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Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

748-750

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Metzner, Rainer

Titel/Untertitel:

Kaiphas. Der Hohepriester jenes Jahres. Ge­schichte und Deutung.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2010. XVIII, 458 S. u. 22 Taf. m. Abb. gr.8° = Ancient Judaism and Early Christianity, 75. Geb. EUR 162,00. ISBN 978-90-04-18524-1.

Rezensent:

Michael Tilly

Kein Hoherpriester der herodianisch-römischen Epoche hat sein Amt so lange verrichtet wie der zur Zeit Johannes des Täufers, Jesu aus Nazareth und der Apostel amtierende Kaiphas. In seiner um­-fang­reichen monographischen Studie fragt der Berliner Privatdozent Rainer Metzner nach der historischen Gestalt des Kaiphas, nach seiner Darstellung durch die vier Evangelisten und nach seiner Wirkungsgeschichte vom frühen Christentum bis in die Moderne.
Das erste Kapitel (1–33) behandelt zunächst in allgemeiner Weise das hohepriesterliche Amt zur Zeit Jesu. Zur Sprache kommen die verschiedenen Bedeutungsaspekte des Jerusalemer Pries­tertums und insbesondere seine administrativen, ökonomischen und kultischen Aufgaben, die Funktionen des Hohenpriesters als Spitze der priesterlichen Hierarchie, die hohepriesterliche Sukzession seit der Zeit des Herodes sowie die Darstellungstendenzen der antiken Quellen, insbesondere des Flavius Josephus.
Im ausführlichen zweiten Kapitel (35–176) unternimmt M. den Versuch, vor diesem Hintergrund das historisch-biographische Profil des Hohenpriesters Kaiphas zu erheben. Auf der Basis der Nachrichten im Werk des Josephus, des Neuen Testaments und vereinzelter Notizen in der rabbinischen Traditionsliteratur re­konstruiert M. seine Kindheit und Jugend als Spross der Jerusalemer Aristokratie, seine Priesterordination, seine Karriere, seine Weihe zum Hohenpriester und sein ambivalentes Verhältnis gegenüber der jüdischen Bevölkerung und den römischen Autoritäten (entgegen der Darstellung M.s [75] amtierten allerdings erst seit Claudius Prokuratoren in Judäa). Erwähnung findet sodann die Wahrnehmung des Wirkens und des Schicksals Johannes des Täufers durch Kaiphas (88). Breiten Raum nimmt die Beschreibung des Verhältnisses zwischen dem Hohenpriester und Jesus aus Nazareth ein. Seinen Optimismus hinsichtlich des Umfangs der historischen Anteile in der von den Passionserzählungen gedeuteten Geschichte begründet M. u. a. damit, dass bereits unmittelbar nach Ostern ein ausführliches Überlieferungsinteresse der Umstände des Kreuzestodes Jesu bestanden habe (109). Sein Argument, dass die ersten Christen vieles, was sie in Ps 22 und Jes 53 lasen, im Spiegel der Ereignisse wiedererkannt hätten (110), verliert indes an Beweiskraft, wenn man davon ausgeht, dass die intertextuellen Bezugnahmen auf diese beiden biblischen Prätexte ihrerseits der nachträglichen christologischen Deutung des Kreuzesgeschehens dienten.
Hinsichtlich des Prozesses Jesu vor Pilatus hält M. zwar die Beteiligung des Kaiphas an der Anklage vor Pilatus für unwahrscheinlich (133), spricht sich aber auch gegen die Deutung des Verhörs Jesu als literarischer Fiktion aus (138). Ebenso spiegele sich in der lukanischen Darstellung des Verhältnisses zwischen dem Hohenpriester und der Jerusalemer Urgemeinde der Sachverhalt wider, dass die ersten Christen auf seinen Widerstand stießen, weil sie in ihren Lehren das »tempelkritische Potential« der Verkündigung Jesu fortführten (145). Den Eifer des vorchristlichen Paulus hätte sich Kaiphas wohl zunutze gemacht, »um das mit den Chris­ten entstehende Problem auch für jüdische Gemeinden außerhalb Jerusalems zu lösen« (158).
Das dritte Kapitel (177–196) behandelt das Kaiphasbild des Markusevangeliums. Im narrativen Rahmen der markinischen Passionsgeschichte diene das Verhör Jesu durch seinen namenlosen Gegenspieler (Mk 14,53–64) vor allem dazu, die Erkenntnis der wahren Identität Jesu zu vertiefen (183). Innerhalb der christologischen Gesamtkonzeption des Evangeliums werde Kaiphas hier in direkter Kontrastierung zu dem (ebenfalls namenlosen) Hauptmann unter dem Kreuz (Mk 15,39) zu einer literarischen Figur stilisiert, hinter deren bewusster Anonymität sich »zwei konträre Welten« verbergen (196).
Das polemische Kaiphasbild des Matthäusevangeliums ist Thema des vierten Kapitels (197–212). Anders als Markus stelle Matthäus den Hohenpriester durchweg in ein deutlich negatives Licht, indem er seine schuldhafte Verantwortung am Todesgeschick Jesu akzentuiert. Den Hintergrund dieser Hervorhebung der Schuld des Kaiphas erblickt M. in den realen Erfahrungen der matthäischen Gemeinde in ihrem Konflikt mit Synagoge und Synhedrion (208).
Im fünften Kapitel (213–245) geht es um Kaiphas im lukanischen Doppelwerk. Der dritte Evangelist gestalte eine zweifache synkritische Kontrastierung zwischen Kaiphas und Johannes dem Täufer, indem er Ersteren als Vertreter städtischer Kultur und Priester Letzterem als Wüstenasket und Prophetengestalt gegenüberstellt (220). Das Fehlen des Hohenpriesters im lukanischen Verhörbericht (Lk 22,66–71) sieht M. darin begründet, dass die lukanische Fixierung der Befragung Jesu auf seine vermeintliche politische Schuld dazu geführt habe, Kaiphas aus der Szene zu streichen (228). Hingegen werde er in der Apostelgeschichte profiliert und in gemäßigter Weise gezeichnet, um ihn zum »indirekten Zeugen« für die unaufhaltsame Verbreitung des Evangeliums zu stilisieren (245).
Das sechste Kapitel (247–268) behandelt das Johannesevangelium. Im Kontext der Erzählstrategie der johanneischen Jesusgeschichte begegne Kaiphas als prominenter Führer des (typisiert dargestellten) Judentums und zugleich als im Sinne des göttlichen Heilswillens agierender Protagonist, der – anders als der verstehende implizite Leser – die eigentliche prophetische Dimension seiner eigenen Aussagen über Jesus missversteht und somit zum »Propheten der Heilsbedeutung des Todes Jesu für die Welt« wird (267).
Die Wirkungsgeschichte der Kaiphasgestalt kommt im siebten Kapitel (269–374) zur Sprache. M. beleuchtet sein Bild im Spiegel altkirchlicher und mittelalterlicher Zeugnisse, in verschiedenen Passionsspielen, in der christlichen Kunstgeschichte, in der Schriftauslegung der Reformatoren, in der neuzeitlichen Literatur sowie in der modernen Populärkultur.
Eine zusammenfassende Deutung der Einzelergebnisse enthält das achte Kapitel (375–407), das auf die Notwendigkeit hinweist, die Rolle des Hohenpriesters im Neuen Testament im Kontext der theologischen Reflexionskraft der frühchristlichen Autoren zu beurteilen, und das in eine konzise Rekonstruktion des »historischen Kaiphas« mündet, dessen Lebenslauf und Charakter im deutlichen Gegensatz zu seiner zunehmend negativen Darstellung in der christlichen Tradition stehen (406). Beigegeben sind ein Literaturverzeichnis (409–434), Nachweise der Abbildungen (435 f.), Re-gis­ter der Namen und Sachen (437–440), ein Stellenregister (441–458) sowie 22 ganzseitige (unpaginierte) Bildtafeln.
Die besondere Stärke der Arbeit besteht in der ebenso umfassenden wie sorgfältigen Analyse und Interpretation der unterschiedlichen Blickwinkel der antiken Autoren auf die Gestalt des Kaiphas. Besonders lesenswert ist auch das wirkungsgeschichtliche Kapitel. Nicht unproblematisch ist hingegen die Durchführung der Be­schreibung der historischen Rolle des Hohenpriesters im zweiten Kapitel. Zum einen füllt M. das individuelle Bild des Kaiphas hier durch allgemeine Aussagen über das Hohepriestertum auf, zum anderen bleibt sein Zutrauen in den Umfang und in die Zuverlässigkeit früher mündlicher Überlieferungsstufen der Evangelientradition, das ihn mitunter zu recht spekulativen Annahmen führt, zu häufig ohne hinlängliche Begründung. Insgesamt stellt die lesenswerte Studie M.s einen bemerkenswerten Beitrag zur Erhellung der Wahrnehmung des Judentums im Neuen Testament dar.