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Ausgabe:

Juni/2011

Spalte:

686-687

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Holm, Bo Kristian, and Peter Widmann [Eds.]

Titel/Untertitel:

Word – Gift – Being. Justification – Economy – Ontology.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. IX, 215 S. gr.8° = Religion in Philosophy and Theology, 37. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-149941-8.

Rezensent:

Heinrich Assel

Hervorgegangen aus einem Aarhuser Forschungsseminar 2006 bündelt der Band Beiträge zum heutigen Verständnis, ja zum hermeneutischen Horizont überhaupt von »Gnade«/»Gabe« und »Passivität aus Passion« im Begründungszusammenhang evangelischer Dogmatik. Er diskutiert die kulturanthropologischen (seit M. Mauss), religionskritischen (von R. W. Emerson bis J. Derrida) und soziologischen (P. Bourdieu) Meister des Verdachts (124–132) gegen die christliche und zumal reformatorische Rede von Gnade als göttliche Selbst-Gabe angesichts ihrer institutionellen, tausch­ökonomischen Situiertheit, ihrer rituellen Verwaltung und ihrer Zirkulation im ›agapistischen‹ Ethos. Schließlich bietet er prononciert lutherische Beiträge zum religionsphänomenologischen Diskurs über Gabe ( donation) und Gabentausch (gift-exchange) auf Augenhöhe mit dem französisch-katholischen (J.-L. Marion) und angelsächsisch-anglikanischen (radical orthodoxy) Diskurs, und zwar aus dänischer, finnischer und deutscher Warte. Durchgängig fragen die Beiträge über die hermeneutisch-personontologische Gnaden- und Glaubenstheologie und Passivitäts-Anthropologie, für die hierzulande exemplarisch G. Ebeling und seine Schule steht, hinaus (zur Selbstverortung, 1–8). Die kritische Revision nimmt drei unterschiedliche Richtungen:
I. U. Dalferth (Mere Passive. Die Passivität der Gabe bei Luther, 43–71) fungiert als advocatus dei. Gegen die Tendenz der anderen Beiträge, die Exklusivität von Gnade und Glaube gerade als eröffnete Gabereziprozität von Mensch und Gott im Gottmenschen Christus zu interpretieren (so P. Widmann, 165–186) pointiert er überraschend zugespitzt Luthers Rhetorik und Dialektik der creatio ex nihilo und des mere passive (vor allem 49). Seine Interpretation von Anthropologie und Ontologie der Passivität (zentral Luthers Glosse zu Röm 12,2) steigert Passivität und paradoxiert vermögens­anthropologische Redeweisen zugunsten von Unmöglichkeits­figuren (Werden aus Nichts, Gerechtfertigtwerden aus Sünde). Verstehensgrenze, ja kalkulierte Unverständlichkeit der apersonalen Metaphern von Passivität bei Luther werden pointiert, mithin das Pathos der Passivität.
Konsequenzen werden angedeutet, nicht ausgeführt, z. B. die nötige Umbesetzung transzendentaltheologischer Figuren (Rezeptivität, Kapazität des Menschen) und die Paradoxierung der commercium-Metaphorik (das traditionelle mirabile commercium wird bei Luther zur Gabe eines Orts vor Gott am Unort des Fluchs). Luther stört anthropologische Rezeptivitätsordnungen durch apersonale, physische Metaphern der Passivität und öffnet einen Horizont unverständlicher Gnade. Er überführt wohldefinierte aris­totelische Konzepte (z. B. pura materia) in unbestimmtere Be­griffe oder paradoxe, nur kontextuell sinnhafte Aussagen (z. B. Werden aus dem Unmöglichen). Was Passivität aus Passion z. B. für das Pathos des Körpers und der Sinnlichkeit als Woher aller Interpretation bedeutet, wäre noch auszuloten.
R. Saarinen (Im Überschuss. Zur Theologie des Gebens, 73–85) geht auf antike Modelle von Gabe und Wohltat zurück. Für die finnische, real-ontologische Luther-Interpretation formuliert er Grund­entscheidungen: »angemessene Freiheit statt Minimalisierung der Rezeptivität, enigmatischer Überschuss statt ökonomischen Gleichgewichts, relationale Bestimmung des Gebens statt materieller Bestimmung der Gabe« (85). Doch ist damit schon geklärt, welche Personontologie zum Überschuss der Gabe gehört? Eine mögliche Antwort skizziert O. Bayer (Schöpfungslehre als Rechtfertigungsontologie, 17–41): Schöpfung sei »Rede an die Kreatur durch die Kreatur« (18). Die Symbolik von Kraft, Trieb, Begierde sei als Wort-Antwort-Symbolik zu lesen. Was dort Masse-Energie-Austausch ist, wird am Ort des geschaffen-gläubigen Ichs zur kategorischen Gabe: »ich bin, was mir gegeben wurde«. (20) Doch wie triftig ist die These, dass Funktionsgesetze von Physik, Physiologie und Ökonomie für dieses Ich nach der »Logik der Gabe« (21) zu interpretieren seien, eine »Ethik der Gabe« (23) eingeschlossen? Dem Diktum Pascals, dass die Natur der Naturwissenschaften nur den verlorenen Gott predige, wird poetische Gottesrede entgegen gesetzt: Die Kreatur predige den gütigen, am Fall der Schöpfung ›hart arbeitenden‹ Gott (23–26) für Mit-Kreaturen. Mit-kreatürlicher Glaube sei existentialontologisch auszulegen (28 f.). Durchgeführt als Wahr­nehmungslehre des Hörens mündet dies in Hamanns Urstandspoesie: »Jede Erscheinung der Natur war ein Wort, – das Zeichen … einer neuen, geheimen …, aber desto innigeren Vereinigung, Mittheilung und Gemeinschaft göttlicher Energien« (40 f.). Gabe-Theologie changiert zwischen Existential­on­tologie und Theopoetik.
Die dänischen Vertreter repräsentieren einen dritten Strang: N. H. Gregersen (Radical generosity and the flow of grace, 117–144) formatiert in metakritischer Absicht den religions- und gnadenkritischen Gabediskurs neu. Er reformuliert Gnade als favor in einem Konzept radikaler Großzügigkeit Gottes. Marions Phänomenologie des Sich-Gebens wird umbesetzt in eine trinitarische Gnadenphänomenologie ohne transzendent objektivierten Geber, ohne rezeptives Empfängersubjekt und ohne tauschbare und ökonomisierbare Gabesubstanz (vor allem 133–144). B. K. Holm (87–116) entwirft eine lutherische Alternative zu J. Milbanks Kritik säkularer sozialtheoretischer Figuren der Moderne und zu dessen These, dass eine ›gereinigte Ökonomie der Gabe‹, also eine Theologie der Gnade, nur im Rückgriff hinter die reformatorische Theologie möglich sei (Augustin, Thomas).
Nicht genealogisch, sondern heuristisch eingesetzt ist diese Frage aufschlussreich: In Luthers Texten würden gabeökono­mische und politisch-sozialtheoretische Figuren (z. B. ehelich-heterosexuelle Liebe als hochmittelalterlicher gesellschaftlicher code: 100–109) aufgenommen und ›gereinigt‹ (z. B. paradox übersteigert und transformiert). Holm ermöglicht eine gehaltvolle politikgeschichtliche und politisch-theologische Interpretation zentraler rechtfertigungstheologischer Fi­guren Luthers, z. B. der königlich-priesterlichen Freiheit Christi und der Christen – m. E. ein Desiderat der Lutherforschung seit K. Holl. Chr. Svinth-Værge Põder (145–164) gibt in einer musterhaft dichten Interpretation der Zeugnis- und Gebetstheologie des späten Barth dem Aperçu, dass hier Gottes Allwirksamkeit nicht als seine Alleinwirksamkeit konzipiert ist, gabetheoretischen Sinn.
In einer Situation, in der systematisch-theologische Lutherinterpretationen selten und die deutschsprachigen zumal eher selbstgenügsam sind, öffnet dieser sorgfältig dokumentierte Forschungsdiskurs neue und fruchtbare Fragehinsichten (1. und 3.) und dokumentiert, wie sich nationale Interpretationsschulen annähern könnten (2.).