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Ausgabe:

Februar/1996

Spalte:

156–158

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Koch-Häbel, Bärbel

Titel/Untertitel:

Unverfügbares Sprechen. Zur Intention und Geschichte des Gleichnisses.

Verlag:

Münster: Aschendorff 1993. VIII, 396 S. gr 8o = Literatur als Sprache, 10. Kart. DM 88,­. ISBN 3-402-03524-3.

Rezensent:

Ulrich Schoenborn

Die hier vorzustellende Untersuchung, deren Titel einen Beitrag zum Fachgebiet Neues Testament erwarten läßt, hat 1991 der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation vorgelegen. Forschungsgeschichtliche, überlieferungsgeschichtliche und redaktionsgeschichtliche Überlegungen zu Markus 4,3-9 nehmen in der Tat gebührenden Raum ein (9-124). Das Gleichnis vom Sämann ist aber nicht nur Referenztext, um die Geschichte der Gattung zu erhellen, sondern auch das Paradigma der Gleichnisse Jesu schlechthin. Von dieser Basis her wird eine Interpretationslinie bis in die Moderne gezogen. Insgesamt ist die Arbeit jedoch in germanistisch-literaturwissenschaftlicher Perspektive geschrieben worden, wie 125-365 zeigen. Ohne Zweifel bereichert das interdisziplinäre Vorgehen die exegetische Wahrnehmungsfähigkeit. Der weite Horizont erschwert andererseits eine sachgerechte Bewertung im Detail.

Die Vfn. stellt ihr Projekt gleich zu Beginn als ein dezidiert hermeneutisches vor, das deswegen die Grenzen des Fachgebietes überschreitet. Gleichnisse sind ",Lesarten’ unverfügbaren Sprechens", "Variationen zu einem ’Grundtext’, der ungesagt und unfaßbar bleibt" (1) und dennoch in sprachlicher Vermittlung begegnet. Diese Feststellung gilt für biblische wie für literarische Gleichnisse. Die Geschichte der Gattung ’Gleichnis’ muß darum als die "Geschichte einer literarischen Intention" verstanden werden. Anders ausgedrückt, es geht um einen "offenen Prozeß", "der durch jedes neue Werk (sc. über Gleichnisse) verändert fortgeführt wird" (58; H. Arntzen). Konsequent lehnt die Vfn. gattungstypologische Bestimmungen sowie die Dichotomie von literarischem und religiösem Sprechen ab (vgl. 2ff). Gleichnishaftes Reden korrespondiert der Suche nach Sinn und Wahrheit. Es weist in den transzendierenden Vorgang des Verstehens ein.

Im kritischen Dialog mit exemplarischen Auslegungen von Mk 4,3-9 wird das Gleichnis als "Sprachereignis" (vgl. 18; 42 ff. Es findet sich kein Hinweis auf Ernst Fuchs, der diese Kategorie in die Gleichnisauslegung eingeführt hat.) vorgestellt bzw. der Nachweis geführt, daß es "keine für uns noch rekonstruierbare Situation des Gleichnisses hinter dem Text (sc. gibt), die Situation des Gleichnisses ist nichts anderes denn der literarische Kontext" (31). Hermeneutisch-exegetische Reflexionen (49 ff; 81ff) führen aus, wie "das im Gleichnis Gesagte... schon das mit dem Gleichnis Gemeinte" (50) ist. Der "Sinn des Gleichnisses ist es selbst als ’Gleichnis’" (57), keineswegs aber ein übergeordneter Begriff o.ä. Gleichwohl "gibt es... eine bedeutsame ’Lehre’ an den Hörer, als Lehre Jesu, der selbst literarische Figur und Lehre des Markusevangeliums ist" (57; vgl. 85: er ist "ein Gleichnis des Gleichnisses"). Welt wird somit als Wirklichkeit Gottes in einem hermeneutisch-literarischen Prozeß konstituiert. Mit dieser Grundstruktur setzt das Gleichnis vom Sämann als "Paradigma aller Gleichnisse" (57) das fundamentale Sprechen des Alten Testaments in einer veränderten Weise fort, d.h. die Tradition des Maschal (vgl. 58ff; 89ff). "Die Welt ist ... nicht das ontologische Korrelat zur Rede, sondern existiert in und durch Sprache, einer Sprache, die als ’Wort Gottes’ identifiziert und damit in ihrer Unverfügbarkeit begriffen wird" (99). ­ Mit dem vierten Kapitel reflektiert Markus außerdem, "wie er alle sechzehn Kapitel verstanden haben will" (86). Matthäus akzentuiert in seiner Rezeption (13,3b-9) die Verstehensfrage (vgl. 13,52) und trägt eine rationalisierende Tendenz in das Gleichnis ein. Bei Lukas geht es ­ die Vfn. bezieht 10,15-37 in die Überlegungen mit ein ­ "um den Zuspruch des Unerwarteten" (121). Die Erfahrung einer neuen Wirklichkeit evoziert neue Handlungsweisen.

Im zweiten Hauptteil (125-232) behandelt die Vfn. Tradition, Funktion und Intention der Gleichnisse in den ersten Jahrhunderten (Allegorese als frühchristliche Hermeneutik; die Auslegung von Mt 20,1-16 durch Origenes und Augustin) und im Mittelalter (Wolfram von Eschenbach; Ulrich Boner). Die vorgestellten Beispiele reflektieren ebenfalls die Unverfügbarkeit von Sinn und initiieren auf der Grundlage sprachlicher Vermittlung einen hermeneutischen Prozeß. Wichtig ist der Hinweis, daß die allegorische Lektüre der Bibel sich parallel zur Konsolidierung der Kirche als Institution entwickelt. Mit wachsendem historischen Abstand geht jedoch das Bewußtsein von der Sprachlichkeit der Texte verloren. ’Versteinerung’ ist die Kehrseite der Autorisierung der Schrift. Die Identität der Worte wird zum Problem. An "die Stelle der Sprachtheologie" tritt mehr und mehr "eine ontologische Theologie" (171).

Mit der Interpretation exemplarischer Texte von M. Luther (Sprechen als Übersetzen), G. E. Lessing, J. G. Hamann, Novalis, J. W. von Goethe, F. Nietzsche, G. Keller und F. Kafka wird im dritten Hauptteil (233-363) das moderne Gleichnisverständnis nachgezeichnet, in dem sich die geistesgeschichtlichen Umbrüche wiederspiegeln (vgl. 259ff). "Je mehr... Sprache im 19. Jahrhundert den Charakter einer Ware erhält und bloßes Mittel der Tat wird, desto skeptischer werden auch die Dichter der Poesie gegenüber, ihrem einzigen Darstellungsmodus und dem eigenen Identitätsgrund" (324). Nicht von ungefähr gipfelt die Arbeit in der Auslegung eines Textes von Kafka (352-363: "Von den Gleichnissen"), der die Sprachskepsis zu überwinden versucht, indem er sie verschärft. In der Interpretationslinie der Vfn. verfolgen Jesu Gleichnisse und Kafkas Parabel dieselbe Intention. Ihre Gleichnisse stellen "das jeweils gängige Paradigma der Welterfahrung in Frage und überschreiten, transzendieren dessen Grenzen, indem sie jeweils die Kunde eines sinnvollen Redens gegen die gängigen Lehren und den konventionalisierten Sprachgebrauch ihrer Zeit stellen" (364). Das "sagenhafte Drüben" kommt also nicht ’gleichnislos’ zur Sprache. Wahres begegnet nicht anders als gleichnishaft. Zwar wird das Unverfügbare nicht verfügbar, setzt sich aber doch als sprachlich Vermitteltes einer Rezeption aus. So verstanden stellen die Gleichnisse nicht nur einen hermeneutischen Prozeß dar, sie eröffnen zugleich einen weiteren, in dem es um die Selbstveränderung des Lesers geht (vgl. 17; 97 f; 123; 297; 361; 365). Die Aufforderung "Gehe hinüber" (= ’metaphere’, transcende) legt den Lesern Kafkas nahe, "sich selbst als die Anwendung der Metapher... zu erweisen" (361). Nun gibt es in der Moderne den universalen Sinnhorizont nicht mehr. Geblieben ist aber das Bewußtsein der Sprache als Gleichnis. Dessen kann sich der Verstehende vergewissern und darüber selbst zum Gleichnis werden.

An dieser Untersuchung besticht die Art, wie hermeneutisches Ethos und exegetische Wahrnehmung kooperieren. Interdisziplinarität und Intertextualität führen zu Einsichten, die jetzt auf theologische Aneignung warten. Gleichwohl wirft die breit angelegte Untersuchung Fragen auf. Im literaturwissenschaftlichen Ansatz geht Vfn. von den Forschungen ihres Doktorvaters Helmut Arntzen aus. Reduziert diese Anlehnung nicht den Blick auf verwandte Überlegungen (z.B. Johannes Anderegg, Sprache und Verwandlung. Zur literarischen Ästhetik, Göttingen 1985)? Der exegetische Teil beschränkt sich auf klassische Autoren (A. Jülicher, R. Bultmann, J. Jeremias, W. Marxsen, E. Jüngel, P. Ricoeur), nimmt die neuere Diskussion (z.B. H. Weder, W. Harnisch) jedoch nur am Rande auf. Gehört der Dialog mit den Literaturwissenschaften nicht schon seit geraumer Zeit zu den Selbstverständlichkeiten der Gleichnisforschung (vgl. W.Harnisch, Beiträge zur Gleichnisforschung [1984-1991], ThR 59, 1994, 346-387)? Daß den Gleichnissen eine fundamentale Verweisfunktion zukommt, wird immer wieder betont. Wie dieser Zeichencharakter linguistisch oder theologisch zu verstehen ist, bleibt (trotz 167 ff) offen. Vfn. arbeitet mit fundamentaltheologischen Prämissen, über die der Leser gerne mehr erfahren hätte.

Woher kommt z.B. das S. 72 vorausgesetzte Sprachverständnis? Und schließlich: Sind "Reich Gottes" und "das Wahre" kompatibel? M. a. W., was begründet die Behauptung, daß es den biblischen wie den literarischen Gleichnissen um dieselbe Sache geht, "den biblischen, indem sie den Unverfügbaren, Gott, zur Sprache bringen wollen, den neuzeitlichen, indem sie ihre Intention als unverfügbaren Sprachprozeß darstellen" (8)?