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Ausgabe:

Februar/1996

Spalte:

160–162

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Nolan, Albert

Titel/Untertitel:

Jesus vor dem Christentum. Das Evangelium der Befreiung. Mit einem Vorwort von E. Schillebeeckx. Übers. v. T. Bernet-Strahm.

Verlag:

Luzern: Exodus 1993. 208 S. 8o. Kart. DM 32,50. ISBN 3-905575-83-3.

Rezensent:

Werner Zager

Wie bereits der Untertitel erkennen läßt und worauf auch die Widmung an die "Menschen der Dritten Welt" hindeutet, hebt sich das vorliegende Werk klar von den klassischen Jesusdarstellungen R. Bultmanns, G. Bornkamms, H. Conzelmanns oder H. Brauns ab. Zwar bedient sich der Vf. durchaus der historischen Methode, um sich der geschichtlichen Gestalt Jesu zu nähern. Jedoch verfolgt er mit seinem Werk keine theoretische Absicht ­ selbst nicht primär die, exegetische Forschungsergebnisse zu popularisieren ­, vielmehr schreibt er "betroffen vom täglichen Leiden vieler Millionen Menschen und beunruhigt von der Aussicht auf noch viel mehr Leiden in der nahen Zukunft" (19f) und sucht ­ ausgehend von der Botschaft und dem Handeln Jesu ­ Lösungen für die anstehenden drängenden Menschheitsprobleme zu finden. Dabei gilt das Interesse des Vf.s nicht dem Christus des Glaubens, sondern pointiert dem Menschen Jesus, "wie er war, bevor er zum Objekt des christlichen Glaubens wurde, dem Jesus vor dem Christentum" (19).

Wie jedes Zeitalter seine eigene Perspektive entwickele, um Jesus zu verstehen, so auch das unsere. Das Besondere der gegenwärtigen Situation sieht der Vf. darin, daß zwischen ihr und der Zeit Jesu eine bedeutsame Analogie bestehe ­ nämlich die Erwartung, daß die Welt auf eine große Katastrophe zugehe (24-30). Was der Autor im Jahre 1977 an Bedrohungen für den Fortbestand der Menschheit und den Erhalt des Lebens auf der Erde überhaupt nennt, hat (leider) nichts an Aktualität verloren ­ seien es die Nuklearwaffen, das explosive Anwachsen der Weltbevölkerung, das Schwinden der Energie-Ressourcen, die Bodenerosion oder die Umweltverschmutzung (25f). Ja, die angezeigten Probleme haben sich in den letzten Jahren noch verschärft. Das von Jesus prophetisch angesagte Ende bestimmt der Vf. unter Berufung auf Lk 13,1.3; 19,43 f; 21,20-23; 23,28 als eine "unvergleichbare militärische Niederlage für Israel" (40). Jesus habe erwartet, daß Gott an seinem Volk durch die Hand der Römer das Gericht vollziehen werde. Für eine solche Sichtweise der Gerichtsbotschaft Jesu stützt sich der Vf. außer auf die bereits erwähnten biblischen Textstellen noch auf folgende: Mk 13,2; Mt 23,37-39 par Lk 13,34 f; Lk 11,49-51; 17,26-37.

Der Vf. hebt zu Recht hervor, daß die gewaltigen Bedrohungen des Lebens auf unserer Erde nur durch einschneidende Änderungen im menschlichen Denken und Verhalten, im Umgang mit der Natur und deren Ressourcen, im Lebensstandard ­ insbesondere von seiten der Bevölkerung in den reichen Ländern ­ eingedämmt werden können (26 f). Doch woher können wir die erforderlichen Energien dafür nehmen, nicht nur und zuerst zur Sicherung der eigenen Existenz, sondern vor allem zugunsten der nachwachsenden Generationen die notwendigen Opfer zu bringen? Auch wenn der Vf. durchaus einräumt, daß Jesus nicht auf alle unsere Probleme Antworten bereithalte, so vertritt er dennoch die These, daß Jesus einen "Ausweg" aus der Krise weise, "den Weg zur vollen Befreiung und Erfüllung für die Menschheit" (30).

Gemäß der Darstellung des Vf.s läßt sich dieser Ausweg einmal Jesu Lebenspraxis (43-69), weiterhin seiner Reich-Gottes-Botschaft (71-128) und schließlich seiner Bereitschaft entnehmen, im Einsatz für die Armen und Unterdrückten die Konfrontation nicht zu scheuen und Leiden und Tod auf sich zu nehmen (129-192).

Jesu Zuwendung zu den Armen und Unterdrückten ist nach dem Vf. allein aus Mitleid motiviert (53.62). Die Armen, die Sünder und Sünderinnen sowie die Kranken habe Jesus aus ihrem Fatalismus herausreißen wollen. "Er war zutiefst überzeugt, daß das erreicht werden konnte und daß der wunderbare Erfolg seiner Anstrengungen der Kraft seines Glaubens zugeschrieben werden mußte... Was er vor allem zu erreichen wünschte, war, das gleiche Mitleid und den gleichen Glauben in den Menschen rund um ihn zu wecken. Dies allein würde es der Kraft Gottes ermöglichen, in ihrer Mitte tätig und wirksam zu sein." (62) Und in Jesu Mahlgemeinschaft hätten Verachtete und Sünder und Sünderinnen Anerkennung und Vergebung erfahren (66).

Der befreiungstheologische Ansatz des Buches schlägt sich nicht zuletzt darin nieder, daß der Vf. das von Jesus verkündigte Reich als "eine politisch strukturierte Gemeinschaft von Menschen hier auf Erden" (77) interpretiert. Sein politischer Charakter werde auch dadurch nicht infrage gestellt, daß es als Gottesreich den menschlichen Königreichen, strenggenommen dem in diesen sich verwirklichendem Satansreich gegenüberstehe (78). Wie bestimmt nun der Vf. näherhin das Wesen des von Jesus gepredigten Reiches Gottes? Es sei ein Reich der Armen, dem die Reichen, solange sie reich bleiben, nicht angehören könnten (80). Jesus habe jedoch nicht die Armut verklärt, sondern Menschen zum Teilen ihres Besitzes ermutigt (83). Das Reich Gottes sei eine klassenlose Gesellschaft, in der es weder Prestige noch Status gebe (88-90). Ferner gründe es "auf der alle einschließenden Solidarität der Menschheit", welche sich in der Solidarität mit denen konkretisiere, die sonst nichts zählen (92 f. 98). Das Reich Gottes meine aber nicht eine bloße Umkehrung von unten und oben, vielmehr stehe in ihm die Macht im Zeichen des Dienstes und der Freiheit und nicht im Zeichen der Herrschaft und Unterdrückung (103). Gegenüber dem so charakterisierten Reich Gottes verhalte sich der Mensch nicht passiv. Vielmehr könne er durch tätiges "Mitleid aus tiefstem Herzen und Glauben voll Hoffnung" zu dessen Kommen beitragen (121).

Daß Jesu Handeln und Botschaft unausweichlich in die Konfrontation mit den Autoritäten seiner Zeit führen mußte, führt der Vf. darauf zurück, daß Jesus jeden Lebensbereich ­ den politischen, ökonomischen, sozialen und religiösen ­ von Gottes Willen her "radikal hinterfragt" habe (137).

Zwar kann man ­ durchaus mit guten Gründen ­ in einer Reihe von exegetischen Einzelfragen anderer Meinung sein als der Vf. (So hat etwa der historische Jesus weder eine nationale Katastrophe durch die Römer angesagt noch Gericht [= "Katastrophe"] und Reich Gottes als sich ausschließende Alternativen beurteilt. Beides vollzog sich vielmehr nach Jesu Auffassung bereits prozeßhaft in seiner Gegenwart, bis Gottes Herrschaft sich auf Erden in einem zeitlich nahen definitiven Endgerichtsakt unwiderruflich durchsetzen werde.) Jedoch können die möglichen exegetischen Kritikpunkte nichts an dem Gesamteindruck ändern, daß es dem Vf. gelungen ist, Jesu Botschaft und Wirken für unsere vielfach bedrohte Welt zu aktualisieren ­ verständlich für einen weiten Leserkreis, zum Nachdenken und Umdenken einladend, zum Handeln motivierend. "Gott spricht heute in den Ereignissen und Problemen unserer Zeit zu uns. Jesus kann uns helfen, die Stimme der Wahrheit zu verstehen, letztlich aber sind wir es, die entscheiden und handeln müssen" (192).

Bei A. Nolans Jesusbuch handelt es sich um eine Übersetzung der englischen Originalausgabe mit dem gleichlautenden Titel "Jesus before Christianity. The Gospel of Liberation", die bereits 1977 in 1. Aufl. und dann ­ um ein Vorwort erweitert (15f) ­ 1992 in 3. Aufl. erschienen ist. An den Haupttext schließen sich ein Anmerkungsteil (193-205) und ein Verzeichnis deutschsprachiger Sekundärliteratur an (206-208). Das Buch wird eingeleitet durch ein instruktives Vorwort von E. Schillebeeckx (5-10), das sowohl in die Sachthematik einführt als auch hilfreiche Informationen über den persönlichen und theologischen Hintergrund des Vf.s vermittelt.