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Ausgabe:

Februar/1996

Spalte:

166–168

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wischmeyer, Oda

Titel/Untertitel:

Die Kultur des Buches Jesus Sirach.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1995. IX, 318 S. gr 8o = Beihefte zur Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 77. Lw. DM 158,­. ISBN 3-11-014564-2.

Rezensent:

Georg Sauer

Das anzuzeigende Werk lag der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg als Habilitationsschrift zum Erwerb der venia docendi für Neutestamentliche Wissenschaft vor. Das Verfahren wurde 1992 abgeschlossen. Die Vfn. lehrt nun an der Theologischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg.

Die Thematik nimmt teil an der seit eineinhalb Jahrzehnten zu beobachtenden starken Hinwendung zur Literatur und Zeit des hellenistisch-römischen Judentums. Am Anfang stand die Beschäftigung mit den Grundlagen dieser Materie, nämlich die Erforschung und Behandlung der Quellen, der Geschichte und der Voraussetzungen. Das vorliegende Buch stellt bereits einen zweiten Schritt dar und nimmt dabei einen besonders herausragenden Platz ein. Es kann mit Recht als ein Meilenstein im Gang der Forschung bezeichnet werden. Wird doch hier der geglückte Versuch unternommen, auf Grund der reichlich vorhandenen Quellen und der Ergebnisse, die aus diesen Quellen in einer immer zahlreicher werdenden Literatur haben erarbeitet werden können, eine systematische Zusammenschau zu bieten, die nicht nur einen bestimmten Zeitraum (2. Jh. v. Chr.) unter einem übergreifenden Gesichtspunkt (Kultur) erhellt, sondern ganz bewußt und sachlich richtig eine Gestalt in den Mittelpunkt rückt (Jesus Sirach), die von dieser Zeit geprägt ist, aber auch selbst prägend hat wirken wollen.

Die Vfn. geht dabei in begründeter Weise Schritt um Schritt vor und kann dadurch ein fundiertes und abgerundetes Gesamtbild erreichen. Die Untersuchung beginnt bei einer knappen und treffenden Behandlung der literarischen und historischen Vorraussetzungen (Einführung, 1-25). Am Ende dieses Arbeitsschrittes steht die Begründung und Formulierung der gestellten Aufgabe. Sie wird darin gesehen, daß unter Kultur nicht nur einzelne Aspekte zu begreifen seien, wie dies in früheren Untersuchungen, die vorgeführt werden, gehandhabt wurde, sondern der ganze Komplex anthropologischer Bezüge bis hin zur Frage nach dem Verhältnis von Kultur und Religion mit zu berücksichtigen sei. Diese Aufgabenstellung wird in intensiver Weise vorgetragen (besonders 20-25).

Ein I. Teil will die "Rahmenbedingungen der Kultur Sirachs" vorführen (26-82). Hierbei handelt es sich aber keineswegs nur um äußere, nicht zum Bild gehörende Themen, sondern eher um die Grundlagen, wie sogleich durch die Unterteile sichtbar wird. Die Abfolge der Themen entspricht dabei in wesentlichen Zügen dem Aufbau des Buches Ben Sira, der von der kleinsten soziologischen Einheit (der Familie) ausgeht und von daher die Kreise des Lebens in der Gesellschaft immer weiter ausdehnt: Kapitel 1: "Familie" (26-36); Kapitel 2: "Arbeit und Beruf" (37-48); Kapitel 3: "Gesellschaft" (49-69); Kapitel 4: "Politik und Staat" (70-74); Kapitel 5: "Recht" (75-82). In systematischer Weise werden die einzelnen Aspekte abgehandelt und durch reichliche Benutzung der Quellen im Sirach-Buch belegt. Es dürfte dabei klar zum Ausdruck gebracht worden sein, daß der agrarökonomische Hintergrund überall noch zu erkennen ist, daß aber in allen Bereichen die städtische Kultur bereits Platz ergriffen hat: "Die Stadt ist in der Tat der kulturelle Lebensraum Ben Siras" (48).

In Teil II behandelt die Vfn. "Aspekte der Kultur Sirachs" (83-247). Sie sieht sich dabei folgenden Aufgaben gegenübergestellt: Unter A geht es darum, die "Aspekte der Kultur als hervorbringende Kraft" darzustellen (83-173). Sie versteht darunter die "Materielle Kultur" (Kapitel 6: 82-101), wobei auf den natürlichen Umkreis des Lebensraumes des Menschen von der Kleidung angefangen bis hin zu Zeichen des Luxus eingegangen wird, ferner die "Sitten und Gebräuche" (Kapitel 7: 102-119), "Kunst und Musik" (Kapitel 8: 120-135) und "Sprache und Literatur" (Kapitel 9: 136-173). Auch dieser Teil ist wie der vorhergehende getragen und erfüllt von vielen Einzelaspekten, die ein reiches und differenziertes Bild erstehen lassen, belegt durch eine erschöpfende Fülle von Zitaten aus dem Buche Ben Sira.

Ein weiterer Schritt der Konzentration wird in Teil B "Aspekte der Kultur als innerer Kultivierung" getan (174-247). Zwei Kapitel werden dieser Darstellung gewidmet: "Erziehung und Bildung" (10: 174-200) und "Seelenleitung" (11: 201-247).

Die Nachzeichnung der Gliederung wurde hier bewußt vollzogen, um dabei deutlich werden zu lassen, mit welch klarer und logischer Konsequenz die Thematik angegangen und entfaltet wird. Es könnte des weiteren mühelos aufgezeigt werden, wie umsichtig und gleichzeitig weit umspannend die Vfn. den Begriff "Kultur" versteht und interpretiert. Um nur einige Themen aus dem letzten Kapitel zu nennen: nefesch und leb; die Affekte; die Haltungen; die Formkräfte der Affekte und Haltungen und die bleibenden Gefühle. Am Ende wird versucht, den Typus der idealen Seelenbildung, der Sirachs Bemühen gilt, zu umreißen (246 f.). "Die Unerschütterlichkeit des Weisen ist das Ergebnis seiner seelischen Bildung" (246) und "die Tiefen der Seele religiös-intellektuell/erotisch-ästhetisch [werden] ausgefüllt: mit dem Lobe Gottes mit Hilfe der Weisheit und mit der Liebe zur Weisheit selbst" (247).

Nun ist für die Vfn. der Grund gelegt für die Frage nach "Religion und Kultur" (Teil III: 248-293). Auch hier ist noch einmal eine umsichtige und vom äußeren zum inneren fortschreitende Vorgangsweise festzustellen. Diese wird begründet (248 f.) und in drei Kapiteln exekutiert: "Das Verhältnis von Religion und Kultur" (12: 250-255) fragt begrüßenswert weit gefaßt nach den Bedingungen der allgemeinen Religionswissenschaft, "Sirachs Religion" (13: 256-286) und "Religion und Kultur bei Sirach" (14: 287-293).

In zusammenfassender Weise werden alle vorher erarbeiteten Einzelaspekte aufgegriffen und zum Abschluß gebracht: "Die Einwirkung der religiösen Kraft der Weisheit entbindet den Menschen nicht von der kulturellen Arbeit der Erziehung der Psyche. Erzogen und gebildet wird jener nicht häufige Typus des kultivierten frommen Weisen, dessen Vervollkommnung Sirachs Leben gewidmet ist" (293).

Ein Schlußteil (294-302) zieht noch einige Konsequenzen aus den gewonnenen Ergebnissen und stellt sie in den größeren Zusammenhang der Geschichte, in der Ben Sira lebte und wirkte. Dabei bleibt auch das Problematische der Haltung Ben Siras nicht unausgesprochen: Seine Lehre ging letztlich an den realen Bedingungen des politischen Lebens im Jerusalem der hellenistischen Zeit vorbei: Sie war "nur noch ein Traum" (299). In einigen markanten Thesen und Sätzen wird diese Sicht auf die folgende makkabäische, pharisäische und neutestamentliche Zeit ausgeweitet (301 f.). Abkürzungsverzeichnis (303 f.) und Literaturverzeichnis (305-318) schließen das umfassende Werk ab.

Der Themenstellung und dem Gesamtentwurf ist voll zuzustimmen. Mit großer Sachkenntnis und Akribie wird der Stoff aufgearbeitet und zu einem Abschluß gebracht, der überzeugt. In Einzelfragen wären Diskussionen möglich. Sie hängen aber ab von den gegebenen Interpretationsmöglichkeiten verschiedener Texte Ben Siras. So hielte es der Rez. für möglich, daß Ben Sira eine größere Nähe zum Priesteramt gehabt hat, als dies die Vfn. anzunehmen gewillt ist (297). Ob ferner Ben Sira in der Tat so wirkungslos blieb angesichts der politischen Entwicklung seiner Zeit, könnte gefragt werden. In der langen Ge-schichte des Judentums hat sich immer wieder herausgestellt, daß das Beharren bei den vorgegebenen Traditionen für das Judentum selbst eminente politische Auswirkungen hatte.