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Ausgabe:

Juni/2011

Spalte:

700-702

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Pithan, Annebelle, Arzt, Silvia, Jakobs, Monika, u. Thorsten Knauth [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gender – Religion – Bildung. Beiträge zu einer Religionspädagogik der Vielfalt. Eine Veröffentlichung des Comenius-Instituts.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2009. 464 S. m. Abb. gr.8°. Geb. EUR 39,95. ISBN 978-3-579-08093-2.

Rezensent:

Silke Leonhard

Was bedeutet es, pluralitätsbewusst auf geschlechtsspezifische Bedingungen und Perspektiven religiöser Bildung zu achten? Für das Comenius-Instituts hat das Team von A. Pithan, S. Arzt, M. Jakobs und T. Knauth einen gelb-bunt leuchtenden Sammelband mit Beiträgen zu einer Religionspädagogik der Vielfalt herausgegeben, der diese Frage im Interesse von Bildungsgerechtigkeit in zahlreichen Schattierungen erhellt. Prägend in aller Vielstimmigkeit ist ein deutlicher forschungskonzeptioneller Grundtenor, leitend ist eine Orientierungsperspektive an »Chancengleichheit in der Bildung« und »Gerechtigkeit von Lebenschancen« (21). Diese findet in A. Prengels Pädagogik der Vielfalt, einem biblisch be­gründeten Gerechtigkeitsverständnis und einer Kultur der »Anerkennung« (gemäß A. Honneth) eine ihr entsprechende Normativität dafür, ein »emanzipatorisches Konzept von Verschiedenheit für die Verwirklichung von Bildungsgerechtigkeit« im Sinne »egalitärer Differenz« (12) auf den Weg zu bringen. Pluralität und Heterogenität bilden die in der Heterogenitätsdiskussion verortete Perspektive, unter der Genderfragen dargestellt werden. Eine interkonfessionelle Anlage in interner Diversität ist unter solch gegebenen Umständen selbstverständlich; angesichts der in religiöser Hinsicht faktisch weiteren Heterogenitätsspanne wäre auch der intensivere Einbezug andersreligiöser Perspektiven durchaus passend.
Die Fokussierung auf Gender ergibt sich aus der Reflexion kultureller Differenzen, die – im Problembewusstsein für die Spannen zwischen Dramatisierung und Entdramatisierung – generell als Ressource begriffen werden. Die Aufmerksamkeit der Lesenden wird darin geschärft, die Dialektik aus Geschlechtsabhängigkeit und dem Potential der Dekonstruktion zu sensibilisieren und den Zusammenhang von Religion und Bildung auf Geschlechtergerechtigkeit hin zu orientieren. Dem in der Religionspädagogik be­reits etablierten Paradigma der ›Heterogenität‹ werden dazu zwei weitere Leitbegriffe aus der Interkulturalitätsdebatte zur Seite ge­stellt. Die Kategorie ›Diversity‹ sichert die unverwechselbare individuelle Personalität; die Wahrnehmung von Differenzen schließt daher in jedem Fall kritische Analysen von Machtverhältnissen ein. Mit ›Intersektionalität‹ ist eine methodologische Prämisse be­nannt, welche die Komplexität der Zusammenhänge von Ge­schlecht und anderen Faktoren zu erheben sucht (22).
Der Aufbau wirkt wie die Partitur eines musikalischen Werkes, das sich vielstimmig mit Genderfragen befasst. Ausgehend von einer ouvertürenartigen Einführung in den Zusammenhang von Gender, Religionspädagogik und Pluralität werden in den folgenden sechs interdisziplinär angelegten Teilen die Klaviaturen verschiedenster theoretischer Bereiche zwischen Pädagogik, Theologie, Sozial- und Kulturwissenschaft angeschlagen. Die 27 Autorinnen und acht Autoren stehen in den 36 Artikeln als theoretische und praktische Experten dafür Pate, dass die Thematik in verschiedenen religionspädagogischen Bildungsfeldern, vor allem in Wissenschaft, Schule, Kirche, Erwachsenenbildung, Medien, durchgespielt wird.
In den »Grundlagen« wird ein topologischer Diskursüberblick entfaltet; er zeigt die Weite des Genderthemas hinsichtlich der neueren Perspektiven zu religionspädagogischer Jungenforschung (Knauth), Identität (Büchel-Thalmaier) sowie Interreligiosität (Mehl­horn) auf und verankert ihn ethisch in den Topoi ›Gebürtigkeit‹ und ›Bezogenheit‹ (Praetorius). Historiographische »Rückbli-cke« in Gender- und Heterogenitätsforschung (Pithan) gewähren die Wahrnehmung von Unentdecktem und kritische Analyse von Dualismen, um differenzierte Bildungsgeschichte schreiben zu können. Dies wird an drei Beispielen unterschiedlicher Epochen einleuchtend verdeutlicht. Von der Geschichte in die Gegenwart entfalten sich in der Mitte des Buches thematisch äußerst unterschiedliche Bereiche einer Phänomenologie kontextuell verbundener Glaubensperspektiven und Lebenswelten zu »Glaubenswelten«. Neben Einblicken in männliches Leben ( Krondorfer; Volz) sind für mich vor allem sozialisatorische Erkenntnisse zu genderspezifischen Gottesvorstellungen (Lehmann) als Folie für eine diesbezügliche geschlechterbewusste Arbeit einprägsam, welche das »vordergründig Vertraute« (Lehner/Lehner-Hartmann, 205) hinterfragt. Dies führt zu einer an Didaktik orientierten Zuspitzung in den »Lebenstexten«.
In unterschiedlichen Perspektiven wird hier auf das Verhältnis von Gender und Bibelrezeption aufmerksam gemacht. Performa­tive Zuschreibungen von Gender und biolo­gischer Genderzugehörigkeit ermahnen zu einer bezüglich Entwick­lung, Geschlecht und Sitz im Leben situationsdifferenzierenden Rezeption (Arzt) und einer befreienden Bibeldidaktik (Wischer), lenken den Blick aber zu Recht auch auf biblische Übertragungen, in denen sich Genderperspektiven in biblische Texte einschreiben (Bottigheimer; Schiffner). Einen für eine gendersensible Praxistheorie entscheidenden Höhepunkt bildet der Part »Bildungsorte«, an dem religionspädagogische Handlungsfelder – ich vermisse hier den Einbezug des Konfirmandenunterrichts – an unterschiedlichen Aspekten auf ihr Potential kritisch-produktiv in den Blick genommen werden. Voraussetzung für Geschlechtergerechtigkeit im Kindergarten ist eine detaillierte Situationsbeschreibung vor Ort (Habringer-Hagleitner). Die Thematisierung jugendbezogener ka­tholischer Bildungsarbeit deckt blinde Flecken innerhalb einer Lebenswelt auf (Berger). Mit Schulbuchforschung wird die fehlende theologisch elementare Transzendierung ausschließlicher Alltagsorientierung in einem Religionslehrwerk sichtbar (Baumann). Zwei Beiträge nehmen die Wei­terentwicklung von Institutionen fruchtbar in den Blick: Strutzenberger stellt eine befreiungstheologisch motivierte, geschlechter­demokratisch gestaltete Schule in Aussicht, Rieger-Goertz fordert dazu auf, ›Gender‹ als eine in der kirchlichen Erwachsenenarbeit mitlaufende Perspektive zuzulassen und spezifische biographische Begleitung als entsprechende Aufgabe wahrzunehmen. Eine essenzielle normative Zuspitzung erfährt dieser Teil durch Söderbloms Position zur Akzeptanz des Anderen angesichts von Homo- und Bisexualität. Hier wird an einer ethischen Konkretion und in unterrichtlicher Impulsgebung deutlich, dass und wie Fremdheit Kontakt mit und Annahme von Andersheit bedeutet – das berührt letztlich auch konfessionelle Diversität.
Die Initiativen und Erfahrungen aus der Praxis-»Werkstatt« führen der Anlage des Werkes folgend nicht zu einem zusammenfassenden Fine, sondern vielmehr zu einem bewusst fragmentarisch-offenen Schluss, der zur je eigenen Fortsetzung geschlechtsbezogener religionspädagogischer Praxis und ihrer Reflexion ermutigen will. Im Anklingen eines professionsorientierten Ausblicks wird mit Beckers Maßgabe des »gendersensiblen Agierens« (397) deutlich: Es gibt noch etliches zu tun und zu überlegen auf dem Weg zur Bildungsgerechtigkeit.
Das Arrangement des Gesamtwerkes schlägt einen Spannungsbogen von grundlagentheoretischen Bezügen bis zu Praxisimpulsen. Die Gestaltungsprinzipien der einzelnen Artikel – je orientiert am Fokus sowie am Stil der einzelnen Autoren und Autorinnen – fallen sehr heterogen aus, empirische Untersuchungen müssen sich in gebotener Kürze auf die Vorstellung der Ergebnisse be­schränken. Trotzdem: In seiner Breite und Fülle der Perspektiven gewährt es ein längst erhofftes Nachschlagewerk in der Form eines Handbuchs zu einer genderreflektierenden Religionspädagogik, die auch Anläufe macht, Männer- und Jungenfragen aufzugreifen. Das präzise Namen- und Stichwortregister ist für die Recherche hilfreich. Der Polyphonie von Perspektiven und methodischen Zugangsweisen entspricht eine konzeptionelle und normative Klarheit. Im Sinne einer nicht naiven, reflexiven Wertschätzung von Heterogenität wird hier weitaus mehr als gendervergleichende Arbeit geleistet, die zu Balancierungen zwischen Rekonstruktion, Konstruktion und Dekonstruktion von Gender beiträgt. Für den thematischen Zusammenhang ist es fruchtbar, dass Theorie und Praxis vor dem interdisziplinären Horizont zu Meilensteinen einer Praxistheorie verbunden werden. Eine wünschenswerte Er­gänzung läge sicher in einer professionsbezogenen Reflexion von Genderaspekten, vor allem in den Berufen Religionslehrer und Pfarrer.
Ergo: Für die Theologie und Religionspädagogik ein gewichtiges und gewinnbringendes Werk in stilvoller Komposition mit gleichzeitigem Impuls zu kreativer Ausarbeitung einzelner thematischer Bereiche.