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Ausgabe:

Juni/2011

Spalte:

659-661

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Mühlpfordt, Günter, u. Ulman Weiß [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kryptoradikalität in der Frühneuzeit.

Verlag:

Stuttgart: Steiner 2009. 386 S. gr.8° = Friedenstein-Forschungen, 5. Geb. EUR 62,00. ISBN 978-3-515-09142-8.

Rezensent:

Martin Brecht

Den Begriff Kryptoradikalität will der Herausgeber Mühlpfordt aufgebracht haben, um damit die Dissenter, Heterodoxen, Vertreter des undergrounds, Geheimwissenschaftler, Schwärmer und Spiritualisten, oder wie sie genannt werden, objektiv als Gruppe zu erfassen. Wegen seiner mehrfach schwankenden und schwer zu fixierenden Bezugsmöglichkeiten ist der Begriff jedoch wissenschaftlich kaum brauchbar. Auch die zeitliche Reichweite des Terminus, der ja auch in der Pietismusforschung eine Rolle spielt, wird nicht eigens erörtert. Die 18 Beiträge des Bandes sind sich denn auch keineswegs einig, ob sie sich überhaupt mit dem Phänomen und wenn dann wie damit beschäftigen sollen. So liegt der Ertrag des Bandes vor allem in den die unterschiedlichen Facetten des Außenseitertums betrachtenden Einzelbeiträgen.
Ulrich Bubenheimer nimmt sich kundig die Prediger der Wittenberger Bewegung 1521/1522 vor und will daran Karlstadts Entwicklung zum Kryptoradi­kalen zeigen. Erhellend ist, dass eine solche Entwicklung immer auch etwas mit der Gegenseite (Luther) zu tun hat, aber ist Karlstadt damit wirklich er­fasst?
Wiederum als Experte durchmustert Siegfried Bräuer Thomas Müntzers Erfahrungen mit der Zensur. Die haben ihn gewiss behindert, aber wohl kaum bestimmt. – Andreas Heyer und Richard Saage vergleichen anregend, aber doch weit hergeholt die Radikalität bei Thomas Morus und Thomas Müntzer anhand von Utopie und Chiliasmus. – Siegfried Hoyer beschäftigt sich nochmals mit Müntzers Kollegen Simon Haferitz als Prediger zwischen Luther und Müntzer und leuchtet dabei das spiritualistische Umfeld aus. – An den dänischen Städten Malmö und Kopenhagen führt Henrik Lundbak vor, dass es schwer ist zu unterscheiden zwischen Crypto-Radicalism und Latent Radicalism, radikaler evangelischer Ideologie und den politischen sowie sozialen Konsequenzen.
Die beiden Beiträge von Christoph Dejung und Siegfried Wollgast untersuchen die Kryptoradikalität in Sebastian Francks Ulmer Declaration bzw. seinem Verbüthschiert Buch. Die Radikalität besteht dabei in der sich jeder doktrinären Fixierung entziehenden Liberalität. – Einen neuen Aspekt eröffnet Marion Leathers Kuntz, indem sie die Metaphorik der Alchemie und Magie als Medium für die Reform des Verhältnisses von Mensch und Gott bei Guillaume Postel herausstellt. – Von da ist es nicht mehr weit zum Thema der frühneuzeitlichen Geheimbünde wie den Rosenkreuzern und Freimaurern, das von Klaus-Rüdiger Mai aufgegriffen wird, wobei aber die Realität ebenso wie die Radikalität genauer zu bestimmen wäre. Die Fülle der Bezüge beeinträchtigt die Eindeutigkeit der Wahrnehmung. – Robert Weißmann will in der Säkularisation des überkommenen chronologischen Schemas der vier Weltreiche durch den Jenaer Polyhistors Michael Neander (1529–1581) kryptoradikale Ansätze und Emanzipation erkennen, wobei jedoch die Nötigung zu etwaiger Geheimhaltung nicht recht erkennbar wird.
Sigrid Looß, an sich bekannt als Karlstadt-Forscherin, befasst sich dann endlich mit Valentin Weigel, dem Theologen, dem sich wegen seines lebenslangen Dissimulierens die Kryptoradikalität am ehesten attestieren lässt. Dabei konzentriert sie sich auf die Schrift Vom Leben Christi und deren Menschenbild, ventiliert jedoch leider die Problematik des Kryptoradikalismus kaum, für die auch die Wirkungsgeschichte Weigels und seiner Schriften einzubeziehen gewesen wäre. Von daher hätte sich wohl auch der soziale Mechanismus von Kryptoradikalität aufrollen lassen. – Hanspeter Marti geht in komplizierter Argumentation der Rezeption des als kryptoradikal verstandenen Thomas Campanella bei Gottfried Arnold nach und entdeckt dabei Gemeinsamkeiten zwischen beiden. – Horst Weigelt befasst sich mit Martin Johns (geb. 1624) Kurtzer Bericht von den Schwenckfeldern als Dokument der Erinnerungskultur der Schwenck­felder. Mit dem Rahmenthema des Bandes hat das allenfalls insofern zu tun, als das Geschichts- und Traditionsbewusstsein der Kleingruppe gestärkt wird. – Konstanze Krutschnig-Kieser arbeitet die kryptoradikalen Züge im Werk des radikalen Pietisten Christoph Schütz (geb. 1689) bis hin zu seiner »Sondersprache« heraus. Den dabei festgestellten Einfluss Jakob Böhmes hatte man auch als immer wieder auftretendes Element des damaligen Kryptoradikalismus erfassen können. – Eberhard Fritz bietet einen Überblick über Kryptoradikalität und radikalen Pietismus in Südwestdeutschland. Ob und inwiefern die Geheimhaltung konstitutiv ist, wünscht man sich schärfer erfasst. Die Be­hauptung, dass die Kryptoradikalität im 19. Jh. zum Verschwinden komme, ist schwerlich zutreffend. – Mit dem Wirken des Aufklärers Karl Friedrich Bahrdt in Erfurt und Gotha wird von Günter Mühlpfordt nochmals ein ganz anderer ideeller Bereich auf seine Kryptoradikalität hin betrachtet. Eine noch stärkere Herausarbeitung der Nötigung zu Dissimulieren und Geheimhaltung hätte möglicherweise übergreifende Strukturen der Kryptoradikalität hervortreten lassen.
Kryptoradikalität in Aktion führt Hans-Werner Engels an den Ge­heimnissen der Altonaer Verlagsgesellschaft mit ihrem Verleger Gottlieb Vollmer vor, zu deren Programm hauptsächlich politische Literatur im Umfeld der französischen Revolution gehörte. Dass ausgerechnet Publizistik und Geheimhaltung auch eine gemeinsame Seite haben, bestätigt sich an diesem Fall einmal mehr. Die dabei berührte übergreifende Problematik der Kommunikation von Kryptoradikalen ventiliert Ulman Weiß im Überblick in seinem abschließenden Beitrag. Mehr von solcher systematischen Befassung mit dem Thema hätte dem ganzen Band gutgetan. Sie ließe sich wohl auch herausarbeiten, und damit wäre die Stabilisierung möglich. So käme man über die interessanten Fallbeispiele hinaus.