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Ausgabe:

Juni/2011

Spalte:

681-683

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schweidler, Walter

Titel/Untertitel:

Das Uneinholbare. Beiträge zu einer indirekten Metaphysik.

Verlag:

Freiburg-München: Karl Alber 2008. 412 S. 8°. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-495-48299-5.

Rezensent:

Walter Sparn

Diese Sammlung von Aufsätzen, die Walter Schweidler zwischen 1988 und 2007 publiziert hat, ist insofern ein kohärentes Korpus, als sie alle an einer »indirekten Metaphysik« arbeiten, der der Vf., Schüler R. Spaemanns, seit seiner Untersuchung »Überwindung der Metaphysik« (1987) verpflichtet ist. Der Denkbewegung von J. G. Fichte zu M. Heidegger und zu L. Wittgenstein folgend thematisiert der Vf. nicht zuerst ontologische Topoi, aus denen Lehren zu ziehen wären, sondern »das ihm Unsagbare, das für ihn und an sich Uneinholbare, an dem alles, was er zu sagen hat, sich abarbeitet« (11). Diese spezifische Tätigkeit führt er in ihrer exis­tenziellen Dringlichkeit, ihrer intellektuellen Subtilität, aber auch ihrem moralischen Ernst vor Augen.
Kapitel I »Zum Kontext des Metaphysikbegriffes« fragt: »Was ist Philosophie?« (24–53). Diese Frage, die man nicht beantworten, mit der man nur umzugehen lernen kann, führt in die historische Konstruktion der Differenz »der« Philosophie (der abendländischen seit Platon) von allem anderen und in die Erfahrung der Differenz (der kulturellen zwischen westlichem und östlichem Denken). Die Destruktion dieser Differenz, d. h. die Öffnung für andere Denkerfahrungen, erfordert, dass »die Philosophie sich der sie tragenden geistigen Macht gerade als derjenigen zuwendet, durch die sie von sich selbst abgelenkt und von der ihr sinngebenden Erfahrung ab­geschnitten wird« (51 f.) – was größte, doch keinesfalls willentlich zu induzierende Anstrengung (daoistisch: Nicht-wollen) besagt. Zu fragen, was Philosophie sei, ist daher eins mit dem Augenblick der Überwindung dessen, was sie zu sein glaubte. Fragt sich mithin: »Was ist geistige Macht?« (54–83) Dies führt in die Problematik des spezifisch menschlichen Unsichtbaren, das in allem uns Sichtbaren nie direkt erfassbar ist, sondern als eine im Entzug anwesende Dynamik unseres Sehens wirkt; es stellt also vor das paradoxe, durch einen Fremdbezug im Selbstbezug konstituierte Selbstsein der Natur des Menschen als Geist. Geistige Macht oder Kraft ist das »uneinholbar Fremde, in dem wir im Geschehen der Abgrenzung von Wahrem und Falschem uns selbst begegnen« (73). Mit ihr kann man, da nur im Überwundenwerden durch sie gegeben, nicht in­tentional oder gar instrumentell umgehen, sondern nur in ›nutzlosen‹ Paradoxien der Selbstabgrenzung: Sie ist unsere Menschenwürde.
Kapitel II erläutert diese »Metaphysik der Existenz« an wichtigen Stellen des oben erwähnten Denkwegs. In »Die Angst und die Kehre« (84–109) stellt der Vf. die strukturelle Verbindung Heideggers mit S. Kierkegaard und den Mut der »Kehre« heraus, in der die sich vor sich selbst verbergende »Angst der Metaphysik« überwunden wird durch den Mut zum Paradox, »zum Aushalten der möglichen Nichtigkeit des gesamten eigenen Tuns« (96 f.). Nicht Dichter, meint der Vf., sondern eine religiöse Vorstellung vom Wesen des menschlichen Wissens stehen hinter der Selbstnegation des Philosophierens: Luthers und Kierkegaards »Erbsünde« (108 f.). Heideggers Begriff der Schuld bezieht sich denn auch darauf, dass das Dasein zu sich selbst nur gegen die Anderen kommen kann – das Gewissen ist nicht mehr der Grund möglicher Selbstfindung, sondern »Abgrund« (110–133). Den existenzphilosophischen Analogiebegriff versteht der Vf. – vor dem Hintergrund des platonischen chorismós und exaíphnes einerseits, E. Przywaras Konzept der analogia entis andererseits und mit M. Merleau-Ponty – als Ereignis »unvergleichlicher Distanz« (134–161). Auch hier geht es um »mein Leben« und seinen »Grund« im Zusammenhang der zueinander analogen Dimensionen des Verhältnisses zu mir selbst, zu mei­-nesgleichen und dem zeitunterworfenen sonstigen Seienden (141 f. 159 f.). Gegen Heideggers eigene Skepsis weist der Vf. dessen »Laozi-Rezeption« (162–186) in seiner Kritik »der« Philosophie, zumal des modernen, »an Fortschritt, Gleichheit und Machbarkeit gläubige[n] Selbsterlösungsprogramm[s]« (165) auf. Der Ort der Rezeption ist die »Kehre«, die Denkfigur der indirekten Wirklichkeit des Ur­sprungs allen Seins. Der Vf. ist überzeugt, dass Heidegger das Ungedachte, zu dem das abendländische Denken sich nur indirekt zu verhalten vermag, nicht wiederum als etwas Abendländisches ansieht (175. 185 f.).
Kapitel III präsentiert »analytische Perspektiven«, die der Vf. seinem »Geleiter in den Mittelpunkt der indirekten Metaphysik« (18) verdankt, Wittgenstein: »Götzen zu zerstören, und das heißt keine neuen (etwa die Abwesenheit von Götzen) zu schaffen« (188). Das therapeutische Verfahren, abstrakte Probleme zu alltäglichen und persönlichen, bestimmten Sprachspielen und Lebensformen zugehörigen zu machen, nähert sich dem Grund der Sprache, d. h. dem Urproblem der Metaphysik an und damit der »Möglichkeit einer indirekten Metaphysik« (188–203). »Sein und Existenz nach G. E. Moore« (204–217) ordnet dessen Verteidigung des common sense dem Programm des späten Wittgenstein zu. »Wittgensteins Tod« (218–235) ist der Anlass, dessen paradoxen Begriff von Philosophie: nicht Lehre, sondern Tätigkeit, Werk, »Leben in der Gegenwart« (227), abzugrenzen von dem »philosophischen Unsinn«, die Frage, wie man leben soll, argumentativ beantworten zu wollen (228). Die analytische Perspektive entspricht darin dem existenzphilosophischen Denken, das der Vf. beim späten Merleau-Ponty so be­schreibt: nicht kumulatives Problemlösen in Bezug auf einen ihm gegenüberstehenden Gegenstand, sondern » Wiederholung eines frageförmigen Zusammenhangs, den der Mensch nicht sprengen, sondern zu dem er sich nur in ein Verhältnis setzen kann« (134, Anm. 1).
Kapitel IV »Phänomenologische Kontexte« entfaltet die These »Denken ist Zeit« (238–279). Ausgehend vom phänomenologischen Zeitbegriff seit H. Bergson erörtert der Vf. die Probleme des analytischen Zeitbegriffs (253 ff.), um einen nicht bewusstseinsphilosophischen, vielmehr exemplarischen Zeitbegriff zu skizzieren, der nicht die Folge von Ereignissen erklärt, sondern den »Übergang« und den »Augenblick« als lebendiges Prinzip des Denkens zulässt (!). In ihm wird nicht etwa mitgeteilt, was »die« Zeit sei, sondern der Zusammenhang, in dem meine Zeit mit der von allem anderen steht, »wiederholt« und sozusagen » wiedergeboren« (269 f. 275 f.). Der Horizont, in dem sich »jetzt« die zeitliche Einheit der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt herstellt, wird im An­schluss an Merleau-Ponty in der Frage thematisiert, was »hinter dem Horizont« (280–304) des wahrgenommenen Wirklichen sei: Es ist der wirklich Wahrnehmende, eine individuelle Natur, eine Person, die mehr ist als ihr Leib und dennoch nichts anderes als die Inkarnation eines Unsichtbaren. Der Horizont ist somit die mögliche und notwendige »Ergänzung des Sichtbaren«, in dem ich mich auf das Ganze der mich umgreifenden Wirklichkeit übersteige und so auf spezifische Weise wirklich werde (285 f.). »Die ontologische Bedeutung des Leibes nach Merleau-Ponty« (305–342) expliziert das Miteinander eines direkten und indirekten Weltbezugs des leibhaften Menschen, dessen Wahrnehmung zugleich selbstbezüglich und sowohl aktiv als auch passiv ist: Der Leib ist die Inkarnation des Unwahrnehmbaren (320). Diese paradoxe und indirekte Ontologie versteht »Philosophie nicht als Aufdeckung, sondern als Verteidigung der Verborgenheit von Sinn« (342).
Den Übergang in die Ethik bildet das fünfte Kapitel, das die in Kapitel I angesprochene »Frage der Würde« aufgreift; seit »Das Unantastbare« (2001) ist ein Arbeitsschwerpunkt des Vf.s »Die Rationalität des Unfassbaren« (344–365, Erstpublikation). Er problema­tisiert Th. Hobbes’ politische Konzeption der Ethik, d. h. deren kontraktualistische Konstitution; mit dem (auch gegen J. Rawls gehenden) Ergebnis, dass die Ethik, als reales geschichtliches Faktum, zum politischen Faktor werden muss, weil sie das »Un­fass­bare« nicht im Übergang vom natürlichen in den bürgerlichen Zustand sieht, sondern im »Leben der Person, als einer sich durch ihr Verhältnis zu sich selbst erst konstituierenden Zeitgestalt« (364). Rational ist staatliches Zusammenleben dann als Ordnung des Respekts vor der Unantastbarkeit der menschlichen Person – die nämlich allen ihresgleichen unfassbar ist. Die Frage nach der (mit R. Spaemann: »naturrechtlichen«) Begründung politischer Ordnung macht den Gesichtspunkt, der das nur Politische an ihr transzendiert, für die Philosophie zur Existenzfrage. Unter dem program­matischen Titel »Absolute Passivität« (366–382) begründet der Vf. die Rede von »Menschenwürde« im Gespräch mit E. Lévinas, I. Kant und R. Spaemann phänomenologisch und erläutert, unter Einbezug der Figur des »Dritten« (anstelle transzendentaler Subjektivität), die Paradoxie einer »humanen Universalität« als die der personalen, endlichen und pluralen Universalität des Selbstseins. Die strukturelle Bedeutung der Menschenwürde für die indirekte Konstitution moderner Legitimität aufgrund der indirekten Konstitution des Menschseins und mit der Folge einer solchen für die ganze Menschheit entspricht dem, was vorneuzeitlich als die metaphy­sische »Natur des Menschen« galt – nur dass der Grund unserer Würde nicht dinglich gegeben (z. B. in Qualität oder Status), sondern un­einholbar ist: weil das Selbst sich wesentlich uneinholbar ist. »Menschenwürde« definiert nicht, sondern begründet das Verbot jeder Definition des Menschseins, die dieses nämlich dem Urteil durch Menschen aussetzen würde (»Das Un­einholbare«, 383–396).
Den Aufsätzen folgen Nachweise, Namen- und Ortsregister; eine »Einleitung« (9–22) ist ihnen vorangestellt. Stilistisch leider weniger einladend beschreibt sie das Vorhaben des Vf.s, die immer neue Erneuerung der Metaphysik im Durchgang durch ihre Überwindung, als (auch biographische) Enttäuschung und als »Überwinden seiner selbst«: die Indirektheit allen Philosophierens, das nicht dem dominanten »Schwachsinn der philosophiae ancilla scientiae« (17) verfallen will. Noch stärker als in den Aufsätzen stellt der Vf. hier das »östliche« Denken als mögliche indirekte Metaphysik heraus und pointiert dies als »Umkehr«, als »metanoietische« Praxis (13–15, vgl. 25.363).