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Ausgabe:

Februar/1996

Spalte:

168–171

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Böhlig, Alexander u. Christoph Markschies

Titel/Untertitel:

Gnosis und Manichäismus. Forschungen und Studien zu Texten von Valentin und Mani sowie zu den Bibliotheken von Nag Hammadi und Medinet Madi.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1994. XI, 316 S. 8o = Beihefte zur Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 72. Lw. DM 148,­ ISBN 3-11-014294-5.

Rezensent:

Kurt Rudolph

Die in diesem Buch publizierten Beiträge entstammen unterschiedlichen Zeiten (1986-1992) und Themen zur Gnosisforschung, denen zwei Aufsätze zu Problemen der Manichäologie beigegeben sind. In einem Vorwort (V-VIII) werden ihre Zusammenhänge und Absichten dargestellt, vor allem die Rolle der antiken Philosophie für die Gnosis, ein Thema, das schon seit Jahren weltweit bearbeitet wird (z. B. bei R. T. Wallis & J. Bregman, Neoplatonism and Gnosticism, Albany, N. Y. 1992).

Die beiden ersten Aufsätze hat der jetzt in Jena lehrende Kirchenhistoriker Chr. Markschies, ein Schüler von Frau Luise Abramowski in Tübingen, verfaßt; sie ergänzen sein großes Werk über "Valentinus Gnosticus?" (Tübingen 1992; vgl. ThLZ 117, 1992, 881). Zunächst geht es um "Die Krise einer philosophischen Bibeltheologie in der Alten Kirche oder: Valentin und die valentinianische Gnosis zwischen philosophischer Bibelinterpretation und mythologischer Häresie" (1-37), "ein im wesentlichen unverändertes Referat" für eine Tagung in der Ev. Akademie Hofgeismar 1989 zum Thema "Theologische Gegenwartsdeutung" (Anm. 1). Wenn es noch eines Beweises für die Sprengkraft historisch-kritischer Forschung bedarf, dann den des seit einigen Jahren anhaltenden Prozesses, die altkirchlichen Häretiker zunehmend in die Reihe der "Kirchenväter" aufzunehmen (schon H. Krafts Kirchenväterlexikon von 1966 vereinigt sie alle unter einem Dach). Der Religionshistoriker, der die theologischen und kirchenrechtlichen Kategorien von Häresie und Orthodoxie als nicht forschungsleitend ansieht, kann darüber nur erfreut sein.

Der Beitrag von M. geht darüber insofern noch hinaus, als er Valentinus (V.) und seine Schule für theologisch-systematische Probleme der Gegenwart, d.h. für eine "philosophische Bibeltheologie" fruchtbar machen möchte. Mit Recht verweist er dabei auf F. C. Baur und vor allem A. von Harnack, die beide die Gnosis als religionsphilosophische Bewegung im hellenistischen Geiste beschrieben. Die Verwendung von Begriffen aus der neueren Kirchengeschichte (l9. Jh.) wie "Bibeltheologie" oder gar "Vermittlungstheologie" ist allerdings ein unhistorisches Verfahren, weil darunter alle altkirchlichen Theologen fallen können und diese Termini damit ihren zeitgeschichtlichen Kontext verlieren. Die Voraussetzung dafür liegt bei M. darin, daß er V. scharf von seiner Schule trennt: Nur deren Vertreter sind als (christl.) Gnostiker zu verstehen, die ihren angeblichen Lehrer zu Unrecht (aus Mißverstehen!) zum Gnostiker gemacht haben (26 ff.). Dahinter sieht M. die "Krise einer philosophischen Bibeltheologie" (l0 f.). Die Lehre des V. wird allein aus den wenigen (8 bzw. 9) Fragmenten bzw. Zitaten erschlossen, worüber eine Kurzfassung der Ergebnisse der o.g. Dissertation von M. nach dogmatischen Loci orientiert (11-25). M. gibt zu, daß wir daraus keine lückenlose Theologie gewinnen können (25), aber das Profil eines altkirchlichen Vermittlungs- und Bibeltheologen würde sichtbar (6 ff.), der kein Häretiker gewesen sei, wozu ihn erst seine großkirchlichen Gegner aufgrund seiner Schüler gemacht haben. Diese Schüler, die ja teilweise Zeitgenossen waren, haben mit Hilfe einer "Kunstmythologie" und weiterer Platonisierung seine an der Bibel orientierte Lehre für die Gebildeten popularisiert (33).

Der Bruch liege so in der radikalisierten philosophischen Auslegung der Bibel und führte zur Häresie; der "Lehrer" sei darüber vergessen worden (37). Als Bibeltheologe sei V. auch heute noch Vorbild (37). Man wird darüber im Zweifel sein, ob dieses Bild den Tatsachen gerecht wird; darüber helfen auch nicht Vergleiche mit älteren (z.B. Simon Magus und Simonianer) und neueren philosophischen (z. B. Hegel) oder theologischen Schulbildungen (z. B. Bultmannschule) hinweg (34 f., 105 f.). Eine nähere Auseinandersetzung damit wird anhand des o.g. Werkes in der ThR von mir erfolgen.

Der zweite Aufsatz von M. bietet eine instruktive, gehaltvolle Geschichte über "Alte und neue Texte und Forschungen zu Valentin und den Anfängen der ’valentinianischen’ Gnosis ­ von J. E. Grabe und F. C. Baur bis B. Aland" (39-111), einschließlich eines Berichts über die Quellensituation (44-59). Keine der Nag Hammadi-Texte sind mit Valentin zu verbinden, nur mit seiner Schule, wie EvVer, ApcJac1, ExpVal, PrecPl, Rheg, TractTrip. Als forschungsgeschichtlicher Leitfaden dient die Beurteilung über das Verhältnis von V. und Valentinianern. Da M. von einer "methodischen Grundentscheidung" (98 ff.) ausgeht, die nur die Fragmente (dazu näher 44 ff.) für V. als relevant ansieht, verfallen die meisten der älteren (von Neander bis E. de Faye) und neueren Forscher (W. Foerster, F. Sagnard, G. Quispel, S. Pétrement, B. Layton, A. M. McGuire, J. Holzhausen, H. Strutwolf) einer Kritik, nur Baur, Harnack und C. Stead erhalten gute Noten, weil sie das platonische Erbe bei V. erkannten und ihn von seiner Schule deutlich absetzten. Eine genauere Interpretation der Fragmente ohne Rücksicht auf die valentinianische Schule aber fehlte seit Harnack überhaupt, daher gibt M. am Ende eine erneute Übersicht über seine o.g. These (Diss. von 1990 bzw. 1992). Bemerkenswert ist hierbei, daß M. seiner Auffassung selbst nur einen hypothetischen Charakter zubilligt, da ihr ein methodischer Zirkelschluß zugrundeliegt (100). Er erwägt mit Recht, daß die Fragmente einem frühen Stadium des V. entstammen können, also der Zeit in Alexandria, nicht der späteren in Rom. Darauf könnte verweisen, daß zwei Drittel der Zeugnisse auf Clemens Alex. zurückgehen. Schwer beantworten läßt sich auch die Entstehung der Schule, deren Differenzen ja bekannt sind (l00 ff.) Die terminologischen Zusammenhänge sind aber nicht zu übersehen (104f.). Sollte V. nicht der Schulgründer sein, fragt man sich, wie die angeblichen Schüler, die ja jüngere Zeitgenossen waren, einzuordnen sind. Leute wie Herakleon, Theodotus und Ptolemäus sind Theologen von Gewicht und keine "Halbgebildeten" (VII), die ihren Meister nicht verstanden oder gar gegen den Strich lasen. Die Fragmente sind schon formgeschichtlich keine Zeugnisse für theologische Systeme, sondern entweder poetisch-liturgisch, epistolarisch oder hermeneutisch-exegetisch einzuordnen.(1) Ohne ihren Kontext, den wir nicht haben, hängen sie in der Luft und können als Zeugnisse alexandrinischer "hellenistisch-jüdischer Theologie" (105) gelten. Aber das ist sehr allgemein und wenig spezifisch. Daß V. in die Theologiegeschichte des 2. Jh.s gehört und seine häresiologische Verurteilung aufzugeben sei (von wem eigentlich ­ doch nur von Theologie und Kirche), hat M. erneut vorgeführt (108). Wenn er als Parallele zu den sog. Apologeten mit einem Versuch, die Gebildeten zu erreichen, aber unter Aufgabe der "Mitte des Christentums" (was ist darunter eigentlich zu verstehen?)(2) anzusehen ist, dann fragt man sich, warum er überhaupt häretischen Verdächtigung ausgesetzt worden ist und seine Werke verschwunden sind. Ein ähnliches Programm haben alle christlichen Gnostiker (auch Mani) besessen. Neue Funde können hoffentlich eines Tages das Problem lösen.

Im Anhang findet sich eine Synopse von (Ps.-?) Didymus, Trin. III 42 und (Ps.-?) Cyrill, Catech.VI 17-19, die ein verlorenes Zitat von V. enthält, das aber nicht authentisch ist (109-111; dazu 59 A.130).

Die drei weiteren Beiträge stammen aus der Feder des Nestors der Gnosisforschung und Manichäologie A. Böhlig, unter denen vor allem der erste über "Die Bedeutung der Funde von Madinet Madi und Nag Hammadi für die Erforschung des Gnostizismus" hervorzuheben ist, da er nicht nur einen Überblick über Fund- und Editionsgeschichte mit bibliographischen Angaben bringt, sondern auch aus großer Kennerschaft über die ge samte Problematik der beiden Corpora Rechenschaft gibt (113-242). Es ist ein Beitrag zu einer zukünftigen "Geschichte der gnostischen Tradition" (224), der über den "Sitz im Leben" (135 ff.), die Literaturgattungen (149 ff.), die verarbeiteten Traditionen (156 ff.), die religionsgeschichtliche Verankerung (163ff.) und "geistigen Grundlagen" der Gnosis (172-203) orientiert.

Als Ergebnis notiert B., daß die NHC kein solch authentisches Material bieten wie die kopt. Manichaica (213), da sie mehr Kompilationen als Originale enthalten (187 ff., 201 ff.) und mit den überlieferten häresiologischen Schulbezeichnungen nicht schlüssig unterzubringen sind (vgl. dazu 192-202). Bestätigt wird aber, daß hinter den Gnostica eine eigene "religiöse Daseinshaltung" sichtbar wird, die im Kern nichtchristlich ist, auch wenn ihre "Schalen" (Objektivationen) iranisch, griechisch, ägyptisch, jüdisch oder christlich sind, also, wie sich B. traditionell ausdrückt, "synkretistisch" (214). Eine umfangreiche Bibliographie beschließt den gewichtigen Artikel (225-242; teilweise mit Lücken betr. der BCNH Québec).

Anschließend wird ein Vortrag "Zum griechischen Hintergrund der manichäischen Nus-Metaphysik" abgedruckt (243), der jetzt auch in den Proceedings des Symposiums über den manich. Nus in Leuven (Louvain) 1991 erschienen ist und hier den "natürlichen" Kontext herstellt (The Manichaean NOYS. Ed. by Alois van Tongerloo, Lovanii 1995, 23-43). B. untersucht die griech. Vorgeschichte der Stellung des Nus von den Vorsokratikern über Platon und Aristoteles bis zu den Stoikern und Mittelplatonikern, von denen Numenius, Poseidonius und Plutarch auch eine geographische Nähe zu Mani in dieser Beziehung aufweisen.

Der 3. Beitrag (M. Hengel zum 14.12.1986 gewidmet) behandelt das schwierige Thema von Manichäismus und Christentum (265-282), das durch Nähe und Ferne gekennzeichnet ist. B. sieht bekanntlich eine stärkere Nähe zum Christentum, da für ihn Mani christlicher (z.T. gnostischer) Herkunft ist; andererseits ist der Inhalt seines Systems aber nicht ausgesprochen christlich (282). B. unterschätzt m. E. den nur aus dem iranisch-zoroastrischen Bereich erklärbaren Grundcharakter seiner Lehre von den "zwei Prinzipien und drei Zeiten".(3) Unbestritten bleibt, daß Mani und seine Religion in den Bereich der Wirkungsgeschichte des Christentums gehört und sich oft nach außen als eine Form desselben maskierte.

Der Sammelband ist ein wertvoller Beitrag zur gegenwärtigen Gnosisforschung und gehört daher in jede relevante Bibliothek. Seine Benutzung wird durch ein ausführliches Stellenregister und einen Autorenindex sehr verbessert.

Fussnoten:

(1) Daher hat m.E. Holger Strutwolf mit seinem Urteil wohl eher Recht: "Angesichts der wenigen Relikte seiner Schriftstellerei läßt sich die Frage, ob Valentin ein gnostischer Systematiker oder ein platonischer Exeget war, m. E. nicht mit Sicherheit beantworten" (Gnosis als System. Zur Rezeption der valentinianischen Gnosis bei Origenes, Göttingen 1993, 28; auch zitiert bei M., 74 A.206).
(2) Vgl. dazu meinen Beitrag "Christlich" und "Christentum" in der Auseinandersetzung zwischen ’Kirche’ und ’Gnosis’, in: Apocryphon Severini presented to S. Giversen, ed. Per Bilde u.a. Aarhus 1993,192-214.
(3) Vgl. Rudolph, Mani und der Iran, in: Manichaica Selecta. Studies presented to J. Ries. Ed. by A. van Tongerloo & S. Giversen, Lovanii 1991 ’ 307-321.