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Ausgabe:

Juni/2011

Spalte:

702-705

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Rothgangel, Martin, u. Bernd Schröder [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Evangelischer Religionsunterricht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Empirische Daten – Kontexte – Entwicklungen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2009. 388 S. m. Abb. u. Tab. 8°. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-374-02674-6.

Rezensent:

David Käbisch

Der Religionsunterricht steht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland vor unterschiedlichen Herausforderungen. So wirken sich Migration und Entkirchlichung im Rhein-Main-Gebiet an­ders aus als in ländlichen Gebieten, das religiöse Leben ist in Norddeutschland schwächer ausgeprägt als im Süden, und Bremen, Berlin, Hamburg und Brandenburg haben konzeptionelle Leitbilder entwickelt, die in anderen Ländern auf Kritik stoßen. Die Einführung einheitlicher Bildungsstandards, die seit einigen Jahren die bildungspolitische Diskussion bestimmt, steht damit vor dem Problem, vereinheitlichen zu wollen, was aus mentalitätsgeschichtlichen, religionssoziologischen und bildungspolitischen Gründen stärker differenziert werden müsste.
In dieser schwierigen Diskussion kommt Martin Rothgangel und Bernd Schröder das Verdienst zu, dem Anliegen einer regionalen Religionsdidaktik neues Gehör zu verschaffen. Der von ihnen herausgegebene Sammelband bietet dafür insbesondere empirische Daten, bildungspolitische Kontexte und konzeptionelle Entwicklungen zu den einzelnen Bundesländern. Die 16 Beiträge, die Fachvertreter des jeweiligen Landes bereits 2006 und 2007 auf dem Internetportal »theo- web.de« veröffentlicht hatten, wurden für die Drucklegung aktualisiert und zum Teil erweitert. Die Artikel, die an einer gemeinsamen Themenliste orientiert sind, ermöglichen dem Leser, gezielt nach regionalen Besonderheiten (z. B. der Schulpolitik, dem Katholischen Religionsunterricht und der Religionslehrerbildung) zu fragen. Rothgangels Zusammenfassung benennt schließlich wichtige Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Es liegt damit ein hilfreiches Nachschlagewerk für alle vor, die in Universität, Schule, Kirche und Politik über den ›Tellerrand‹ des eigenen Bundeslandes hinausschauen wollen.
Die Einzelbeiträge beschreiben und bewerten, was bei 22 Autoren keine Überraschung ist, die »Schulpolitik der Länder und der jeweiligen Landeskirchen« (so der erste Themenschwerpunkt) aus unterschiedlichen Perspektiven. Während Jürgen Lott und Anita Schröder-Klein die Bremer Diskussion seit den Unionsbemühungen Ende des 18. Jh.s skizzieren, um die sog. Bremer Klausel (Art. 141 GG) und den Sonderweg eines bekenntnismäßig nicht gebundenen Unterrichts »auf allgemein christlicher Grundlage« (Art. 32 BLV) verständlich zu machen, beschränken sich Folkert Doedens und Wolfram Weiße auf die (im Jahr 2009 noch aktuellen) Hamburger Debatten um eine Verlängerung der Primarzeit auf sechs und eine Verkürzung der gymnasialen Schulzeit auf acht Jahre. In historischer und tagespolitischer Perspektive wird hier und in anderen Beiträgen deutlich, wie sich allgemeine Schulreformen auf den Religionsunterricht auswirken.
Bei den anschließenden »Beobachtungen zur Praxis des evangelischen Religionsunterrichts« fällt auf, dass einige Autoren auf differenzierte empirische Daten u. a. zur Berufsmotivation der Lehrenden und den Teilnahmemotiven der Schüler zurückgreifen können (z. B. Helmut Hanisch für Sachsen und Michael Wermke für Thüringen), während andere die »Praxis« des evangelischen Religionsunterrichts anhand rechtlicher und curricularer Vorgaben darstellen. Gleichwohl kann sich der Leser einen sehr guten Überblick zu einzelnen Praxisfragen verschaffen, so zur Mindestzahl an Schülern (von fünf im Saarland bis elf in Niedersachsen), zu den regulären Wochenstunden (mehrheitlich zweistündig, nur in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern einstündig) und zum möglichen bzw. tatsächlichen Einsatz kirchlicher Mitarbeiter.
Die Anmerkungen zum katholischen Religionsunterricht und »zum Stand der ökumenischen Zusammenarbeit« in Baden-Württemberg zeichnen sich dadurch aus, dass Bernhard Grümme und Manfred L. Pirner auf Kooperationsverträge für gemischt-konfessionelle Lerngruppen (in der Regel für zwei Schuljahre) und entsprechende Evaluationsberichte zurückgreifen können. Der Artikel ist dabei selbst Ausdruck ökumenischer Zusammenarbeit, da die Verfasser – im Unterschied zu den fünf anderen Autorenpaaren– das Fach an einer katholischen bzw. evangelischen Einrichtung vertreten. Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht ohne offizielle Ko­operationsverträge findet nach Auskunft des Handbuches auch in Rheinland-Pfalz, Saarland und Schleswig-Holstein statt, und Sondergenehmigungen bestehen u. a. für die Grundschulen in Niedersachen und für Berufsschulen in Bayern. Die vielfältigen Kooperationsmöglichkeiten dürften vor allem für Länder interessant sein, in denen der katholische Religionsunterricht aufgrund geringer Schülerzahlen in Gemeinderäumen stattfindet und damit kaum noch als ordentliches Lehrfach erkennbar ist (so vielfach in Sachsen).
Bei keinem anderen Thema fallen regionale Unterschiede und das Fehlen verlässlicher Daten so sehr auf wie bei Schulandachten, Gottesdiensten, Bibelkreisen, Schulseelsorge und Ganztagsangeboten. Das »religiöse Schulleben« wird vor allem in Ostdeutschland »weitgehend ausgeblendet« (so Michael Domsgen für Sachsen-Anhalt, 317), führt zu »Polarisierungen« in der Lehrerschaft (so Michael Wermke für Thüringen, 342) und ist außerhalb konfessioneller Schulen »allenfalls in Ansätzen« erkennbar (so Helmut Hanisch für Sachsen, 369). Dass hier und in anderen Bundesländern kaum empirische Daten vorliegen, hängt aber auch damit zusammen, dass die Religionspädagogik lange Zeit auf den schulischen Religionsunterricht fixiert war. So gesehen ist der Sammelband mehr als eine Bestandsaufnahme, da wichtige Forschungsfelder einer lernortübergreifenden Religionspädagogik erschlossen werden.
Neben den bisher genannten Themenschwerpunkten bietet der Sammelband weiterführende Informationen zu den »Parallelfächern« Ethik und Philosophie, zum islamischem, jüdischen und orthodoxen Religionsunterricht, ferner zu Schulen in evangelischer und katholischer Trägerschaft, zur länderspezifischen Ausbildung von Religionslehrkräften, zu den konzeptionellen »Be­sonderheiten der Religionspädagogik« und den regionalen »Herausforderungen für die religionspädagogische Theoriebildung«. Im Detail finden sich dabei viele interessante Auskünfte etwa zur Vokationspraxis, zur Konfessionslosigkeit oder zu außerschulischen Projekten. Leider fehlt ein Sachregister, um die vielen Sub-Themen aufschlüsseln und gezielt suchen zu können, was jedoch in einer wünschenswerten, aktualisierten Zweitauflage nachgeholt werden könnte.
Stärker als bei anderen Themen wird bei den konzeptionellen Besonderheiten deutlich, dass die Beiträge nicht nur Bestandsaufnahmen, sondern auch Apologien des jeweils eingeschlagenen Weges sind, was der legitimen Eigenlogik von Selbstdarstellungen entspricht. Darüber hinaus kann, worauf die meisten Autoren hinweisen, innerhalb der Flächenländer nicht von einheitlichen Voraussetzungen ausgegangen werden, da (abgesehen von Bayern) die Grenzen der Landeskirchen nicht mit denen der Bundeslän-der identisch sind, innerhalb der Bundesländer regionale Milieuunterschiede bestehen und die Hochschulen eines Landes verschiedene Profile vertreten können. Als Beispiel sei der Beitrag von Martin Sander-Gaiser hervorgehoben, da er die Unterschiede zwischen Nord- und Südhessen (bzw. EKKW und EKHN) anschaulich herausarbeitet und das religionspädagogische Spektrum von Kassel (Kindertheologie) über Marburg (Bildungstheorie) bis Frankfurt und Gießen (Phänomenologie und Kulturhermeneutik) be­nennt.
Ländervergleichende Studien sind mehr als eine ›religionspädagogische Landeskunde‹. Sie verlangen, was den Autoren und Herausgebern bewusst sein dürfte, ein hohes Maß an Kooperation und Koordination, das über die Vorgabe einer Themenliste und das Nebeneinanderstellen von länderbezogenen Selbstdarstellungen hinausgeht. Das Handbuch, das keine komparative Studie im engeren Sinn sein will, sollte daher von seinem eigenen Anspruch her nicht an den methodischen Standards gemessen werden, wie sie Bernd Schröder in seinen ländervergleichenden Studien (zu Israel und Frankreich) vorgelegt hat. Grundsätzlich lässt sich jedoch sagen, dass die Bildungsforschung nicht nur im internationalen, sondern auch im nationalen Vergleich davon profitieren dürfte, wenn Fragen religiöser Bildung stärker in unterschiedlichen mentalitätsgeschichtlichen, religionssoziologischen und bildungspolitischen Kontexten analysiert werden. Zu den wichtigsten Fragen gehören dabei, wie Rothgangel in seiner Zusammenfassung herausstellt, die Etablierung eines islamischen Religionsunterrichts, die Gestaltung eines religiösen Schullebens, die Errichtung konfessioneller Schulen und die Etablierung von Bildungsangeboten für Konfessionslose.
Das Nachschlagewerk führt damit eindrücklich vor, wie diese (und weitere) Entwicklungsaufgaben im regionalen Kontext dis­kutiert werden müssen, um sie konsistent und verständlich vertreten zu können.