evangelium zeuge, das auf dem Wege gewesen sei, die Akzeptanz der »Großkirche« zu erlangen (141 f.). Demgegenüber erblickt zwar auch Paul-Hubert Poirier (»The Trimorphic Protennoia and the Johannine Prologue: A Reconsideration«, 93–103) in TrimProt eine polemische Reinterpretation des joh Prologs (101), jedoch bestreitet er zugleich jeglichen Zusammenhang zwischen dem ApocrJoh, dessen Pronoia-Hymnus NHC II 30,11–31,27 die Vorlage für TrimProt gewesen sei (96), und dem JohEv (94.101 [hier in Anm. 19 – nebenbei bemerkt – ein völlig sinnentstelltes Zitat aus der Arbeit des Rezensenten, der genau das Ge­genteil zeigt]).
Turner vermutet eine Verbindung zwischen den Sethianern und den joh »Sezessionisten«, gegen die der 1Joh Stellung bezieht (142 f.). Mit diesem Dokument des joh Christentums beschäftigt sich der Beitrag von Raimo Hakola (»The Reception and Development of the Johannine Tradition in 1, 2 and 3 John«, 17–47), der den Band eröffnet. H. sieht sowohl im JohEv als auch in den joh Briefen voneinander literarisch unabhängige Zeugen der gemeinsamen joh Tradition (18) und plädiert dafür, die joh Sezessionisten nicht vorschnell als Doketisten zu klassifizieren. Vielmehr würde ihnen der 1Joh zur Konsolidierung der eigenen Gruppenidentität gleich jeglichen Christusglauben absprechen (35–43) – und somit un­rühmlicherweise dem späteren Christentum einen probaten Weg weisen, mit jeweils Andersdenkenden umzugehen (44).
Mit einem deutlich doketischen Text, dem sog. »Evangelium« innerhalb der apokryphen Johannesakten (Kapitel 87–105), befassen sich die Ausführungen von István Czachesz (»The Gospel of the Acts of John: Its Relation to the Fourth Gospel«, 49–72). Er reaktiviert die These vom »gnostischen« Ursprung des JohEv, wenn er die Benutzung des JohEv durch das »Evangelium« verneint und dagegen einen mündlichen, doketischen »Proto-Johannes« (50.67) als gemeinsame Quelle für beide Texte postuliert. Andererseits räumt er jedoch auch die Kenntnis des JohEv durch den Autor des »Evangeliums« ein: »It is possible that the author of the GAJ [= Gospel of the Acts of John, T. N.] wanted to criticize the treatment of Proto-John by the author(s) of the Fourth Gospel« (69).
Anne Pasquier (»Influence and Interpretation of the Gospel of John in Ancient Christianity: The Example of Eugnostos [NHC III,3 and V,1]«, 211–231) untersucht, wie sich die Darstellung der Erlösergestalt innerhalb der Textgeschichte des Eugnostosbriefs (auch) unter joh Einfluss entwickelt hat, wobei sie zugesteht, dass dieser »is difficult to pinpoint exactly« (219). Insgesamt rechnet sie für die Entwicklung der frühen Christologie mit einem komplexen Prozess wechselseitiger Beeinflussung von später als »gnostisch« de­klarierten Vorstellungen und der joh Logos-Christologie, die beide aus frühjüdischen Quellen schöpfen (229). Eine vorchristliche Gnosis, auf der das JohEv fußen würde, legt sich dabei ebenso wenig nahe (227) wie ein auf dem JohEv basierender »gnostischer« Erlösermythos (229). Allerdings könnte das JohEv »have had an impact on certain gnostic currents and played a role in the elaboration of their respective ideologies« (ebd.).
Etwas aus dem Rahmen des Bandes fällt der lehrreiche Beitrag von Marvin Meyer (»Whom Did Jesus Love Most? Beloved Disciples in John and Other Gospels«, 73–91), der die Anwärter(innen) auf diesen Titel in der frühchristlichen Literatur vorstellt, allerdings ohne zu erörtern, ob und inwieweit das Konzept des »Lieblingsjüngers« seinen Ursprung im JohEv haben könnte.
Den Band beschließend geht Turid Karlsen Seim den »Johannine Echos in Early Montanism« (345–364) vor allem im Referat der bisherigen Forschung nach. Obgleich die frühen montanistischen Quellen keine Spuren einer Rezeption des JohEv aufweisen, plädiert Seim unter Hinweis auf die Ablehnung des JohEv durch den römischen Presbyter Gaius, der sich auch gegen die Montanisten wandte (351 f.), sowie unter Hinweis auf die Bezugnahme des späteren Montanisten Tertullian (3. Jh.) auf das vierte Evangelium für einen prägenden Einfluss des JohEv auf diese phrygische Bewegung im 2. Jh. (363).
Als Fazit möchte der Rezensent festhalten: Auch wenn die »gnos­tische« Rezeption des JohEv nach wie vor die für die (anglophone) Forschung interessantere zu sein scheint, nicht zuletzt weil sie Raum bietet für literar- bzw. quellenkritische und religionsgeschichtliche Spekulationen zur Entstehung des JohEv, zeigt doch gerade die »gnostische« Kritik am vierten Evangelium, dass es von Beginn an kompatibel war mit der Theologie der Christentümer, die sich im 2. Jh. als »Groß-« oder »Mehrheitskirche« zu etablieren begannen.
Quellen-, Sach- und Autorenregister erschließen den Band, die Literaturverzeichnisse sind den Beiträgen direkt nachgestellt. Stichproben der Fußnotenverweise auf nicht-englischsprachige Literatur raten dazu, diesen nicht blind zu vertrauen.