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Ausgabe:

Juni/2011

Spalte:

650-653

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Weber, Friedrich, Hoffmann, Birgit, u. Hans-Jürgen Engelking [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Von der Taufe der Sachsen zur Kirche in Niedersachsen. Geschichte der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig.

Verlag:

Braunschweig: Appelhans 2010. 928 S. m. zahlr. Abb., Ktn. u. Tab. gr.8°. Geb. EUR 29,80. ISBN 978-3-941737-25-9.

Rezensent:

Gert Haendler

Die Evangelisch-Lutherische Landeskirche in Braunschweig ist eine von fünf Landeskirchen in Niedersachsen, über deren Zukunft diskutiert und nach deren Wurzeln daher gefragt wird (9). Den TeilI »Gang durch die Braunschweigische Kirchengeschichte« lässt Reinhart Staats im Frühmittelalter beginnen mit seinen großen kirchlichen und politischen Themen wie der Christianisierung nach den Sachsenkriegen Karls d. Gr. im 9. Jh. und der für die Entstehung einer deutschen Geschichte so folgenreichen Epoche der Ottonenkaiser im 10. Jh. (21). Die Landeskirche Hannover war erst 1692 aus dem Kurfürstentum Hannover hervorgegangen (23).
Widukind ließ sich 785 taufen, seine Familie wurde »zur festen Stütze der Kirche« (32). Als Entstehungsort des Heliand hält Staats neben Fulda auch Corvey, Werden oder Helmstedt für möglich. Eine andere Hypothese besagt, der Codex argenteus könne über 700 Jahre in der Abtei Helmstedt gelegen haben. Jedenfalls war um 900 »das Christentum im Raum der heutigen Braunschweiger Landeskirche fest geordnet« (38). Die Äbtissin von Gandersheim hat mit der aus Byzanz gekommenen Kaiserin Theophanu griechisch gesprochen (44). Im Investiturstreit war Goslar die heimliche Hauptstadt des Reiches. Heinrich IV. hat oberhalb Goslars die Harzburg erbaut, vielleicht auf Anraten Erzbischof Adalberts von Bremen, dessen Leben unter Heinrichs Schutz in Goslar endete (49). Braunschweig war Machtzentrum Heinrichs des Löwen, der nach der Niederlage 1176 sein Braunschweiger Kernland behielt. Helmold von Bosau, der Autor der Slawenchronik, war »ein aus Braunschweig kommender Theologe, Pfarrer und Historiker« (76).
Die Reformation hat mittelalterliches Erbe bewahrt: Das Hochrelief mit Franziskus in der Brüderkirche wurde nie zerstört, und für dieselbe Kirche, die 1544 die evangelische Gemeindekirche St. Ulrici wurde, haben lutherische Theologen und Künstler das Chorgestühl mit Bildern von Kirchen- und Mönchsvätern wie St. Augustin und St. Bernhard geschmückt. Erst seit dem 18. Jh. wurde es auch als Folge der Aufklärung unter Protestanten nicht mehr üblich, »sich auf mittelalterliche und altkirchliche Zeugen ( testes veritatis) zu berufen« (95). Ein uraltes Dokument der Kirche in Braunschweig ist das Imervardkreuz im Braunschweiger Dom (12./13. Jh.), das Christus als Weltenrichter zeigt. Es wird auf dem Umschlagbild abgebildet. Freilich könnte man fragen, ob ein Chris­tus, der als imperialer triumphans, »bekleidet mit der Tunika im kaiserlichen Purpur, zum Weltgericht zurückkehrt«, typisch ist für eine evangelische Kirche. Das Bild unterstreicht jedoch, dass Braunschweig im Land Niedersachsen die älteste Tradition hat. Die Kirchengeschichte des Mittelalters in jener Region ist jedenfalls ein gut gelungener Schritt auf Neuland, denn die bisher einzige Geschichte der Braunschweigischen Landeskirche von Johannes Beste 1899 setzte erst mit der Reformation ein.
Klaus Jürgens berichtet über »Das Zeitalter der Reformation im Lande Braunschweig«. In Braunschweig haben die Bürger vom Rat die Reformation erzwungen. Luthers 95 Thesen waren früh be­kannt. Theologen (u. a. Nikolaus Decius) gingen nach Wittenberg; mehrere Bürger wurden ausgewiesen. Der Jurist Autor Sander sorgte dafür, dass »keine Unruhe entstand und dass verhandelt wurde« (135). Der Rat gab nach, einem Reformprogramm vom März 1528 folgte mit Hilfe Bugenhagens »Der Ehrbaren Stadt Braunschweig Christliche Ordnung«. In Goslar gab es mehr Konflikte, weil Herzog Heinrich der Jüngere die Reformation verhindern wollte. Aber auch hier wurde 1525 die Verfassung geändert. Hilfe leistete 1525 und 1530 Nikolaus von Amsdorf. Danach schloss sich Goslar dem Schmalkaldener Bund an. – Nach der Niederlage der Schmalkaldener erstrebte der Herzog die Katholisierung. Aber der katholische Herzog Heinrich wich bald seinem Sohn Julius, einem Anhänger Luthers. Julius übertrug Martin Chemnitz und Jakob Andreae eine Visitation, die Kirchenordnung von 1569 setzte Nikolaus Selnecker um (164). Die Visitation 1590 zeigt, wie weit der lutherische Glauben schon in der Bevölkerung verankert war (171).
Inge Mager stellt das Konfessionelle Zeitalter dar: Braunschweig erstrebte Unabhängigkeit vom Herzog (181). Nach fast 30 Jahren der Feindschaft musste die Stadt 1616 dem Landesfürsten huldigen. In Braunschweig fand Johann Arndt Drucker und Kritiker sowie eine Pfarrstelle (1599–1605). Der 30-Jährige Krieg brachte schwerste Verluste, die Stadt musste erneut dem Herzog huldigen. Der »Welfenschatz« wurde 1671 aus Braunschweig nach Hannover gebracht. Georg Calixt entwarf in Helmstedt 1626 »erste Konturen eines toleranten Miteinanders«. Er war für orthodoxe Lutheraner »ein Verräter der Reformation, für Katholiken ein nicht tolerierbarer Bestreiter des Papsttums« (200). Johann Arndt und Georg Calixt fanden Schutz beim Herzog August – »einer bedeutenden Gestalt der Kirchengeschichte« (203). 1667 erschien Joachim Lütkemanns Vorgeschmack göttlicher Güte. Der Herzog förderte solche Frömmigkeit, für kurze Zeit war Wolfenbüttel ein »Kristallisationspunkt des Pietismus« (210). Das Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel geriet damals jedoch in den Schatten des Hauses Hannover, das nach der Kurwürde 1692 auch noch die Anwartschaft auf die englische Krone erwarb (222).
Peter Albrecht schildert »Die Braunschweigische Landeskirche zur Zeit der Aufklärung«. Die Landeskirche war gut geordnet, auch für Schulen wurde gesorgt. Die Pastoren sollten in Helmstedt studiert haben, wo u. a. Wilhelm Abraham Teller 1762–1767 lehrte. Aufsehen erregten die Fragmente eines Ungenannten aus der Bibliothek Wolfenbüttel, doch behielt Lessing seine Stellung. Nathan der Weise wurde zwar daraufhin nicht aufgeführt, erfreute aber den Herzog und seine Freunde (259). Auch der aufgeklärte Abt Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem »hatte das Ohr des Herzogs« (260). Daneben gab es orthodoxe Lutheraner und Pietisten, die auch ihre Ansichten vertreten und drucken lassen konnten. Aber der Helmstedter Generalsuperintendent Johann Caspar Velthusen trat deutlich für die Aufklärung ein. Dabei wollten die Vertreter der Aufklärung »als Teil der Pfarrerschaft wahrgenommen werden« (272).
Hans-Jürgen Engelking skizziert die Braunschweigische Landeskirche im 19. Jh. (283–331). Unter Napoleon gehörte das Land zum Königreich Westfalen. Der Wiener Kongress stellte das Herzogtum Braunschweig 1815 wieder her, die Kirche blieb – wie überall im Deutschen Bund – unter landesherrlichem Kirchenregiment bis 1918. Die Neulutheraner wurden zur stärksten Partei, es gab jedoch auch Anhänger Schleiermachers. Der Wolfenbüttler Predigerverein wollte eine »Besprechung der Heiligen Schrift ohne doktrinäre Vorentscheidung«. Herrnhuter Einflüsse liegen bei der Braunschweigischen Bibelgesellschaft vor. Politisch wirkte Pfarrer Heinrich Jürgens, der 1848 im Frankfurter Parlament zur liberalen »Casinopartei« gehörte (304). Die 1852 entstandene Konferenz der Diener und Freunde der evangelisch-lutherischen Landeskirche nannte sich 1887 Evangelisch-lutherische Vereinigung. Liberale Theologen gründeten einen freien kirchlichen Verein. Obwohl viele Arbeiter sich der Kirche entfremdeten, blieben Kirchenaustritte bis 1900 in Grenzen (312). Kirchenvorstände aus Laien entstanden, 1872 trat die erste Landessynode zusammen (316). Man beteiligte sich 1852 an der Eisenacher Kirchenkonferenz und 1867 an der Leipziger »Lutherischen Konferenz«. Eduard Schall bemühte sich um eine Verbindung zur Sozialdemokratie und wurde als Pfarrer 1899 entlassen. Viele seiner damaligen Ziele sind uns heute selbstverständlich (341).
Dietrich Kuessner arbeitet zur Braunschweigischen Landeskirche im 20. Jh. Bei Kriegsausbruch 1914 herrschte »betroffenes Schweigen, viele Frauen weinten« (350). Gottesdienste waren ernst, aber dahinter »steckte kein Nein der Kirche zum Krieg« (351). Waffen wurden gesegnet, eine »Vulgärtheologie« stand dem Kitsch nahe (354). Die Deutsche Vaterlandspartei fand auch bei Pfarrern in Braunschweig Anklang (358). Die Niederlage 1918 brachte »kein Überdenken der Kriegstheologie« (360). Im kirchlichen Alltag der Gemeinden war die Revolution wenig zu spüren (362). Die Weimarer Verfassung beendete die Zeit der Unsicherheit (363). 1923 wurde ein Staatsvertrag geschlossen. Am 16. September 1923 wurde Alexander Bernewitz der erste Braunschweigische Landesbischof, »das wichtigste Ereignis in der Geschichte der Landeskirche nach Einführung der Kirchenordnung von Herzog Julius 1569«, denn damit hatte die Verbindung von Kirche und Staat ihr Ende gefunden (366). Die Kirchengemeinden waren dabei ein fester Faktor. »Der Übergang von der Staatskirche zur Volkskirche war von der Kirchenbasis ausgegangen.« (367) Die »Demokratiefeindlichkeit der evangelischen Kirche in der Weimarer Zeit« ist eine Übertreibung (369).
Nach den Landtagswahlen 1930 löste eine Koalition mit der NSDAP die SPD-Regierung ab, ein NSDAP-Führer erklärte »Wir sind für die Kirche«, ein Naziminister behauptete eine innere Verbindung von Christentum und Germanentum (379). Hitlers Machtübernahme hatte hier ein Vorspiel. Bischof Bernewitz trat aus Altersgründen 1933 zurück, Wahlen brachten den DC die Mehrheit. Ein DC-Bischof wurde im Januar 1934 eingeführt, musste aber bald verzichten. Angehörige des Pfarrernotbundes verloren ihre Ämter. Der im November 1934 gewählte Landesbischof Johnsen schloss sich dem Weg der Bischöfe Marahrens und Meiser an: Braunschweig trat 1937 dem Lutherrat bei. Damit wollte man die Landeskirche als Volkskirche erhalten. Das seit 1933 offensichtliche Unrecht Hitlers nahm man dafür in Kauf (388). Zwischen 1933 und 1936 gab es Wiedereintritte, zudem wurden neue Kirchen gebaut. Der Dom wurde als »deutsch-kirchlicher Staatsdom« umgestaltet, doch weder Hitler noch Goebbels oder Himmler besuchten ihn (394). 1938 wurde das Landeskirchenamt gleichgeschaltet und Bischof Johnsen »vollständig isoliert« (395). Die Pogrome gegen die Juden 1938 wurden schweigend hingenommen; zwei Pfarrer mit jüdischen Vorfahren entlassen (397). Im 2. Weltkrieg gab es schwere Verluste: 1945 waren 35 Pfarrer und Diakone gefallen und 91 Kirchen sowie 76 kirchliche Häuser beschädigt (17 total, 44 schwer). Nach 1945 verlief die Entnazifizierung langsam, das Stuttgarter Schuldbekenntnis »erreichte nicht die Mehrzahl der Braunschweiger Pfarrerschaft und auch nicht des Braunschweiger Kirchenvolkes« (409). Die erhoffte »Rechristianisierungswelle als Antwort auf den nunmehr dämonisierten … Nationalsozialismus« blieb jedoch aus (415).
Nach Bildung des Landes Niedersachsen 1946 lag die Gründung einer Kirche in Niedersachsen nahe. Es gab jedoch Bedenken, von der viel größeren Hannoverschen Kirche »verschluckt« zu werden (420). Ein Problem war die in der Ostzone gelegene Propstei Blankenburg (422/424). Die Jahre 1965 bis 1982 werden erfasst als »Re-­formjahre in der Landeskirche« (424). Dazu gehört das 1968 von Landesbischof Heintze eingefädelte Gesetz der Zulassung von Frauen zum geistlichen Dienst (427). Kirchenaustritte gingen weiter: In sechs Jahren (1970–1976) waren ebenso viele Mitglieder ausgetreten wie in den zwölf nationalsozialistischen Jahren (432). 1970 stimmte die Landessynode einer Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen zu. Mit der Wahl von Gerhard Müller zum Landesbischof begann eine altlutherische Phase (1982–1994), in der aber auch die Frage des Atommülls in der Region dringend wurde. Kritisch wurde nach dem Verhalten der Kirche in der NS-Zeit gefragt, und zwar in einer Form, die »in den norddeutschen Landeskirchen seinerzeit nicht häufig anzutreffen« war (443). 1993 wurde Chris­tian Krause Landesbischof, der Reformen förderte, sein Nachfolger wurde 2002 Friedrich Weber. Teil I endet mit der Feststellung einer allgemeinen Säkularisierung, die aber keine atheistische Grundstimmung der Braunschweiger Gesellschaft bedeute. Das Profil der Landeskirche in dieser säkularen Gesellschaft »ist eine Kirche der Minderheit mit Zu­kunft« (454).
Teil II »Die Kirche in der Gesellschaft« (463–900) beschreibt die gegenwärtige Kirche: das Konsistorium, evangelische Klosterpo­litik, Kulturbesitz, Finanzen, Prediger, Küster, Konfirmation, Diakonie, Kirchenbau, Kunst, Musik, das Verhältnis zu anderen Religionen und Konfessionen. Karten, Tabellen und Register sind zur Veranschaulichung beigefügt.
Der Band zeigt einmal mehr, wie die gründliche Darstellung der Kirchengeschichte einer relativ kleinen Region für die allgemeine Kirchengeschichte sehr wertvoll sein kann. Eine geschickte pädagogische Aufmachung mit vielen Bildern und dazu passenden Texten erhöht noch den Wert dieses Buches.