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Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

765-767

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Holtz, Traugott

Titel/Untertitel:

Exegetische und theologische Studien. Ge­sammelte Aufsätze II. Hrsg. v. K.-W. Niebuhr.

Verlag:

Leipzig: Evange­lische Verlagsanstalt 2010. XI, 359 S. m. 1 Porträt. gr.8° = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 34. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-374-02789-7.

Rezensent:

Ingo Broer

Nachdem eine Anzahl von älteren Aufsätzen des 2007 plötzlich verstorbenen Hallenser Neutestamentlers Traugott Holtz bereits 1991 als Band 57 der Reihe »Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament« erschienen ist, legt nun H.s Schüler K.-W. Nie­-buhr einen weiteren Band zu und von H. vor, der weit über eine herkömmliche Dokumentation gesammelter Aufsätze hinausgeht. Denn das Werk enthält neben einigen Würdigungen des Wissenschaftlers und Kirchenmannes H. durch Schüler und Kollegen auch Beiträge, die aus verschiedenen Anlässen zu Ehren von H. vorgetragen wurden. So finden sich hier neben jüngeren Aufsätzen aus der Feder von H., zum Teil in englischer Sprache, und dessen vollständiger Bibliographie auch die Ansprache des Herausgebers bei der Akademischen Gedenkfeier der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg sowie die von H. v. Lips beim Akademischen Festakt zum 70. Geburtstag von H. Darüber hinaus sind hier folgende Arbeiten, die nicht von H. stammen, publiziert: der Vortrag von K.-W. Niebuhr beim letztgenannten Festakt mit dem Titel »Jesu Wirken, Weg und Geschick« sowie der Vortrag von E. Reinmuth aus Anlass des 75. Geburtstages zum Thema »Ostern – Ereignis und Erzählung«, und schließlich der Vortrag von U. Luz zum 65. Geburtstag mit dem Thema »Paulus als Charismatiker und Mystiker«. Die Themen der Beiträge seien hier ge­nannt, da man diese Beiträge an dieser Stelle nicht unbedingt erwartet.
Der Herausgeber hat die Arbeiten von H. in Paulusstudien, Exegetische und theologische Studien, Forschungsberichte und Stellungnahmen zur Zeit unterteilt. In allen Abteilungen finden sich wichtige Beiträge, von denen hier nur wenige vorgestellt werden können.
In »Die historischen und theologischen Bedingungen des Römerbriefes« legt H. dar, dass es Paulus im Römerbrief letztlich um seine Mission in Spanien geht, die er ohne das Einverständnis und die Hilfe der römischen Gemeinde nicht durchführen kann. Voraussetzung für solche Unterstützung ist aber die Anerkennung des Evangeliums durch die römische Gemeinde in der Form, in der Paulus es verkündet. Dazu gehört vor allem der »Nachweis der Identität des Evangeliums mit der Botschaft und dem Handeln … Gottes« im Alten Testament, woraus der Bruch mit der Synagoge resultiert, soweit sie sich der Christus-Botschaft verweigert. Deswegen gilt: »Die Darlegungen von Röm erhalten ihr Profil … durch die innere Auseinandersetzung mit dem die Christus-Botschaft zurückweisenden Judentum.« (144) Da die Glieder der römischen Kirche auf die Koexistenz mit der Synagoge angewiesen waren, wird die angekündigte Ankunft des Paulus angesichts der auch in Rom bekannten Auseinandersetzungen mit den Juden um das paulinische Evangelium dort sicher nicht nur Freude ausgelöst haben.
Der Beitrag »Christus bekennen – biblische Grundlagen« fragt nach der Wurzel des Bekenntnisses zu Christus und dessen Bedeutung im Angesichte dessen, dass die Bezeichnung »Christianer« sich im Neuen Testament und bei den Apostolischen Vätern nur selten findet. Die Bekenner zu Christus stehen auf dem Fundament des alttestamentlichen Gottesglaubens, unterscheiden sich aber vom Judentum durch das Bekenntnis zu Christus. »Es ist diese diakritische Kraft des Namens Jesus Christus gewesen, die ihm die dominante Position im Bekenntnis der Gemeinde zugewiesen hat.« (153) Gleichwohl wurde der Titel sehr schnell »als Eigenname (miss)verstanden und damit kulturell-religiös neutralisiert« (154). Die Bekanntheit des Titels »ohne strikte Einengung auf nationalistisch-herrscherliche Konnotationen« in der Diaspora dürfte für dessen Siegeszug trotz der geringen Verankerung in der alten Jesusüberlieferung, für die die einen historischen Kern enthaltende Szene in Caesarea Philippi (trotz Mk 15,26) mitverantwortlich ist, entscheidend gewesen sein.
In »Paulus, Jerusalem und die Wahrheit des Evangeliums« nimmt H. das von Paulus sehr überlegt ausgewählte Beweisziel von Gal 1 und 2 in den Blick. Dazu gehören: 1. Unmittelbare Folge der Berufung war keineswegs die Kommunikation mit den Apos­teln vor Paulus. 2. Paulus ging nach Jerusalem, um »Petrus in seiner besonderen Funktion als der vom Irdischen und auferstandenen (!) Berufene« (165) kennenzulernen. 3. Der Apostolat des Paulus wurde in Jerusalem offiziell als gleichwertig anerkannt und eine Be­schneidung des Titus wurde trotz der kritischen Situation nicht gefordert. 4. Paulus hat sein Verhalten im antiochenischen Zwi­schenfall mit dem Evangelium begründet.
Es geht Paulus in Gal 1 und 2 selbst bei seiner Beziehung zu Petrus um die Unabhängigkeit und Offenbarungsgemäßheit seines Apostolats. Aufgrund dessen kann er um der Wahrheit des Evangeliums willen im antiochenischen Zwischenfall selbst Petrus als dem Erstzeugen widersprechen. Dass dabei Jerusalem immer wieder genannt wird, könnte damit zusammenhängen, dass »das der Konstellation der gegenwärtigen Kommunikation mit den Galatern entspricht.« (170)
»The Judgement on the Jews and the Salvation of all Israel« behandelt den immer wieder betonten scharfen Gegensatz zwischen 1Thess 2,15 f. und Röm 9–11. Nach H. zeigen diese beiden Passagen keine Wende im paulinischen Denken hinsichtlich Israel an, denn beide Stellen rechnen fest damit, dass die nicht dem Evangelium folgenden Juden dem Gericht verfallen, und 1Thess hält die Möglichkeit einer jüdischen Wende zum Evangelium und zum daraus resultierenden Heil durchaus offen. Röm 9–11 hat das eschatologische Heil Israels im Blick, während 1Thess auf die zeitgenössischen Juden blickt. Es gibt im Übrigen keinen Sonderweg Israels zum Heil, bei der Parusie »all Israel will accept that God, by the resurrected Crucified one alone, will save the world which had totally opposed God in its history« (179), wobei der Terminus »ganz Israel« nicht alle Individuen, sondern Israel en bloc meint.
In dem Beitrag »Ich aber sage euch« geht H. auf die umstrittene Frage nach dem Verhältnis Jesu zum Gesetz ein und verweist gleich zu Anfang auf den Prozess und die Gründe, die Pilatus zur Verurteilung Jesu geführt haben. Er rechnet damit, dass der Konflikt »mit führenden Kräften des Judentums« »religiös begriffen wurde als messianisch begründeter Angriff gegen die gültige Ordnung« (209). Da das Messiasbewusstsein Jesu diesen Konflikt nicht aus­-gelöst haben kann, muss das Gesetzesverständnis Ursache für ihn gewesen sein. Einen Widerspruch gegen das Gesetz macht H. an den drei ursprünglichen Antithesen, vor allem aber am Scheidungsverbot Jesu fest und kommt dabei zu dem Schluss, »dass Jesus sich mit seiner Proklamation des Gotteswillens antithetisch gegen die von Geboten der Tora her begründete Lebensordnung stellte, die in der jüdischen Gemeinschaft seines Umfeldes als Gotteswille galt.« (215) »Es ist tatsächlich das Verhältnis zur Tora gewesen, das Jesus vom Judentum seiner Tage trennt.« (216)
Es versteht sich angesichts der Situation der heutigen neutestamentlichen Wissenschaft von selbst, dass viele der von H. vertretenen Positionen kontrovers sind. Wo das größere Recht ist, ist im gegenwärtigen Betrieb nicht immer leicht festzustellen, zumal jede Gegenwart nicht frei von Auslegungsmoden ist. Aber aufgrund der Ernsthaftigkeit und des Gewichts der Argumentationen des großen Hallensers kann man an ihnen jedenfalls nicht einfach vorübergehen.
Es ist bedauerlich, dass die Stimme dieses freundlichen und von seiner Sache begeisterten Neutestamentlers nicht mehr zu hören ist, umso erfreulicher ist es, dass die von ihm vertretene Sache in seinen Worten durch die Buchpublikation weiterer Aufsätze dauerhaft präsent bleibt. H. hätte sich über das Buch gefreut, nicht nur über die erneute Publikation seiner Aufsätze, sondern auch über die Aktivität seiner Schüler, der sich diese Publikation verdankt.