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Ausgabe:

Juni/2011

Spalte:

664-666

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Arnold, Jochen

Titel/Untertitel:

Von Gott poetisch-musikalisch reden. Gottes verborgenes und offenbares Handeln in Bachs Kantaten.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 488 S. gr.8° = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 57. Kart. EUR 77,95. ISBN 978-3-525-57124-8.

Rezensent:

Joachim Vette

Jede angemessene Beschäftigung mit dem Kantatenwerk Johann Sebastian Bachs erfordert eine interdisziplinäre Verbindung mu­sikwissenschaftlicher und theologischer Fragestellungen. Es ist daher ein Gewinn, wenn sich ein Autor mit diesem Thema auseinandersetzt, der in der Lage ist, beide Aspekte kompetent anzusprechen. Jochen Arnold, gleichermaßen Theologe und Kirchenmusiker, hat mit dem vorliegenden Band, mit dem er 2008 an der Universität Leipzig habilitiert wurde, einen wichtigen Beitrag zum Studium der Bachkantaten geleistet. In seiner Einleitung vermerkt A. richtig, dass eine umfassende Gesamtdarstellung der Theologie der Bachkantaten noch nicht erarbeitet wurde und dass ein Diskurs zwischen dieser Theologie und gegenwärtigen systematisch-theologischen Ansätzen noch aussteht. Diesem Mangel begegnet A. mit einer Untersuchung zum verborgenen und offenbaren Handeln Gottes, wie es im Kantatenwerk Bachs zum Ausdruck kommt.
Der Analyse einzelner Kantaten geht eine Darstellung der musikhistorischen und theologiegeschichtlichen Kontexte voraus. Hier zeigt sich die fundierte interdisziplinäre Ausbildung A.s. Neben einer Einführung in die musikalische Affektenlehre, mit besonderer Berücksichtung der musikalischen Rhetorik in Bachs Musik, bietet A. in einem kurzen, aber präzisen Streifzug einen Überblick über die Entwicklungsgeschichte der Kantate allgemein und der besonderen Stellung der Bachschen Kantate, der mit großem Gewinn gelesen werden kann. Zur Erstellung eines zeitge­nössischen theologischen Kontextes verweist A. auf die theologischen Werke der Hausbibliothek Bachs. Obwohl er sich bewusst ist, dass keine direkte Verbindung zwischen den dort vorhandenen Büchern und den Kantatentexten selbst gezogen werden kann, betont er doch die besondere Häufigkeit von exegetischer Literatur in dieser Sammlung, wie dem fünfbändigen Werk »Biblische Erklärung nechst dem allgemeinen Haupt-Schlüssel der gantzen heiligen Schrift« von Johann Olearius (1678). In der hier angewandten Methodik einer konkordanten Erfassung innerbiblischer Stichwortbezüge sieht A. einen wichtigen hermeneutischen Zugang zu der Art und Weise, wie die Kantatentexte auf Psalm- und Evangeliumslesung eines bestimmten Sonntags eingehen.
Obwohl die Kantaten Bachs ursprünglich nach der Credointonation anstelle des »Patrem omnipotentem« vor der Predigt musiziert wurden, erkennt A. in ihnen ein wesentlich breiter angelegtes liturgisches Potential als die Reduktion auf die Nachahmung his-torischer Vorgaben. Zunächst betont er den Predigtstatus vieler Kantaten, da sie in Analogie zur Predigtlehre Johann Benedikt Carpzovs (1652) explicatio und applicatio der jeweiligen Psalm- und Evangeliumslesung seien. Darüber hinaus konzentriert A. sich auf die Sprechakte und den ständigen Wechsel der Sprechrichtung in den Texten selbst. Er kommt zu dem Schluss, dass Bachs Kantaten nicht über Gott reden, sondern einen »lebendigen Dialog zwischen Gott und Mensch« inszenieren (vgl. 26 f.). Die Kantate selbst wird somit zum Gottesdienst in nuce. In einem vielfältigen Zu­sammenspiel von Rezitativ, Arie, Choral und Chor werden die Bibeltexte des Sonntags ausgelegt. Der Wechsel der Sprechrichtungen in der Ab­folge der unterschiedlichen Kantatensätze schafft dabei eine Dialogsituation, in deren Mitte der Evangeliumstext steht und in die Chor, Solisten und Gemeinde durch das Musizieren und Zuhören eingebunden werden. Auf Basis dieser Erkenntnisse entwickelt A. Vorschläge für die Aufführungspraxis nicht nur in Haupt-, sondern auch in Kasualgottesdiensten.
Besonders fruchtbar ist dabei A.s bewusste Betonung der Psalmen als hermeneutischer Schlüssel zum Verstehen der Kantaten. Obwohl nur ein Psalm in Gänze einer Kantate zugrunde liegt (Psalm 130 in BWV 131), bildet die dialogische Struktur der Klage­psalmen mit ihrer Bewegung von Klage zu Lob den zentralen hermeneutischen Rahmen für die Interpretation der Kantaten. A. ist daher zuzustimmen, wenn er sagt: »Die Behauptung von einem Psalmenschweigen in Bachs Kantatenwerk ist absurd« (423)
Der Hauptteil des 472-seitigen Buches beschäftigt sich mit der detaillierten Analyse ausgewählter Kantaten innerhalb vorgegebener theologischer Kategorien. A. gelingt eine erste Systematisierung dieses gewaltigen Œuvres anhand bestimmter theologischer Fragestellungen, die das Buch gliedern. Auf die Topoi deus absconditus und Theodizee folgen Offenbarung Gottes in Gesetz und Evangelium, Weltregiment und Fürsorge Gottes und Trinität. Zu jedem Thema bietet A. eine systematisch-theologische und theologiegeschichtliche Einleitung sowie einen knappen Überblick über den Stand der Forschung. Auf Details der Analyse kann in diesem Kontext nicht weiter eingegangen werden. Es fällt jedoch auf, dass diese Einleitung bei den Themen deus absconditus und Theodizee erheblich länger ausfällt als in den darauf folgenden Teilen, was den eigentlichen Schwerpunkt A.s deutlich vor Augen führt.
Die überproportionale Betonung dieses Themas ist zugleich Stärke wie auch Schwäche des Buches. Da A. keine Kriterien nennt, anhand derer die Selektion der behandelten Kantatentexte erfolgt, scheint diese theologische Vorentscheidung die Auswahl des Materials bestimmt zu haben. Dies fällt umso mehr auf, als sonst keine Kriterien genannt werden, nach denen die Selektion der im Buch behandelten Kantatentexte erfolgt ist. So wird mit BWV 1, 2, 12, 13, 17, 20, 21, 60, 66, 69 und 69a, 76, 81, 101, 102, 103, 104, 110, 117, 119, 120a, 129, 138, 154, 155, 163, 168, 173, 187, 188, 190 und 197 eine Vielfalt von 32 unterschiedliche Kantaten detailliert besprochen, in deren Zentrum das Gegensatzpaar Verborgenheit und Offenbarung eine wesentliche Rolle spielt. Um jedoch als repräsentativ für das gesamte Kantatenwerk gelten zu können, hätten die Selektionskriterien für die Auswahl dieser 32 Kantaten deutlicher gemacht werden müssen. Nur so wäre sichtbar geworden, inwiefern die Themen Verborgenheit und Offenbarung tatsächlich repräsentativ für das gesamte Kantatenwerk sind und welchen Stellenwert sie im Vergleich zu anderen theologischen Schwerpunkten in den Kantaten einnehmen, vor allem in Bezug auf die große Fülle nicht behandelter Kantatentexte. Ein Verzeichnis über die im Buch behandelten Kantaten im Anhang der Monographie hätte zudem dem Leser die gezielte Suche nach einzelnen Kantatentexten erleichtert.
Die von A. vorgelegte Monographie ist eine sehr gut gearbeitete Untersuchung bestimmter theologischer Topoi in ausgewählten Bachkantaten und wird somit dem Untertitel des Buches völlig gerecht. Eine systematische Erhebung der »Theologie der Bachkantaten«, wie sie A. in der Einleitung fordert, steht jedoch weiterhin aus. Dazu hat diese materialreiche Arbeit einen wichtigen Schritt getan.