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Ausgabe:

Juni/2011

Spalte:

637-638

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gielen, Marlies

Titel/Untertitel:

Die Passionserzählung in den vier Evangelien. Literarische Gestaltung – theologische Schwerpunkte.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2008. 237 S. gr.8°. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-17-020434-8.

Rezensent:

Thomas Knöppler

Nach einer Einführung zu den traditionsgeschichtlichen Hintergründen und der theologischen Intention der Passionserzählung sowie einer Feststellung über die erheblichen Abweichungen des Johannesevangeliums von den synoptischen Evangelien (13–18) bietet Marlies Gielen einen kurzen Überblick über die einzelnen Szenen des Textbestandes (19–24). Im Hauptteil des Buches geht sie in 16 Schritten erläuternd durch die Passionsüberlieferung der vier Evangelien (25–236). Den Schluss bilden einige wenige Literaturhinweise (237).
Untertitel und Vorwort weisen auf Charakter und Begrenzung der Darstellung hin: Im Fokus stehen literarische und theologische Beobachtungen, weniger historische und überlieferungsgeschichtliche Hintergründe. Gleichwohl sieht sich die Vfn. veranlasst, in ihre Darstellung vier Exkurse einzustreuen: über die politischen und rechtlichen Implikationen der Verurteilung Jesu (27–34), die Auskünfte der Evangelienüberlieferung zu Maria Mag­dalena (50–53), die neutestamentliche Herrenmahlsüberlieferung (74–86) und die antike Todesstrafe der Kreuzigung (192–195). Dazu treten Zwischenüberlegungen mit folgenden Themen und Personen: zur Textkritik (107.126 f.169.205.208 f.), zur Literarkritik (94 f.), zur Zweiquellentheorie (16), zur Strafe der Geißelung (168), zur Passa-Amnestie (151 f.), zu Jesus Ben Ananias (33.125), zu Hannas und Kaiaphas (139), zum Ende des Judas (146), zu Pontius Pilatus (148 f.), zu Herodes Antipas (164 f.), zum Tag (58.226 f.) und zur Tageszeit (196 f.) der Kreuzigung sowie zum letzten Wort Jesu am Kreuz (216).
Ihrem Ziel entsprechend, die Passionsüberlieferung für im kirch­lichen Dienst tätige Personen – Pfarrer und Laien – zu er­schließen, verbleibt die Vfn. bei der Darstellung auf allgemeinverständlichem Niveau. Wo es sinnvoll erscheint, ist der griechische Wortlaut in Transkription und in Klammern beigegeben. Auf Literaturhinweise wurde im Verlauf der Arbeit am Text nahezu vollständig verzichtet.
Zu geeigneten Textstellen gibt die Vfn. gelegentlich Hinweise auf die jeweiligen literarischen und theologischen Tendenzen der vier Passionstexte. Unter literarischer Perspektive ist mutatis mu­-tandis für Mk die Detailfreudigkeit (59), für Mt die Personalisierung (100), für Lk der Erzählfluss (52) und für Joh die Fülle an Vorverweisen auf den Tod Jesu (39) kennzeichnend. Theologische Akzente setzt Mk etwa durch Manifestationen des Jüngerunverständnisses (26.109), Mt durch die negative Präsentation des Judas (69), Lk durch die Darstellung des letzten Mahles Jesu mit seinen Jüngern als Passamahl (73) und Joh durch das mit »hoheitsvoll-souveränen Zügen« (87) gezeichnete Jesusbild.
Die oft aufgeworfene Frage nach der Schuld am Tod Jesu wird von der Vfn. zwar nicht thematisiert, kommt aber auf dem Wege der Interpretation an geeigneten Stellen zur Sprache. Die genauen Beobachtungen am Text lassen offenbar die pauschale Behauptung einer von Mk über Mt und Lk bis hin zu Joh zunehmenden Tendenz der Belastung der jüdischen Obrigkeit und der Entlastung der römischen Behörden nicht zu. Dagegen ist bei der Darstellung Jesu in der Erzählung über seine Verhaftung eine »Tendenz … von der Rolle des Opfers hin zur Rolle des souveränen Herrn über die Ereignisse« (117) erkennbar.
Die Vfn. hat mit ihrem Buch eine kurze, aber gleichwohl differenzierte Darstellung der urchristlichen Passionsüberlieferung vorgelegt. Die Konzentration auf die Evangelientexte zahlt sich aus, insofern die wesentlichen Aussagen der Texte wirklich er­schlossen werden. Aufgrund der präzisen Wahrnehmung des griechischen Wortlauts wird die Lektüre mit vielen erhellenden Einsichten und tiefgründigen Exegesen belohnt. Trotz des weitgehenden Verzichts auf Anmerkungen lässt die gute Orientierung in den Problempunkten die Verarbeitung der einschlägigen Sekundärliteratur erkennen.
Den knappen Hinweisen zur Sekundärliteratur auf S. 237 würde man gern den einen oder anderen Titel hinzufügen. Die Tabelle auf S. 22 ist mit der auf S. 120 weitgehend identisch. Besser als die Verlagswerbung hätte ein Register das Buch abgerundet.
Am schmerzlichsten aber wird eine abschließende Gesamtschau der literarischen und theologischen Tendenzen der jeweiligen Passionserzählung vermisst. Hat die Vfn. etwa befürchtet, dieselbe verführe zu alleiniger Lektüre des Schlusskapitels und verhindere so eine vorurteilsfreie Begegnung mit den Erzählungen selbst (und ihrer Erschließung)? Immerhin dürfte das Fehlen einer solchen Gesamtschau die Relevanz des Primärtextes sowie seiner hier vorgelegten literarischen und theologischen Durchdringung steigern.
Von den interpretierten Evangelientexten her richtet die Vfn. wenige, äußerst knapp formulierte Anfragen an die kirchliche Praxis: zu Herrschaftsstrukturen in der Kirche (26.80), zum Vollzug der Eucharistie (69) und zu Kirchenspaltungen (97).
Die mit diesem allgemeinverständlichen Buch vorgelegte Er­schließung der viergestaltigen Passionserzählung überzeugt und ist eine eindeutige Empfehlung wert.