Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2011

Spalte:

672-674

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U., Stoellger, Philipp, u. Andreas Hunziker [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Unmöglichkeiten. Zur Phänomenologie und Hermeneutik eines modalen Grundbegriffs.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XIII, 362 S. gr.8° = Religion in Philosophy and Theology, 38. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-149942-5.

Rezensent:

Ulrich H. J. Körtner

Ist es überhaupt möglich, ein Buch über Unmöglichkeiten zu schreiben, oder ein Ding der Unmöglichkeit? Oder handelt es sich um eine unmögliche Möglichkeit, also ein Paradox, wie es gerade für den christlichen Glauben und christliche Theologie kennzeichnend ist? Bei Gott, so heißt es in Jer 32,17 und Lk 1,37, ist kein Ding unmöglich. Ist also Gottes Reich das Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, und ist Gott selbst die alles bestimmende Wirklichkeit des Möglichen? Ist er die absolute Möglichkeit? Oder nicht vielmehr nach einer anderen Tradition, die sich doch auch auf biblische Aussagen stützen kann, die absolute Notwendigkeit, die hinter allen Möglichkeiten steht? Ist Gott selbst vielleicht unmöglich? Gründet der Primat des Möglichen vor dem Wirklichen, den Eberhard Jüngel im Anschluss an Martin Heidegger postuliert, im Primat des Unmöglichen gegenüber dem Möglichen? Doch von welchen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten sprechen wir eigentlich?
Ingolf U. Dalferth bestimmt »Unmöglichkeit« im Vorwort zu diesem lesenswerten und anregenden Sammelband als modalen Grenzbegriff; will sagen: Das Unmögliche »ist der modale Begleiter alles Notwendigen, Möglichen und Wirklichen« (VIII). In hermeneutischer Hinsicht verweise er auf das Verstehen des Nicht-Verstehbaren, das im Nicht-Verstehbaren selbst begründet sei. Aufgrund dessen sei »eine Differenz in Anspruch zu nehmen zwischen dem, dass es nichts gibt, was sich verstehen ließe, und dem, dass es etwas gibt, was sich nicht verstehen lässt«, und das »Spiel mit dieser Differenz ist seit alters eine Domäne der Religion« (XII) und ihrer paradoxen Sprachspiele.
Der Band ist aus drei Kolloquien hervorgegangen, deren Oberthemen sich teilweise aus den einzelnen Beiträgen erschließen lassen, jedoch nicht einleitend genannt werden. Der zweiteilige Aufbau des Sammelbandes – I. Phänomenologie und Wissenschaft, II. Hermeneutik und Religion – weicht jedenfalls von der Abfolge der Kolloquien ab, die doch ihren eigenen Reiz gehabt hätte (»Unmögliche Welten: Zur Ontologie und Epistemologie des Unmöglichen«; »Paradoxie und Metapher: Vom Darstellen des Undenkbaren«; »Modi religiöser und ästhetischer Kommunikation«).
Spielräume des Möglichen und Überschüsse des Unmöglichen lotet Bernhard Waldenfels in seinem phänomenologischen Beitrag aus. Das eigentliche Rätsel alles Unmöglichen liegt nach seiner Auffassung »in dem ›Un-‹ der Unmöglichkeit« (3), dem Waldenfels in der Spur seiner Philosophie des Fremden nachgeht. Verfremdung und Fremdwerden menschlicher Erfahrung geschieht, wenn das Unmögliche in das Mögliche einbricht und es aus der Ruhe bringt (14). Das Unmögliche aber lässt sich nur als Paradox zur Sprache bringen, und zwar in Form indirekter Rede, »die etwas sagt, indem sie etwas anderes sagt« (19). Waldenfels bezeichnet diese Möglichkeit im Unterschied zu Sprechakten als Sprechereignisse (19), was an den Begriff des Sprachereignisses von Ernst Fuchs erinnert.
Dieter Mersch geht chiastischen Sprachfiguren nach und unterscheidet vier nicht aufeinander reduzierbare Chiasmen des Bezugs, der Alterität, der Materialität und der Setzung (22), wobei auch Mersch die Paradoxalität der untersuchten Möglichkeiten, vom Unmöglichen zu sprechen, herausstellt. Neben dem Medium der Wortsprache befasst sich Mersch aber auch mit dem Medium des Bildes (31 ff.) und der aufbrechenden Differenz zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren bzw. Verborgenen.
Unmögliche Orte sucht Christian Strub in seinem Beitrag auf (39 ff.), wobei er zwischen lebenspraktisch unmöglichen Orten – sein Beispiel sind Skylla und Charybdis (41 ff.) – und denkunmöglichen Orten unterscheidet. Das Nachdenken über den Ort und seine Sprache führt Strub interessanterweise auf den utopischen Begriff der Heimat (58), leider ohne den berühmten Schlusssatz aus E. Blochs »Prinzip Hoffnung« zu erwähnen.
Hendrik A. Adriaanse versteht unter Utopien lediglich relative Unmöglichkeiten. »Unmögliches wandelt sich unter der Hand in Mögliches« (64), lauten sein Befund und seine These. Was die Möglichkeit absoluter Utopien angeht, ist Adriaanse jedenfalls »ziemlich skeptisch« (67).
Weit ausholend geht Burkhard Liebsch der Leidenschaft des Un-Möglichen bei Kierkegaard und Derrida nach (77 ff.). Seine Relektüren und Reflexionen münden in Bemerkungen zum Politischen im Zeichen des Un-Möglichen, d. h. in die Frage, wie Politik mit dem radikal Anderen und Fremden zurechtkommen kann. Im Anschluss an Derrida deutet Lieb das verstörend Fremde mit seinem Anspruch auf vorbehaltlose Anerkennung als Infragestellung des Politischen, deren Konsequenz aber nicht in der Haltung des Unpolitischen bestehen kann, sondern auf paradoxe Weise des Antipolitischen im Politischen (124).
Michael Hampe untersucht die Funktion von Idealen, die gerade deshalb notwendig sind, weil sie sich unmöglich realisieren lassen (125 ff.). Seine Beispiele sind die wissenschaftliche Idealisierung, der moralische Perfektionis­mus und die philosophische Funktion der Annahme eines absoluten Zu­falls.
Die Funktion von Paradoxie und Metapher für die Darstellung des Un­denkbaren analysiert Gerd Folkers in einem höchst spannenden Essay über die Vorstellung vom Schattenwurf der Moleküle (139 ff.), die den bildlichen Darstellungen und dreidimensionalen Modellen der modernen Naturwissenschaft zugrunde liegt. Überaus erhellend legt Folkers die ikonographischen und naturphilosophischen historischen Tiefenschichten dieser Metaphorik frei.
In seinen Reflexionen über das Diesseits und Jenseits des Sinns macht Emil Angehrn auf zwei Formen des Unsagbaren aufmerksam: das Unsagbare als Defizit und als Transzendenz (165 ff.) und rekonstruiert u. a. die Traditionsgeschichte negativer Theologie. An­gehrn argumentiert, dass es eine vorsprachliche Sinnbildung gibt (172 ff.), wir jedoch nicht über die Sprache hinaus gelangen (177 ff.), der ihrerseits ein Zug zum beständigen Überschreiten ihrer Grenzen innewohnt. »Das Sprechen überschreitet Grenzen und ist in gewissem Sinne unendlich. Sprache kann alles sagen. In einem nichttrivialen Sinne gilt, dass es kein Unsagbares gibt« (183).
Die anthropologische Prägnanz von Unbestimmtheit ist das Thema, das Matthias Jung im Anschluss an E. Cassirer und R. Brandom beschäftigt (185 ff.). Jung unterscheidet drei Typen von Unbestimmtheit, nämlich eine präsemantische (unbestimmte Bestimmbarkeit), eine semantische (unbestimmte Be­stimmtheit) und eine postsemantische (bestimmte Unbestimmtheit) (191 ff.). Letztere findet Jung in Alltag, Kunst und Religion, wobei man sich fragt, weshalb er Religion im Wesentlichen auf Mystik reduziert (197).
Ausgehend von Kant vertritt Thomas Rentsch die These, dass der Blick auf das Unmögliche notwendig ist, um »das Urphänomen der lebensweltlichen Sinnkonstitution zu erreichen und zu erhellen« (199). Die berühmten vier Fragen Kants werden von Rentsch im Dienste einer »negativen Existentialpragmatik« in ihre Gegenteil verkehrt: »Was kann ich definitiv nicht wissen? Was kann und soll ich nicht tun? Was kann ich nicht hoffen? Was ist der Mensch jedenfalls nicht?« (ebd.) Seine anthropologische These, die sich an­schlussfähig für eine christliche Sündenlehre erweist, lautet, dass wesentliche Formen menschlicher Selbstverfehlung dem Verkennen des Unmöglichen entspringen (201). Rentsch sieht freilich »auch weltgeschichtliche Anschlussmöglichkeiten an außereuropäische Denktraditionen« gegeben (212).
Hans J. Schneider denkt über den Begriff des Wunderbaren nach (215 ff.). Dabei setzt er sich kritisch mit Wittgensteins Begriff des Mystischen und seiner Auffassung von Sprache im »Tractatus« auseinander. In der natürlichen Sprache, in welcher »der klare Sinn der Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen verloren geht«, lässt sich nach Überzeugung von Schneider »alles sagen« (230), freilich nur deshalb, weil die Alltagssprache durch und durch von Metaphern und Analogie geprägt ist, mit deren Hilfe der Einbruch von Neuem und Überraschendem ausgesagt werden kann (232), wie auch die Erfahrung, dass das Gelingen, z. B. im Fall der geistigen Gesundheit, »wo es sich einstellt, ein Widerfahrnis« ist (229).
Einen gewichtigen Beitrag zur philosophischen Gotteslehre und zugleich zur Erneuerung der Metaphysik leistet Jean-Luc Marion (233 ff.). Er bestimmt Gott als das dem Menschen Unmögliche: »Gott fängt da an, wo das Mögliche für uns endet, … wo sich der unzugängliche Bereich des Unmöglichen auftut« (243). Auf philosophischem Wege soll aus der Unmöglichkeit der Unmöglichkeit Gottes auf die Notwendigkeit seiner Möglichkeit geschlossen werden (249). Im Anschluss an H. Arendt deutet Marion die Geburt des Menschen als das Unmögliche, als Zukommen (251 ff.), sowie die Vergebung als das radikal Unmögliche (260 ff.). Dabei ist freilich immer schon die biblische Rede von Gott vorausgesetzt, deren Triftigkeit keineswegs von aller Philosophie akzeptiert wird.
Die biblische Sentenz, dass bei Gott kein Ding unmöglich ist, interpretiert Günter Bader mit Hilfe der Unterscheidung zwischen dem Unmöglichen (Adynaton) und seiner mehrdeutigen Verneinung, dem A-Adynaton, die sich so­wohl als aufhebende als auch als verstärkende Verneinung lesen lässt (265 ff.). Als letztere deutet Bader die Menschwerdung Christi im Gespräch mit der negativen Theologie des Pseudo-Dionysius.
Höchst vergnüglich ist der gelehrte und geistreiche Essay von Stephan Schaede über »Repräsentative Eseleien vor und nach Buridan« (279 ff.). Darin geht es aus theologischem Blickwinkel um ethische Entscheidungsaporien und die in ihnen zutage tretenden Unmöglichkeiten, wobei die Betrachtungen in eine christologisch-kreuzestheologische Perspektive münden.
Tom Kleffmann zeichnet die paradoxen Denkbewegungen christlicher Rede vom ewigen Leben nach (313 ff.). Im Anschluss an Kierkegaard vertritt er die These, dass es sich beim ewigen Leben um eine doppelte Paradoxie handelt, die zugleich die einzige theologische Paradoxie überhaupt ist.
Aus philosophischer Sicht setzt sich auch Rainer Marten mit der eschatologischen Hoffnung des Christentums auseinander (325 ff.). Ausgehend von Bemerkungen Heideggers in »Sein und Zeit« und zu Platons Sokrates weiterschreitend stellt Marten die Frage, ob Hoffnung wahr sein kann (329 ff.). Sein Versuch, den Begriff »wahre Hoffnung« positiv zu besetzen, bringt die Perspektive der Poesie ins Spiel. Im Unterschied zu konkreten Hoffnungen seien wahre Hoffnungen ebenso wie das religiöse Gebet, in dem sich unbedingtes Vertrauen zu Gott bekundet, nicht falsifizierbar (334 f.). Martens Schlussfolgerung lautet: »Die gläubige Hoffnung auf das ewige Leben ist wahr, weil der Gläubige aus ihr lebt« (340). Sie zielt auf »poetische Praxis« (341).
Es würde sich lohnen, nach den Verbindungen zwischen der »poetischen Praxis« von R. Marten und der paradoxen Struktur ewigen Lebens, als welches das zeitliche Leben coram Deo bei T. Kleffmann erscheint, zu fragen. Doch angesichts des knapp bemessenen Raums ist das im Rahmen dieser Rezension leider ein Ding der (praktischen) Unmöglichkeit.