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Ausgabe: | Juni/2011 |
Spalte: | 654-655 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: Mittelalter |
Autor/Hrsg.: | Angenendt, Arnold |
Titel/Untertitel: | Die Gegenwart von Heiligen und Reliquien. Eingeleitet u. hrsg. v. H. Lutterbach unter Mitarbeit v. S. Eck. |
Verlag: | Münster: Aschendorff 2010. 260 S. gr.8°. Geb. EUR 29,80. ISBN 978-3-402-12836-7. |
Rezensent: | Volker Leppin |
»Heilige und Reliquien«, erstmals 1994 erschienen, gehört zu den wichtigsten Werken der kirchenhistorischen Mediävistik. In dieser grundlegenden Monographie hat Arnold Angenendt die leicht mit dem Geruch des Behäbigen versehene Frömmigkeitsgeschichte in einen breiten kulturhistorischen Zusammenhang gestellt und zugleich das Meisterstück vollbracht, ein Stück Mentalitätsgeschichte sauber chronologisch sortiert aufzubereiten.
Mit dem jetzt als Gabe zum 75. Geburtstag A.s vorgelegten Sammelband erschließt Hubertus Lutterbach die weiteren Denkbewegungen A.s zur Thematik, vor allem aber die methodischen Überlegungen, die für das Wirken des Münsteraner Kirchenhistorikers leitend sind. Der Zusammenhang mit der Gegenwart ist dabei immer wieder auch im historischen Argument erkennbar – welches theologische Engagement er auf Grundlage historischer Arbeit zu entwickeln vermag, hat A. in den vergangenen Jahren im Zusammenhang der Toleranzdebatte gezeigt. Den weiten Assoziationsraum, den die Thematik »Heilige und Reliquien« von Hape Kerkeling bis zum Sterben von Johannes Paul II. oder der Ausstellung »Körperwelten« abschreitet, stellt der Herausgeber selbst in seiner geistreichen Einleitung vor.
Die von ihm ausgewählten Aufsätze bieten einen schönen Einblick in die Arbeitsweise und das Fachverständnis A.s. Eröffnet werden sie durch einen Beitrag über »›Gesta Dei‹ – ›gesta hominum‹« (31–63), der einen weiten Bogen von theologischer Deutung der Geschichte in Bibel und Patristik in das hohe und späte Mittelalter schlägt. Die Studie war ursprünglich für einen Sammelband zur Historiographie im Mittelalter bestimmt und zeigt auf diesem von Historikern reichlich bearbeiteten Feld vorbildlich den Beitrag der theologisch belehrten Kirchengeschichtsforschung, die die Vorstellungen von Gottes Handeln wie die vom Handeln seiner Widersacher, Teufel und Dämonen, zu betrachten hat. Die Arbeitsweise A.s, wie sie in seinen großen Monographien zu beobachten ist, zeigt sich auch hier durch die überraschende und erhellende Konfrontation kontextuell heterogener Quellenstücke: Der antikatharischen Depotenzierung des Teufels zu einem gefallenen Geschöpf Gottes auf dem Vierten Lateranum stellt A. die Kämpfe der Heiligen mit Dämonen und Teufeln gegenüber. Er tut das typischerweise nicht allgemein, sondern anhand des sachlich austauschbaren, aber wunderbar plastischen Beispiels der Kölner Begine Christine von Stommeln (51). Wer sich als Historiker so auf eine Wirklichkeitsvorstellung einlässt, in der mit dem geschichtlichen Handeln jenseitiger Mächte gerechnet wird, kommt nahezu selbstverständlich auch zur Frage des Wunders, dem A. in einem eigenen Beitrag von der Antike bis weit in die Neuzeit nachgeht (65–87). Die »Renaissance des 12. Jahrhunderts« erscheint dabei mit ihrer Rationalisierung fast als Vorbote der Aufklärung, die durch ihre Wunderkritik einen »einmaligen wie auch radikalen Umschwung bewirkte« (76). Den schon im Mittelalter vollzogenen Wandel macht A. deutlich, indem er die Einsicht des Martin von Tours, er könne eine Feuersbrunst nur durch Anrufung Gottes verhindern, hypothetisch mit der neuen Auffassung konfrontiert: »Jetzt musste Löscharbeit geleistet und für Löschgerät vorgesorgt werden.« (74)
Zum Komplex solcher eher grundlegenden Beiträge gehört eigentlich auch der an das Ende gerückte Beitrag über Patrozinienkunde (209–259), der in Auseinandersetzung mit aktuellen Forschungen erkennen lässt, wie insbesondere die im evangelischen Bereich vielfach noch unterbestimmte liturgiewissenschaftliche Kompetenz zu einer erheblichen Phänomendifferenzierung geführt hat: Die im 19. Jh. und gelegentlich bis in die jüngere Forschung hinein mit viel Liebe zum Detail getriebene Suche nach bestimmten Heiligenpatrozinien ist nicht nur aufgrund der Überlagerung durch Christuspatrozinien seit der Karolingerzeit schwerer geworden, sondern auch wegen des vielfältigen Geflechts von Patrozinialbezügen zwischen den unterschiedlichen Altären einer Kirche und der sie strukturierenden liturgischen Hierarchie.
Neben solchen eher grundlegenden Arbeiten stehen Studien im Detail, die vornehmlich um den Umgang mit dem Tod beziehungsweise dem Leib des Verstorbenen kreisen: über das corpus incorruptum als Vorstellung der mittelalterlichen Reliquienverehrung (109–143), die Bestattung inner- oder außerhalb der Kirche (145–161), Reliquiengärten (163–191) und den Auferstehungsleib (193–207). In all diesen Zusammenhängen beachtet A. mit gleichem Gewicht die kommunikative Symbolik innerhalb der Gesellschaft wie die theologischen Implikationen und Gründe bestimmter Verhaltensweisen und Denkkonzeptionen. Wer so breit in die kulturwissenschaftliche Debatte eingebunden ist, kann dann auch den Mut haben, sich in der Frage nach dem Realitätsgehalt der Berichte vom corpus incorruptum nicht in vage Ausflüchte zu verlieren, sondern Wahrscheinlichkeiten abzuwägen (116). Ebenso dezidiert und nachvollziehbar ist sein Plädoyer dafür, die Reliquienverehrung, die er in allen Verästelungen darstellt, nicht als Kuriosität oder gar Zeichen eines »finsteren Mittelalters« zu verstehen, sondern als Ausdruck einer letztlich personenbezogenen Frömmigkeit (134). Dem steht spiegelbildlich die Vorstellung vom Licht-Leib der Heiligen gegenüber, in der sich die paulinische Rede vom Auferstehungsleib 1Kor 15 und die Verklärungsgeschichte zu einem eigenen mentalen Komplex verbinden. Wie von der erwarteten Topographie des Jenseits her das Diesseits gestaltet wird, zeigen die Überlegungen zu Begräbnisplätzen – um der Heiligkeit willen in der Nähe des Altars oder aus Demut gerade außerhalb der Kirche – und die Vorstellung von Reliquiengärten als sinnenhafter Verwirklichung des Zusammenhangs von Tod und Leben.
Am stärksten auf die Person eines Heiligen bezogen ist schließlich der Beitrag über Martin von Tours (89–108). Anknüpfend an Peter Browns Studien zur Spätantike arbeitet A. in der Martins-Vita des Sulpicius Severus die Konkurrenz zwischen der asketischen Autorität Martins und seiner von dieser eher infrage gestellten als unterstützten Bischofsautorität heraus – letztlich wird dies in der Tradition des Mittelalters auch zu einer Anfrage an den character indelebilis, und so führt auch diese biographische Fragestellung mitten hinein in grundlegende theologische Debatten.
Herausgeber und Verlag ist dafür zu danken, dass sie diese verstreut erschienenen Pretiosen gesammelt und gemeinsam zum Druck gebracht haben. Sie machen neugierig auf A.s nächste große Monographie.