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Ausgabe:

Juni/2011

Spalte:

662-664

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Apel, Kim

Titel/Untertitel:

Predigten in der Literatur. Homiletische Erkundungen bei Karl Philipp Moritz.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XV, 565 S. gr.8° = Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 7. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-150035-0.

Rezensent:

Alexander Deeg

Kim Apel hat mit seiner 2008 bei Albrecht Grözinger eingereichten und 2009 preisgekrönten Dissertation »Predigten in der Literatur« ein Buch geschrieben, das Maßstäbe setzt und weitere Forschung inspirieren kann. A. legt hervorragend lesbare, klar strukturierte, stringent argumentierende und überzeugend lektorierte Analysen der Predigterzählungen in Karl Philipp Moritz’ Romanen »Anton Reiser« sowie »Andreas Hartknopfs Predigerjahre« vor, die eine stupende Kenntnis der Primär- und einschlägigen Sekundärliteratur erkennen lassen und zur Basis eines literaturwissenschaftlich-homiletischen Dialogs werden, den A. »Literarische Homiletik« nennt.
Die Arbeit ist in drei Hauptteile (»Predigten in der Literatur – Grundlegung« [3–66], »Homiletische Erkundungen bei Karl Philipp Moritz« [67–424], »Predigten in der Literatur – Erkenntnisse« [425–500]) und zwölf, sehr unterschiedlich lange Kapitel gegliedert.
Im grundlegenden ersten Teil geht A. von den Wechselspielen zwischen Romanen und Predigten aus und bietet ein überzeugendes Raster zur Wahrnehmung der unterschiedlichen Art und Weise der ›Aufnahme‹ von Predigten in der fiktionalen Gattung des Romans (12–20). Diese Seiten können – wie auch das Verzeichnis der »Literarische[n] Texte, in denen Predigten erzählt werden« (501–503) – zur Quelle für weitere Forschungen werden und zeigen, wie umfassend sich A. in der Literatur umgesehen hat. Recht knapp verortet A. seine Arbeit methodisch zwischen Theologie und Literaturwissenschaft (vgl. 23–28), ohne hierbei die spezifischen Herausforderungen eines solchen interdisziplinären Wechselspiels genauer zu diskutieren. Nach überzeugenden Überlegungen zu den Konsequenzen der Fiktionalität von Romanen für die Wahrnehmung von Predigten (29–45) sowie der Darstellung wichtiger Aspekte der Forschungsgeschichte (46–62) beschließt die Begründung der Konzentration auf Karl Philipp Moritz (63–66) den ersten Teil des Buches.
Der zweite Teil ist den »Homiletische[n] Erkundungen bei Karl Philipp Moritz« gewidmet. Souverän führt A. in den Hintergrund der Predigt zur Zeit der Aufklärung (69–78) sowie in die Biographie des Theologen und Schriftstellers Karl Philipp Moritz ein (79–134), bevor er sich der Analyse der beiden Romane »Anton Reiser« (135–308) und »Andreas Hartknopfs Predigerjahre« (309–424) widmet. Die methodisch sympathische Tendenz, »das Werk ausreden zu lassen« (58), führt dazu, dass die Analysen in diesen Teilen gelegentlich zu ausführlich geraten. Die Nacherzählung der Predigterzählungen nimmt erheblichen Raum ein und kommt nicht ohne Redundanzen aus.
A. erarbeitet in seinen Analysen der Predigten »P…s« (und weiterer Predigten) im »Anton Reiser« vor allem die eminente Bedeutung des »Predigthörerhorizont[s]« (303) sowie der leiblichen Predigtperformance für die Predigtrezeption. Die von Karl Philipp Moritz in seinem »Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde« geforderte »Aufmerksamkeit aufs Kleinscheinende« (143) erscheint auch für die Predigtwahrnehmung unerlässlich. Die (oftmals vernachlässigten) äußeren Gegebenheiten (Raum- und Lichtverhältnisse, Verhalten der übrigen Gottesdienstfeiernden, musikalische Gestaltung …) spielen eine ebenso entscheidende Rolle für die Predigtwahrnehmung wie die persönliche Disposition der Hörerinnen und Hörer sowie die rhetorische Gestalt der Predigt und ihre Inszenierung durch den Prediger. In großen Teilen der Predigtdarstellungen des Romans erweisen sich diese Aspekte als weit wichtiger als der Inhalt der Predigten (vgl. 174.179 f.203.273 u. ö.). A. nennt diese Art des »auf die Erscheinungsweise konzentrierte[n] Erleben[s] und Genießen[s]« ästhetisch (vgl. 180.187.203 u. ö.), was möglich ist, aber angesichts des neueren (praktisch-)theologischen Diskurses doch die Gefahr impliziert, ein zu enges Verständnis von »Ästhetik« zu vertreten, das die Pointe des Ineinanders von Form und Inhalt als Wesen des Ästhetischen gerade nicht in den Blick nimmt. Dessen ungeachtet aber zeigt A. erhellend, dass die Wirkung der Predigt für den Protagonisten des Romans entscheidend an der emotionalen Wirkung der Predigtrede hängt: »Eine gute Predigt darf nicht langweilen, sie muss rühren oder erschüttern« (218). Dazu trägt die leibliche Inszenierung der Rede durch den Prediger »P…« entscheidend bei. A. bestimmt diese in seinen Analysen als »authentisch« – ein gegenwärtig viel diskutierter und problematisierter Begriff (vgl. 185.208.217 u. ö.). Nur kurz streift A. später die Transformation des Authentizitätskonzepts in die Kategorie der »Präsenz« bei Michael Meyer-Blanck und anderen (vgl. 475) – ein Begriff, der auch der Erhellung der Predigerpersönlichkeit im Roman »Anton Reiser« hätte dienlich sein können.
In dem Kapitel zu dem Roman »Andreas Hartknopfs Predigerjahre« erweist sich A. als vorsichtiger Interpret einer komplexen Vorgabe, der kundig in die Vielschichtigkeit des Romans, seine Predigterzählungen und ihre Deutungsmöglichkeiten hineinnimmt. Dogmatische, homiletische, sprachphilosophische, anthropologische, ethische und vor allem ästhetische Diskurse werden aufgrund der im Roman geschilderten Predigten Hartknopfs eröffnet. Allesamt zeigen sie, dass Karl Philipp Moritz die Predigt hier idealiter als vollendetes Kunstwerk versteht und dass dies letztlich zum Scheitern der Predigt als mündlichem Kanzelvortrag führt. Das Moritzsche Kunstparadigma nämlich muss die Hörer als Kommunikationspartner letztlich aus dem Prozess der Predigtentstehung und -gestaltung verabschieden, um das in sich vollendete Kunstwerk in der Einheit von Form und Inhalt, Signifikant und Signifikat zu schaffen. Es ist nur konsequent, dass die Literatur bereits bei Moritz selbst das Erbe der Predigt antritt.
Mit besonderer Spannung wartet der Leser auf die »Homiletische[n] Erträge« (443–498) im dritten Teil der Arbeit. In der Spur des Doktorvaters Albrecht Grözinger werden der literaturwissenschaftliche und der homiletische Diskurs konstellativ miteinander verbunden. Das »Anregungspotential« (443) aus den Beobachtungen in den Romanen soll für die homiletische Diskussion erhoben werden. Dies hat zur Folge, dass sich die gut 50 Seiten der homiletischen Erkenntnisse als eine Fundgrube von Ideen und Anregungen lesen; leider aber gelangt A. nur selten zu einer eigenständigen, profilierten Auseinandersetzung, die mit der Gründlichkeit der literaturwissenschaftlichen Erarbeitung vergleichbar wäre. Vielfach werden Brücken zu Diskussionen der neueren Homiletik geschlagen, die dann allerdings nicht selten lediglich referiert werden. Aufgrund der Analysen bei Moritz wären durchaus weitere Einsichten zur Predigt als Kunstwerk, zu Sprache und Aufgabe der Predigt, zur Predigtrezeption und vielem anderen zu erwarten gewesen, die über die Zusammenfassungen dieses Abschnitts hinausgehen. Die »performative Homiletik«, die A. in der Spur von Andrea Bieler u. a. in den Blick nimmt und der es darum gehen muss, das gesamte Geschehen der Predigt in seinen formalen und inhaltlichen Aspekten und unter Einbeziehung der Predigtkommunikation zu erfassen, wäre es wert, genauer charakterisiert zu werden. So spielt A. den Leserinnen und Lesern lediglich, aber immerhin Bälle zu. Das elfte Kapitel endet mit den Sätzen: »Die literarische Welt ist voll von Predigten. Wer Lust verspürt, der fange an zu lesen und mache seine eigenen Erfahrungen auf dem weiten Feld der Predigten in der Literatur« (498). A. gelingt es auf großartige Weise, diese Lust an »Literarischer Homiletik« zu wecken.