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Ausgabe:

Februar/1996

Spalte:

158–160

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Mell, Ulrich

Titel/Untertitel:

Die "anderen" Winzer: Eine exegetische Studie zur Vollmacht Jesu Christi nach Markus 11,27–12,34.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1994. XIII, 438 S. gr. 8o = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 77. Lw. DM 248.-. ISBN 3-16-146301-3.

Rezensent:

Martin Karrer

Daß Markus Theologe sei, mußte die ältere Redaktionskritik gegen gewichtige Impulse der Formgeschichte durchsetzen. Inzwischen wurde es Gemeingut. M. steigert es in seiner vorliegenden Kieler Habilitationsschrift (angenommen 1993): Wegen der neuen Darstellungsform, der Massivität der christologischen Überlieferung und der Bewertung der Zeit Jesu als normgebend für alle Zukunft komme dem Mk geradezu epochemachender Rang zu (1 f).

Zur Debatte stehen in der methodenbewußt ganzheitlichen Lektüre der Evangelien, die sich in den letzten Jahrzehnten verbreitet, allerdings die genaueren Konturen mk Theologie. Neben das herkömmliche Thema des Messiasgeheimnisses treten Nachfolge (C. Breytenbach), Glaube (Th. Söding) und eine Christologie der Vollmacht Jesu, die sich in spezifisch tätiger Lehre bekunde (A. H. Howe und K. Scholtissek, Die Vollmacht Jesu, 1992; s. ThLZ 118, 1993, 318 ff), als Kristallisationskerne. M.s Studie gehört mit eigenen Akzenten zu letzterer Linie. Scholtisseks Arbeit konnte sie freilich nur noch punktuell berücksichtigen, so daß für das Forschungsgesamtbild die Ergänzung der Studien zu empfehlen ist.

Während Scholtissek dem Leitmotiv der "exousia" (Vollmacht) durch das Mk folgt, entscheidet sich M. für eine Integration synchroner und diachroner Evangelienanalyse am paradigmatischen Text. Er wählt Mk 11,27-12,34 aus dem dritten Tag Jesu in Jerusalem (die Ausgrenzung S. 13-25 ist nicht ganz zwingend; das Stichwort "Vollmacht" prägt im Mk die eröffnende Vollmachtsfrage). Vorausgesetzt wird das Erzählgefälle von Mk 1-3, wo Mk das Vollmachtsthema (1,22.27;2,10; aufgrund Dan 7,14 nimmt M. 3f Einfluß von Menschensohn-Christologie an) in Auseinandersetzung mit dem Judentum bis zum "Mordbeschluß von 3,6" eröffnete. Letztere Stelle traf, meint M., auch wenn sie nur Pharisäer und Herodianer nennt, die "schriftgelehrte und pharisäische Führung" des Judentums überhaupt (21). So erwächst als Leitfrage für 11,27-12,34, wie es "um die Zukunft des Judentums bestellt ist", wenn es der Vollmacht Christi gewaltsam entgegentreten zu müssen meint, und wie um die Zukunft der "von Jesus Christus vertretenen Lehre und ihrer Anhänger" (25).

M. bespricht dazu, da er das Mk als "episodische Erzählung" begreift (14, mit C. Breytenbach), die einzelnen Episoden. Die Episoden in 11,27-12,12 behandelt er als "direkte Auseinandersetzung über die Vollmacht Jesu Christi" (27-188), die in 12, 13-34 als "indirekte Auseinandersetzung" (189-374). In der Analyse vermittelt er Züge eines konservativen und theologischen Redaktors: In den Inhalt der einzelnen aufgenommenen Traditionen habe Markus nur gering eingegriffen, aber ihre jeweilige Intention "seiner neuen narrativen Makrokonzeption" (9) zu eigen gemacht. So werden die Rahmenbildungen (11,27;12,1a.12.13.34c) Redaktion, im Inneren der Perikopen dagegen nur kleine Teile (der Verweis auf den Lehrer und das wahrhaftige Lehren Jesu in 12,14 und 12,32b; dazu bes. 11,32b; 12,15b.23b, Ausschnitte aus 12,28a.b u.a.; 29 ff, 191 ff).

Das vor-mk Stadium der Episoden führt in die hellen istisch-judenchristliche Gemeinde (wo nach M. die Vollmachtsfrage wohl erst gebildet wurde). Ältere Stadien, die er ab der Weingärtnerperikope einbezieht, bestimmt M. durchgängig zwischen Judentum und Gemeinde. Seine Rekonstruktionsentscheidungen trägt er fundiert, allerdings nicht immer zwingend, vor. Das ist von Gewicht, da M. nie bis zum irdischen Jesus zurück kommt. So plausibel die Argumentationen sind, bleibt historisch und theologisch eine gewisse Lücke: Die Chance, dem entworfenen Bild Abweichungen, womöglich die Stellung des irdischen Jesus zu konfrontieren, nutzt M. nicht im thematisch möglichen Maß.

Im einzelnen sieht M. in Mk 11,27-33* den literarischen Versuch der Gemeinde, über das Ansehen des Täufers die Vollmacht Jesu zu legitimieren. Da der Erweis dessen an der Ausrichtung der Täuferbotschaft auf Jesus hänge, könne der Versuch jüdische Zeitgenossen schwerlich überzeugen. Mk beziehe ihn auf das ganze Wirken Jesu (42-73, 173 ff).

In 12,1b-11* (von den Weingärtnern) gestalte Allegorie schon den Kern, eine weisheitlich-prophetische Gerichtsüberführungsrede (12,1b-9*), deren Erzähler die sozioökonomischen Strukturen Palästinas kenne. Theologisch spreche der Grundtext Israel in scharfer Verwerfung auf das Ende seiner Erwählungsgeschichte an; die frühe Gemeinde erfahre mit dem Tod des Umkehrpredigers Jesu (des Sohnes) Israels Sündenbecher als übervoll (vgl. Jo 8,40-42 und 1Thess 2,15 f). Die hell.-judenchristliche Gemeinde ergänze um der missionarischen Bußpredigt an Israel willen 12,10 f und in einer zweiten Schicht Teile der VV. 5cd.6ab und 7bd mit Geschichtskonzept und Sühnevorstellung (wofür M. sogar einen Bezug zu Lev 16 herstellt; bemerkenswerter sind die Vergleiche zum Hebr, bes. Hebr 1,1-4). Bei Mk avanciere Jesus zum Sprecher und werde der Text zum "Kampfgleichnis" (74-188, Zitat 185).

12,14-17 (der Zinsgroschen) bildet nach M. ein uneinheitliches Schulgespräch. Die hell.-judenchristliche Gemeinde integriere 12,17b, ein selbständiges Logion frühjüdischer Staatsethik über doppelte Loyalität zu (Fremd-)Herrscher und Gott, in 15c-17b, um ihren Weg gegenüber dem sich an der Zensusfrage spaltenden Pharisäismus zu markieren. Markus verdeutliche daran die Lehrautorität Jesu und füge in die Fragesteller die "Königspartei" der Herodianer (vgl. 3,6) ein (205-266, 354 ff, Zitat 356).

12,18-27 (über die Auferstehung) stellt M. als in Stadien gewachsenes hell.-judenchristliches Streitgespräch dar. Die Grundversion (12,18-25*) habe ihre Pointe in VV..24b-25 (mit Anspielung auf Dan 12,2 f). Das Wachstum (VV. 26 f) erweitere ­ von V. 24b angeregt ­ um einen rabbinischen Schriftbeweis aus der Tora. Bei Mk würden die Sadduzäer, deren Lehrentwurf der Tradition als respektabel galt, zu versucherischen Fragern. Jesu Gegenkritik fördere "ein reformfreudiges Judentum" (267-311, 357 f [Zitat]).

Das Lehrgespräch um das oberste Gebot 12,28-34b* enthielt nach M. von der Genese an beide Gesprächsgänge, VV. 28-31 und 32-34b* (gegen z.B. W. Weiß, Eine neue Lehre in Vollmacht, 1989); eine Kurzform bot allerdings Q (Lk 10,25-28 par). Doppelgebot und Reflexion israelitischer Kultkritik ergänzten sich, um eine Haltung wahrer Gotteserkenntnis, Gottesgehorsams und Menschenliebe zu propagieren, die die Opfergebote an zweite Stelle setzte, ohne sie definitiv aufzuheben. Das fügte sich gut in die Diasporakatechese. So dürfte die Tradition nach M. jüdisch entstanden sein. Die judenchristlich-hell. Gemeinde adaptierte sie für Jesus, da sie in ihr eine ’praeparatio evangelica’ erfuhr. Mk schließlich gab dem Schriftgelehrten durch den Kontext ein ambivalentes Gesicht (312-353, 358 f).

Die große Leistung des Mk ist das Arrangement: Als göttlicher Lehrer tritt nach ihm Jesus mit unseren Perikopen in den Dialog mit frühjüdischen Gruppen und eröffnet der "Gemeinde als Bundespartner Gottes einen Thora-Weg", "der im Glauben an den höchsten Gott nicht schwankend wird, das zukünftige Schöpfungsheil der Hoffnung einer generationenübergreifenden Auferstehung der Gerechten nicht verliert und die Liebe zu den Mitchristen wie zu allen Menschen pflegt" (374).

Verbreiternde Rückschlüsse beschließen die Studie: Das Mk bezieht sein Material aus einer hellenistischen Christengemeinde, die sich (in gewissem Abstand vom Tempelkult: vgl. 12,33d) zum Judentum zählt und nicht fern von Palästina lebt (s. die Sozioökonomie in der Winzer-Allegorie, die Zensus-Problematik beim Zinsgroschen etc.), ihre eigene Existenz schließlich "als Fortsetzung des dtn./dtr. Konzeptes eines endzeitlichen, mithin zweiten göttlichen Erwählungshandelns" denkt (vgl. 12,9bc; 378). M. wagt eine Querlinie zu den Hellenisten von Apg 8,1ff; 11,19 ff (379). Markus erhält die theologische Substanz dieser Gemeinde.

Als historisierender, allwissender und kerygmatischer Erzähler setzt er sich zudem als christlicher Theologe in Szene. Jesus versteht er als den schlechthinnigen eschatologischen Prophet, der Gerichts- und Heilsrede spricht, und vollmächtigen Lehrer. Der Heilsparaklese gibt er das Ordnungsprinzip von Glaube, Hoffnung und Liebe (12,13-17.18-27.28-34) und rückt damit wie schon im Geschichtsbild (vgl. o.) in die Nähe des Hebr (10,19-25). In nachapostolischer Zeit wendet er sich an eine sich nun vom Judentum abgrenzende, heidenchristliche Gemeinde, doch als judenchristlicher Autor und Theologe (379-386).

Nach M. ist Markus also in bemerkenswerter Weise Theologe: judenchristlicher Autor ist er auch und gerade, wo er sich scharf mit dem Judentum auseinandersetzt, und Wahrer hell.-judenchristlichen Erbes für Heidenchristen. Die Scharniere dieser Position bilden die Auswahl des besprochenen Textausschnitts und die Analyse von Tradition und Redaktion. Wer dort je anders entscheidet, wird die Folgerungen zu prüfen haben. Er/sie wird sich aber dem Eindruck von M.s Gesamtbild wie vielen markanten Einzelentdeckungen (etwa im Vergleich von Mk und Hebr) nicht leicht entziehen können.