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Ausgabe:

Juni/2011

Spalte:

690-691

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Stoellger, Philipp

Titel/Untertitel:

Passivität aus Passion. Zur Problemgeschichte einer ›categoria non grata‹.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XIV, 546 S. gr.8° = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 56. Lw. EUR 109,00. ISBN 978-3-16-149170-2.

Rezensent:

Malte Dominik Krüger

Die systematisch-theologische Studie beruht auf einer an der Theo­logischen Fakultät der Universität Zürich im Jahr 2006 angenommenen Habilitationsschrift. Sie vertritt im Anschluss an eine traditionelle Dreiteilung der menschlichen Lebensdimensionen die These: Es ist das Pathos, aus dem Ethos und Logos hervorgehen, und dieses Pathos ereignet sich theologisch in der Passion Christi. Wie Philipp Stoellger unterstreicht, versteht sich dies auch theo­logisch nicht von selbst. Denn seit Kants kritischer Transzenden­talphilosophie gilt der Mensch zunehmend durch Aktivität und Freiheit bestimmt – und vergisst darüber leicht das grundlegende Widerfahrnis von Passivität, das etwa in Leiblichkeit, Leidenschaft, Leiden oder Liebe aufscheint. So geht es der Studie um das problemgeschichtliche Aufspüren und Verstehen der Kategorie der Passivität. Dies geschieht nach einer Einleitung (1–26) in fünf Teilen. Sie verbinden – gut lesbar und theoretisch anspruchsvoll – subtile Exegesen mit systematischen Überlegungen; Querverbindungen sind durch detaillierte Register erschlossen.
Zentral für den ersten Teil (27–93) ist – nach lexikalischen, topischen und biblischen Erwägungen zum griechischen Begriff des »Pathos« – die Auseinandersetzung mit Aristoteles, der die Passivität in seine Kategorientafel aufnimmt. Wie S. selbst notiert, vertritt er in Abweichung von arrivierten Aristoteles-Deutungen die Auffassung, Aristoteles bevorzuge die Möglichkeit vor der Wirklichkeit. Dies wird vor allem darin deutlich, wie S. die Hyle in ihrer Möglichkeitsdimension als Individuationsprinzip auslegt. In dieser Fluchtlinie wird verständlich, inwiefern nicht die Aktivität, sondern die Passivität bei Aristoteles grundlegend sein soll. Ethisch zeige sich dies bei Aristoteles auch darin, so S., dass das Pathos das unumgänglich Andere des Ethos ist. Dabei ordnet Aristoteles jedoch das Pathos letztlich in den Horizont von Ethos und Logos ein. Diese Eingrenzung des Pathos ist dann auch bei Augustin der Fall, wenn die Affekte der Ordnung Christi entsprechen, der als idealer Tugendlehrer erscheint.
Der zweite Teil (94–131) wendet sich Thomas von Aquin zu, der das Pathos weniger im Horizont von Ethos und Logos als vielmehr im Horizont von Logos und dessen Ethos deutet. So wird bei Thomas die Passivität des Menschen in der grundlegenden Aktivität des Logos fundiert. Auch in der Passion Christi bleibt letztlich die Aktivität des Logos bestimmend.
Der dritte Teil (132–213) geht dem Verständnis des Pathos in der deutschen Mystik nach. Bei Seuse und Tauler findet sich S. zufolge die passive Erfahrung des religiös ergreifenden Augen­-blicks, der kreativ wirken kann. Logos und Ethos scheinen so im Horizont des Pathos auf, dessen Urimpression die Passion Christi ist. Allerdings geht in der deutschen Mystik mit diesem Programm, so S., eine Verengung einher. Denn die Kontinuität von Leiden und Gotteserfahrung führt zu einer Überhöhung des weltlichen Leidens und zu einer Verweltlichung des Gottleidens. Die positiven wie auch sozialen Seiten des Pathos geraten tendenziell aus dem Blick.
Der vierte Teil (214–308) widmet sich Luther, der Ethos und Logos aus Pathos begreift, ohne sich wie die deutsche Mystik einseitig auf die unlustvollen Passivitätserfahrungen im Sinn einer Nachahmung der Passion Christi festzulegen. Vielmehr wird in der lutherischen Theologie der rechtfertigende Glaube an Christus zu einer heilvollen Passivität, deren Gerechtigkeitszuspruch sich in kreativer Lebendigkeit auswirkt. Die radikalen Metaphern Luthers für diese Passivität würdigt S. daher umsichtig.
Der fünfte Teil (309–484) ist quantitativ und qualitativ der umfassendste Abschnitt der Studie. S. führt nicht allein die Einsichten Luthers gegenwartsorientiert weiter, sondern kommt auch zum Aufbau seiner differenzhermeneutischen Theologie – in un­mittelbarer Nähe zur Philosophie von Bernhard Waldenfels. S. geht es grundsätzlich nicht um eine spätmoderne Rehabilitierung eines vormodernen Theologiebegriffs, der reflexionsvergessen seine eigene Setzung als Passivität verkennt und die Wechselseitigkeit von Passivität und Aktivität übersieht. Vielmehr beabsichtigt S. einen Perspektivwechsel, der die verdrängte Seite der Moderne aufarbeitet – im Sinn einer Aufklärung des menschlichen Selbst über seine passive Genese.
Diese Passivität liegt fundamental dem Ethos und dem Logos zugrunde und zeigt sich dann auch korrelativ in ethischer und logischer Aktivität wie in Leidenschaften. Passivität ist demnach mehrdimensional. Als grundlegendes Widerfahrnis der Urpassivität steht sie quer zur Wechselseitigkeit des Logischen und des Ethischen und wirkt auch nicht allein in leidensfixierten Leidenschaften. Dabei bilden sich diese Relate aufgrund der Relation aus, ohne dass dadurch symmetrische Verhältnisse entstehen würden, die eine gleichsam befriedende Einordnung der Urpassivität erlaubten. Dies kann im Blick auf den Menschen die Frage nach der Annahme einer allgemeinen Struktur der Passivität aufwerfen. Diese Annahme ist nach S. zwar möglich, doch die Struktur ge­winnt von dem Ereignis der Passion Christi her ihre eindeutige Wirklichkeit. Oder im Blick auf die Möglichkeit natürlicher Theologie formuliert: Die formale Struktur allgemeiner Passivität hängt an dem materialen Ereignis besonderer Passion, ohne dass diese Struktur unverständlich würde, wenn man dieses Ereignis nicht im Sinn hätte. Die Überlieferung der Gedankenfigur der Passivität lässt sich nach S. in der protestantischen Theologie des 20. Jh.s von Emanuel Hirsch bis zu Oswald Bayer verfolgen. Besonders Letzteren kann S. würdigen, insofern er den Glaubensbegriff in responsorischen Affekten entfaltet.
In ihrem fundamentalen Ausgriff dürfte die Studie lege artis wichtige Nachfragen auslösen: Inwiefern ist systematisch die Dreiteilung in Pathos, Logos und Ethos überzeugend? Inwiefern stimmt sie geistesgeschichtlich mit ähnlichen Einteilungen der Vergangenheit überein? Inwiefern ist modernitätsspezifisch eine Aufwertung der Passivität möglich, die mit einer geschlossenen Deutung Kants bzw. seiner Nachfolger auf die Frage verzichtet, ob die Transzendentaltheorie intern zu überschreiten ist? Inwiefern ist philosophisch-methodologisch eine semiotische Logik der Relate hervorbringenden Relation mit einer Urpassivität verträglich, wenn Letztere an sich keine Aktivität sein soll? Und inwiefern hängt bildtheoretisch die Passion als Urimpression mit barockzeitlichen Verknüpfungen von Pathos und Heil, Einsichten Aby Warburgs und dem gegenwärtigen Inszenierungsparadigma der Praktischen Theologie zusammen?
Wie immer man diese Fragen im Gespräch und in Auseinandersetzung mit S.s Studie beantwortet, eindeutig steht meines Erachtens fest: Vergleichbar mit Heideggers These von der Seinsvergessenheit diagnostiziert S. eine Passivitätsvergessenheit und findet damit unter inflationären Erscheinungen unserer Zeit eine große Fragestellung (wieder): Ist die – auf Ethos und Logos be-­ zogene – Passivität das wesentliche Menschheitskriterium, das wie­derum in der christlichen Passionsgeschichte grundlegend er­schlossen ist? S.s pointierte Studie hat darauf eine gleichsam klassische Antwort gefunden, an der man künftig nicht vorbeikommen wird und welche die Theologie geistreich zu ihren eigenen Aufgaben ruft.