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Ausgabe:

Juni/2011

Spalte:

661-662

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Stengel, Friedemann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kant und Swedenborg. Zugänge zu einem umstrittenen Verhältnis.

Verlag:

Tübingen: Niemeyer (de Gruyter Imprint) 2008. IX, 175 S. gr.8° = Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 38. Kart. EUR 54,95. ISBN 978-3-484-81038-9.

Rezensent:

Alexander Aichele

Zu der Tatsache, dass Immanuel Kant Emanuel Swedenborgs Hauptwerk, die acht Bände umfassenden Arcana coelestia (1759–1762), kurz nach Erscheinen gekauft und intensiv studiert hat, ist der sonst so überaus produktiven Kant-Forschung bislang vergleichsweise wenig eingefallen. Nach wie vor besteht insbesondere in Deutschland weitgehend Konsens darüber, dass der Aufklärer Kant in seinen Träumen eines Geistersehers (1766) die ›dantesken Visionen auf dem Niveau von Jahrmarktströdel‹ (J. Ebbinghaus) des Esoterikers und Spiritisten Swedenborg zu Recht der Lächerlichkeit preisgegeben und auf diese Weise endgültig erledigt habe. Dass jene Kantianer indes in der Regel zu diesem Urteil zu gelangen pflegen, ohne Ergebnisse der durchaus reichhaltigen Swedenborg-Forschung (Beitrag Inge Jonsson) oder gar Swedenborgs Schriften selbst zur Kenntnis zu nehmen, führt der abschließende Beitrag von Wouter J. Hanegraaff im besprochenen Sammelband nachdrück­lich vor Augen (insbesondere 165 ff.).
Es entbehrt daher nicht der Ironie, dass Reinhard Brandt in einer Fußnote zu seinem auch dem Autor zufolge eher rhapsodisch gehaltenen (14) Beitrag zur kritischen Wendung Kants gegen die dogmatische Metaphysik in den Träumen bemerkt, dass »Swedenborgs Texte für das Thema der vorliegenden Untersuchung, soweit ich sehe, nicht ergiebig sind« (14, Fn. 8). Vielmehr scheinen Swedenborgs Arcana Kant nur als abschreckendes Beispiel der Konsequenzen einer methodischen, aber irrigen Gleichsetzung von logischer und realer Möglichkeit zu dienen, die Brandt zufolge das Fundament der gesamten Leibniz-Wolffschen Schulmetaphysik bilde (17.19.29) – wenngleich man hier durchaus einwenden kann, dass zumindest Leibniz und Kants Gewährsmann Baumgarten scharf zwischen jenen beiden Möglichkeitsbegriffen unterschieden haben und sich Kant selbst ausdrücklich nur auf Wolff und Crusius bezieht.
Genau die Gegenthese zu Brandts Urteil über die systematische Irrelevanz Swedenborgs für Kants Überlegungen vertritt Monique David-Ménard. Ihr zufolge nämlich gewinnt Kant gerade in der systematischen Auseinandersetzung mit Swedenborg so gut wie alle Kernpunkte der Kritik der reinen Vernunft (125). Jedoch leidet ihr Beitrag erheblich unter dem Verzicht auf entsprechende Belege aus Swedenborgs Schriften, ohne welche die weitgreifenden Thesen David-Ménards schlicht in der Luft zu hängen scheinen. Zudem wirken einzelne Punkte suspekt: So spricht sie an einem für ihre Argumentation zentralen Punkt ohne weitere Erklärung von einer »dialektischen Opposition« (130), wo sich der angeführte kantische Text mit einem schlichten konträren Gegensatz zu begnügen scheint. Deswegen und aufgrund seiner Skizzenhaftigkeit vermag der Beitrag in seinem hohen systematischen Anspruch auch den aufgeschlossenen Leser kaum zu überzeugen.
Von solchen einerseits traditionellen (Brandt) und andererseits avantgardistischen (David-Ménard) Extrempositionen hält sich der Beitrag des Bandherausgebers Friedemann Stengel wohltuend fern. Er stellt gewiss das Herzstück des Bandes dar, obzwar seine ungewöhnliche Länge, welche die der anderen um ein Vielfaches überschreitet, ein wenig irritiert. Die Arbeit stellt schon in methodischer Hinsicht ein Gegenstück zur traditionellen Sicht dar. Stengel nimmt Swedenborg und Kants Swedenborg-Studium ernst und versucht unter steter Bezugnahme auf die Arcana deren positiven Einfluss auf Kants Werk weit über die Träume hinaus bis in die kritische Moral- und Religionsphilosophie nachzuweisen. Dieser Versuch darf als gelungen gewertet werden – angemerkt sei indes, dass Stengel in seinem Furor zu einer gewissen Exklusivität neigt, die ihn etwa die Sekundarität möglicher und ebenfalls noch weitest­gehend unerforschter pietistischer Quellen wieder und wieder (über)betonen lässt (67 f.75.98). Wichtiger ist jedoch, dass Stengel plausibel machen kann, dass Kantische Lehrstücke wie etwa seine rein ethisch fundierte Eschatologie (64 f.), die Lehre vom radikal Bösen und der damit verbundene Freiheitsbegriff (70 ff.) und sein moralisch begründeter Dualismus von sensibler und intelligibler Welt (91 ff.) nicht nur zufällig koinzidieren, sondern systematische Parallelen zu einem Autor darstellen, von dem sich Kant auch nach seiner kritischen Wende nie radikal distanziert hat (62 ff.).
Auch die beiden verbliebenen Beiträge von Gregory R. Johnson, der die einzelnen Abschnitte des I. Hauptstücks der Träume als Dialog der fiktiven Personen eines »ironischen Metaphysikers«, der Kants eigene Position vertritt, und eines in metaphysikkritischen Dogmatismus verfallenden materialistischen »Skeptikers« liest, und Paul Bishop, der C. G. Jungs spiritistisches Missverständnis von Kants Reaktion auf Swedenborg und dessen Beziehungen zum Phänomen des Enthusiasmus treffend analysiert, tun dem erfreulichen Eindruck des Bandes keineswegs Abbruch. Will man vor möglichen, auch »fachfremden« Einflüssen auf Kants Denken nicht schlicht die Augen verschließen, wird man kaum umhin kommen, ihn zur Kenntnis zu nehmen.