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Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

742-744

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Orthmann, Winfried, Hempelmann, R., Klein, H., Kühne, C., Novak, M., Pruß, A., Vila, E., Weicken, H.-M., u. A. Wener

Titel/Untertitel:

Ausgrabungen in Tell Chue-ra in Nordost-Syrien. I: Vorbericht über die Grabungskampagnen 1986 bis 1992.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 2005 (Saarbrücken: Saarbrücker Druckerei und Verlag 1995). 324 S. m. zahlr. Abb. u. Tab., 34 Taf. m. Abb., 22 Beilagen. 4° = Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung, 2/1. Lw. EUR 21,40. ISBN 978-3-447-05105-7.

Rezensent:

Hermann Michael Niemann

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Meyer, Jan-Waalke [Hrsg.]:Ausgrabungen auf dem Tell Chue-ra in Nordost-Syrien. II: Vorbericht zu den Grabungskampagnen 1998 bis 2005. M. Beiträgen v. J.-W. Meyer, R. Hempelmann, Ch. Falb, B. Weninger, R. Neef, E. Vila u. J. Wahl. Wiesbaden: Harrassowitz 2010. 320 S. m. zahlr. Abb. u. Tab., 3 Beilagen. 4° = Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung, 2/2. Lw. EUR 58,00. ISBN 978-3-447-06182-7.


Der nordsyrische Ausgrabungsort Tell Chue-ra liegt zwischen den Flüssen Balich und Chabur nahe der türkischen Grenze westlich der bekannten Ruinenstätten Tell Halaf und Tell Fecherije. Die Siedlung hat ihren ersten Höhepunkt im 3. Jt. v. Chr. und einen zweiten, bescheideneren am Ende der Spätbronzezeit im 15. (?)/ 14.–12. Jh. v. Chr. erlebt. Damit sind wir noch zwei Jahrhunderte entfernt von der Zeit, in der auf den – im direkten und übertragenen Sinn – Trümmern der Spätbronzezeit im 10. Jh. im zentralpalästinischen Bergland neue Orte der Eisenzeit entstanden und Gruppen zusammenwuchsen, die wir als Israel und Juda kennen.
Aus der Sicht der Bibel bildet der Blick auf Tell Chuēra einen Rück­blick ins »Altertum«. Hätte ein Bewohner aus dem zwei bis vier ha kleinen Jerusalem des 10. Jh.s, der Zeit Davids und Salomos, den damals bereits seit Langem verlassenen Tell Chue-ra besuchen können, wäre er von dem riesigen Ausmaß der Stadt im 3. Jt. v. Chr. mit 65 ha im Vergleich zum Bergstädtchen Jerusalem wahrscheinlich tief beeindruckt gewesen (vgl. Jona 4,11). Vielleicht hätte der Grundriss eines der Tempel in der Oberstadt von Tell Chue-ra den Besucher an den Jerusalemer Tempel erinnert, der einem nordsyrischen Tempeltyp angehört. Tell Chue-ra, ein Ort in weiter Ebene gelegen mit der Möglichkeit des Regenfeldbaus im Winter und guter Viehweide im Sommer, war von gigantischer Größe, ein Ortstyp, den ein bib­-lischer Schriftsteller aus dem kleinräumig-engen Bergland Israels und Judas mit seiner geringen Bevölkerungsdichte und den bescheidenen wirtschaftlichen Möglichkeiten vielleicht in Dtn 9,1 vor dem inneren Auge sah, ein Ort einer Größenordnung, den Israeliten oder Judäer annähernd in den zeitweise stattlichen Philisterstädten westlich ihres Berglandes an der Mittelmeerküste kennenlernen konnten, wenn sie jemals dorthin gelangten. Jerusalem erreichte in der Königszeit nur im 7. Jh. eine Größe von ca. 50 ha.
Tell Chue-ra ist eine topfkuchenartig geformte kreisrunde Siedlung. Die Unterstadt, die ein Drittel der Gesamtfläche (22 ha) ausmacht, mit dichtgedrängten Häusern und geplantem, radialem Straßennetz, das sich in der Oberstadt fortsetzte, besitzt einen durch (Hügel und) Befestigungen erhöhten Außenrand. Der Entdecker des Ortes, der Tell Halaf-Ausgräber Max von Oppenheim, benannte diesen in der Region häufiger vertretenen Ortstyp als »Kranzhügel«. In der Mitte erhob sich die Oberstadt mindestens 1 4m über die Unterstadt. Die mehreren tausend ausgegrabenen und erschließbaren Häuser haben durchschnittlich ca. 12 x 14 m Fläche inkl. Innenhof und Entwässerungsrinnen auf die Straße (vgl. u. a. 1995, 95–120). Hervorzuheben sind in der Oberstadt mindestens drei (oder vier) massive Bauten auf Steinfundamenten, auf denen sich Lehmziegelmauerwerk erhob. Ein Palast F (ca. 60 x 70 m, ca. 2300 v. Chr.) im Westen der Oberstadt könnte durch eine 6 m dicke Außenmauer zugleich auf die Umfassungsmauer der Oberstadt deuten (vgl. 1995, 121–172). Daneben fand sich ein Tempel im Norden der Oberstadt, ein Beispiel des »Nordsyrischen Tempeltyps« mit rechteckiger Cella. Ein weiterer Tempel (sog. »Steinbau III«) mit stattlicher steinerner Zugangstreppe stand wohl auf einer Terrasse. Ein kleiner Tempel enthielt steinerne Beterstatuetten, die auf sumerischen Einfluss aus dem Süden Mesopotamiens deuten. Neben diesen stattlichen Funden nehmen sich die Funde der zweiten Haupt-, der mittelassyrischen Periode auf der Oberstadt viel bescheidener aus (vgl. u. a. 1995, 185–201). In zwei Siedlungsphasen im Norden der Oberstadt fand sich u. a. ein befestigtes Gebäude, das möglicherweise als Sitz eines assyrischen Gouverneurs im 13. Jh. v. Chr. diente, worauf auch ein kleines Keilschriftarchiv (1995, 203–225) deutet.
Tell Chue-ra hat neben den architektonischen Ergebnissen u. a. auch Siegel-, Statuetten- und Bronzefunde geliefert; die Keramik wurde umfassend und systematisch dokumentiert. Nach dem Entdecker M. von Oppenheim (1911–13) und ersten Grabungen in den 50er Jahren waren hier vor allem Anton Moortgat und Ursula Moortgat-Correns tätig. 1986 übernahm Winfried Orthmann die Leitung bis 1998, die seitdem Jan-Waalke Meyer innehat.
Nur wer selbst eine archäologische Ausgrabung organisiert, durchgeführt und publiziert hat, kann die immense Arbeit ermessen, die in den beiden stattlichen Bänden steckt, die mit Abbildungen, Tafeln und Tabellen reich ausgestattet sind. Von der Einwerbung der hohen Kosten über die Organisation und Durchführung bis zur Koordination der Publikation mit zahlreichen Mitarbeitern ist es ein weiter, buchstäblich doppelt steiniger Weg. Die Leiter und Herausgeber haben Beachtliches geleistet. Schon die zeitnahe Veröffentlichung verdient Lob, da leider nicht wenige Grabungen erst viele Jahre oder Jahrzehnte später veröffentlicht werden, wenn überhaupt. Zwar ist dies ein weiterer Vorbericht und keine Endpublikation, aber ein beachtlicher Schritt vorwärts.
Neben den zahlreichen speziellen Kapiteln beider Bände liegt ein Spezifikum des Bandes von 2010 darin, dass neben Berichten über die Freilegung von Siedlungsflächen z. B. die Struktur und Funktion der Siedlung genauer geprüft wurde. So hat Jan-W. Meyer reich illustrierte »Überlegungen zur Siedlungsstruktur« (2010, 199–221) angestellt. Auch hat er eine gut orientierende »Einordnung von Tell Chuēra in die politisch-historische Entwicklung Nordost­syriens im 3. Jt. v. Chr.« (2010, 11–34, mit Forschungsgeschichte, historisch- kulturellen Rahmenbedingungen, Kartenabbildungen und Stratigraphie­tabelle sowie chronologischer Ver­gleichs-Tabelle) geliefert. Daneben stehen Kapitel, die mit na­turwissenschaftlichen Methoden (C14-Analysen) absolute Datierungen für Knochen und Schichten vorschlagen.
Wer in die Lebenswelt, die Kultur der Bibel eintauchen will, kann hier bei der Lektüre ahnen, wie nach Assyrien und Babylonien deportierte Israeliten und Judäer es empfunden haben mögen, aus einem abgelegenen und bescheidenen Bergland in Zentren damaliger Kultur am Euphrat versetzt zu werden, zwischen dessen Nebenflüssen Balich und Chabur Tell Chue-ra liegt. Und man kann verstehen, dass wohl eine Mehrzahl der Exil-Judäer mehr oder weniger freiwillig in dieser politisch und wirtschaftlich zentralen Region blieb, statt ins zerstörte Jerusalem zurückzukehren.