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Ausgabe:

Juni/2011

Spalte:

695-697

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Kliss, Oliver

Titel/Untertitel:

Das Spiel als bildungstheorethische Dimension der Religionspädagogik.

Verlag:

Göttingen V & R unipress 2009. 420 S. gr.8° = Arbeiten zur Religionspädagogik, 38. Geb. EUR 53,90. ISBN 978-3-89971-499-9.

Rezensent:

Thomas Klie

Eine religionspädagogische Bildungstheorie des Spiels ist ein lange gehegtes Desiderat. Dass Kinder spielen, dass sie dabei unter Um­ständen etwas lernen und dass ihnen dies in aller Regel Freude bereitet, hat bislang in der Religionspädagogik mit Ausnahme des Performativen Ansatzes allenfalls methodische Funktionalisierungen hervorgebracht. In der hier vorliegenden Tübinger Habilitationsschrift von Oliver Kliss geht es nun darum, eine »theologische Theorie des guten Spiels« im Kontext einer pädagogischen Ethik zu entwickeln. Der Vf. greift also weit aus und setzt hoch an. Eine wichtige Weichenstellung markiert dabei die Entscheidung, das Spielphänomen einer Idee des Guten unterzuordnen und es nicht in seiner Darstellungsfunktion zu begreifen. Es soll also eine ludische Ethik, keine inszenatorische Ästhetik entfaltet werden. Die Wirkungslogik des Spiels lässt eine solche Position durchaus zu. Sie ist jedoch nur insofern vor interessegeleiteten Verzerrungen ge­schützt, wenn die Spielästhetik theoretisch mitgeführt und nicht systematisch ausgeblendet wird.
Der Vf. versteht das »gute Spiel« als einen Vorgang, »der in besonderer Weise geeignet ist, theologisch relevante Inhalte in Bildungsprozessen zu thematisieren« (39). »Gut« verdient es dann genannt zu werden, wenn »das Geschöpf sein Bewusstsein von der das Leben ermöglichenden Ordnung Gottes zur Darstellung bringt« (35 passim). Diese Definition hat weit reichende Konsequenzen, und sie trägt natürlich – ganz entgegen dem Selbstanspruch – den Gedanken einer methodischen Verzweckung in das Spielverständnis ein. Darf sich ein Spiel im Kontext religiösen Lernens also nicht mehr frei entfalten, um nicht seine moralische Rechtfertigung einzubüßen? Oder religionsdidaktisch: Können gar nur ethische Sujets die bildungstheoretische Dimension der spielenden Religionspädagogik plausibilisieren?
Geht man mit dieser kritischen Fragehaltung an den Aufriss und die thematische Entfaltung, so leuchten die Stationen der theologiegeschichtlichen Rekonstruktionen durchaus ein: Spiel in der Bibel (II.), Luther (III.), Comenius (IV.), Schleiermacher (V.), evangelische Ethik im 20. Jh. (VI.). Der Vf. will sich »auf die Gewinnung eines theologisch fundierten Standpunkts ... konzentrieren« (39) und dabei in den religionsdidaktischen Schlussfolgerungen (VII.) an das Spielverständnis von Hans Scheuerl als »pädagogische Referenztheorie« anknüpfen. Was also ein Spiel »eigentlich« meint, ist damit definiert; es umfasst die sechs Momente: Freiheit, innere Unendlichkeit, Scheinhaftigkeit, Ambivalenz, Geschlossenheit, Ge­genwärtigkeit.
Durchweg erhellend sind die semantischen Analysen der biblischen Befunde, wenn auch die Synopse aus hebräischen und griechischen Lexemen sowie den deutschen Übersetzungen hermeneutisch riskant ist. Identifiziert wird eine gewissermaßen protodidaktische ludische Grundfigur: »So wie die Freude über das Spiel der Weisheit als Vermittlung der göttlichen Ordnung Mensch und Gott verbindet, so wird der Mensch durch Tun und Reden Jesu an ein Erkennen des Reiches herangeführt. Durch den Glauben kann der Mensch aus den damit als Spiel angesprochenen Vorgängen etwas wie Gott erkennen.« (96)
Die normierende Kraft des erkenntnisleitenden Interesses bestimmt auch die folgenden Kapitel: Luthers »Spiel« als Ausdruck einer christologisch gefassten kindgemäßen Didaktik und als doppelte Chiffre für den deus absconditus wie für die Scheinhaftigkeit menschlichen Tuns (das musikalische Spiel bleibt leider unerwähnt), Comenius als erster Spielmethodiker und Protagonist einer schola ludens sowie Schleiermacher mit seiner pädagogischen Dialektik von Spiel und Übung bzw. Darstellung und Mitteilung. Im 6. Kapitel, das dem »Spiel in der evangelischen Ethik des 20. Jahrhunderts« gewidmet ist, macht sich der das ganze Buch dominierende ethische Reduktionismus des Spiels in besonderer Weise bemerkbar, denn die Geschichte des Spiels in der evange­lischen (und katholischen!) Liturgik wäre ja von mindestens gleicher Relevanz. Und so fällt der gesamte für die Praktische Theo­logie hochaktuelle Bereich des Performativen, wie er sich derzeit u. a. im Ritualdiskurs, in der Homiletik und in der theologischen Kulturhermeneutik abbildet, völlig unter den Tisch. Und damit bleiben folgerichtig auch die selbst für eine bildungstheoretische Sittenlehre des Spiels zentralen Kategorien »Form«, »Rolle«, »Regel«, »Szene«, »Dramaturgie« unterbestimmt. Dass diese Kategorien in der Heiligen Schrift, bei Luther und Comenius (anders bei Schleiermacher!) nicht als theologische reflektiert werden, heißt ja noch nicht, dass sie theologisch irrelevant sind. Der bewusste Verzicht auf einen systematischen Spielbegriff mindert hier einfach den Wert der – in sich durchaus stimmigen und facettenreichen – ideengeschichtlichen Rekonstruktionen. Und so ist die Tour d’Horizon durch die protestantische Ethik (Schlatter, Hermann, Barth, Moltmann, Thielicke, Trillhaas, Pannenberg, Rendtorff) in jedem Fall lesenswert und aufschlussreich. Allein – es fehlt ihr das ästhetische Komplement.
Das Fazit einer vom Spiel her gedachten religionspädagogischen Bildungstheorie fällt elementar aus: Das »theologisch gute Spiel« ist »dasjenige Spiel, das bildet« (341). Indem das Spiel modellhaft alle Formen sozialer und sachlicher Beziehungen abbildet, bietet es »Räume der Freiheit« (Schäfer), in denen sich die subjektive Weltwahrnehmung verwirklichen kann (356). Bildung wird hier im Gespräch mit Benner, Biehl und Nipkow verstanden als Subjektwerdung im Bewältigen ethischer »Schlüsselprobleme«. In der theologischen Rekonstruktion des Spielbegriffs gefunden e»Grund­muster« (Freiheit, Geschöpflichkeit, Person, Rechtfertigung) korrelieren Pädagogik und Theologie, Bildungstheorie und Religions­pädagogik. Es fällt dabei auf, dass an vielen Stellen »ethisch« und »theologisch« synonym verwendet werden. Das legt sich bei einer stark an der religiös bildenden Moral des Spiels interessierten Untersuchung nahe, aber kategorial sollten diese beiden Sinnsichten natürlich nicht verschliffen werden.
Mit einer pädagogischen Spieltheorie, die phänomenologisch in den 1950ern feststeckt (Scheuerl: 1954) und einem »pluralen« Bildungsbegriff, der sich unter Berufung auf Klafki an den kirchlichen Stilpräferenzen der frühen 1980er Jahre orientiert (sog. »konziliarer Prozess«), nimmt sich diese Untersuchung merkwürdig unzeit­-gemäß aus. Von bleibender Bedeutung ist jedoch das deutliche Bemühen, das Spiel nicht instrumentell als Teil einer kreativen Unterrichtstechnologie auszubeuten, sondern es als Ausdruck ge­schöpflicher Freiheit in den Resonanzraum einer Bildungstheorie einzutragen.