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Ausgabe:

Juni/2011

Spalte:

633-635

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bienert, David C.

Titel/Untertitel:

Bibelkunde des Neuen Testaments.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2010. 320 S. m. Tab. gr.8°. Kart. EUR 17,95. ISBN 978-3-579-08043-7.

Rezensent:

Lukas Bormann

Vor Kurzem forderte der Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Klaus Reichert: »Grundkurse in Bibelkunde sollten für alle Geisteswissenschaften obligatorisch sein. Unterrichtet nicht von Theologen, sondern von Literaturwissenschaftlern.« (Forschung & Lehre 11, 2010) Hier formulierte eine prominente Stimme sowohl das Interesse der geisteswissenschaftlichen Nachbardisziplinen an der Bibel als auch die Skepsis gegenüber einer Theologie, die die Bibel ihren eigenen fachdisziplinären In­teressen allzu sehr unterordnet. Auch in dieses Umfeld aufmerksamer Skepsis hinein begibt sich heute derjenige, der eine Bibelkunde publiziert. Meist steht allerdings der fachdisziplinäre, evangelisch-theologische (in der katholischen Theologie gibt es Bibelkunde als Prüfungsfach nicht), biblisch-theologische oder nur alt- bzw. neutestamentliche Zusammenhang bei der Beurteilung einer Bibelkunde im Vordergrund, und auch das hat seinen guten Sinn, aber ebenso spezifische Grenzen.
Das im Gütersloher Verlag vorgelegte Lehrbuch von David C. Bienert, bis 2009 in Münster wissenschaftlicher Mitarbeiter, tritt an die Stelle von Helmut Merkels bis heute an Detailreichtum unerreichter Bibelkunde NT (4. Aufl. 1992). B. gliedert sein völlig neu erarbeitetes Werk in fünf Teile. Auf »Vorbemerkungen« (11–34) folgen »Geschichtsbücher (Mt–Apg)« (35–118), »Briefliteratur (Röm–Jud)« (119–234), »Apokalypse« (235–247) und schließlich »Überblicke zum Neuen Testament« (249–319).
In den ausführlichen Vorbemerkungen (11–34) reflektiert B. die didaktische Situation. Er unterscheidet zwischen »Pfarrämtlern« (14), Lehramtsstudierenden mit und solchen ohne Griechischkenntnisse. Auf dieser Basis trennt er zwischen »Grundwissen« und »Spezialwissen« (15; vgl. 176), indem er »vertiefte Einzelfragen (Pfarramt)« einfügt oder bestimmte Bibelstellen fett druckt und so als Wissen für Lehramtsstudierende kennzeichnet (259). Das überzeugt nicht im­mer (z. B. 73) und provoziert Widerstände bei Lernenden, die sich wie »Schmalspurtheolog(inn)en« behandelt fühlen (12). Der eigentliche Lernprozess, der mit Hilfe dieser Bibelkunde angeregt werden soll, gliedert sich in Erstlektüre, Zusam­menfassung (»Schließen Sie die Bibel und …«), Rekapitulation, Ba­siswissen, Zweitlektüre, Thematische Vertiefung und Repetition (55). Wünschenswert sei auch das Auswendiglernen prägnanter Zitate (15), die jeweils zu den einzelnen Büchern vorgeschlagen werden. B. verfolgt auch hermeneu­tische Ziele. Die Bibelkunde solle anregen, »die richtigen Fragen zu stellen« (19), sie wolle die »oft überfordert(en)« Anfängerinnen und Anfänger darüber belehren, was sie »nur scheinbar, aber nicht wirklich verstanden« haben (24), und schließlich sollen die Texte des Neuen Testaments »selbst zu Wort kommen« (320).
Die Präsentation des bibelkundlichen Stoffes im engeren Sinn (35–247) beginnt mit knappen Hinweisen zu den Abfassungsverhältnissen der Schriften, worauf jeweils ein Überblick über deren Inhalt folgt. Im Mittelpunkt stehen die »Arbeitsfragen«, auf die unmittelbar die Antworten folgen (leider in Petit-Druck). Nur selten fallen Antworten unbefriedigend aus. Das ist etwa dann der Fall, wenn die Fragen Sachverhalte ansprechen, die für stichwortartige Antworten zu komplex sind, wie auch B. zu ahnen scheint, wenn er fragt: »Wie werden ›die Juden‹ in der Apg dargestellt? Gibt es auch differenzierte Aussagen?« Der Lösungsvorschlag: »Sie treten als Gegner der Gemeinde in Erscheinung und verfolgen sie« (97). Die Frage nach differenzierten Aussagen wird mit Hinweis auf die römischen Juden in Apg 28 beantwortet, was angesichts der Bedeutung der Fragestellung enttäuschend ist. Zu der stereotypen Anrede »die Juden« in Joh findet sich gar keine Erläuterung, wie überhaupt antijudaistische Schlussfolgerungen, die durch das (rein) bibelkundliche Lesen des Neuen Testaments provoziert werden können, nicht thematisiert werden. B. verweist hingegen häufig auf 1Thess 2,14–16 als »Judenpolemik« und benutzt in diesem Zusammenhang zur Erläuterung leider auch das Wort »Christusmörder« (172: »Juden = Christusmörder u. Menschenfeinde«), das aus dem Sprachschatz aller christlichen Konfessionen verschwinden sollte und in einer Bibelkunde nichts zu suchen hat (vgl. 286). Auf die zahlreichen »Arbeitsfragen« folgen dann in Stichworten aufgelistete »Themen«. Zu deren Erschließung werden die Lesenden beständig pauschal auf die Seiten 249–319 (»Überblicke«) verwiesen. Man muss sich also die auf das Stichwort bezogenen Seiten selbst zusammensuchen und kennt die »Überblicke« bereits, wenn man in der Lektüre bei S. 249 angelangt ist.
Die instruktiven »Überblicke« (249–319) gliedern sich hauptsächlich in Informationen zu Personen (250–296) und zu theologischen Themen (297–318). Sie wiederholen zum Teil das bereits in den Fragen erarbeitete Wissen (vgl. 72 und 86 mit 253), gehen aber insbesondere in der Darstellung der paulinischen Theologie (280–287) weit darüber hinaus. Mit mehreren expliziten Verweisen auf Luther wird in etwa das geboten, was man heute eine lutherische Paulusdeutung nennt. Röm 9–11 werden stiefmütterlich behandelt, und eine »New Perspective« kommt gar nicht zu Wort. Wenn zum Thema Gerechtigkeit Gottes nicht alle Stellen – viele sind es ja nicht – aufgezählt werden (305 f.: sogar Phil 3,9 und Röm 10,3 fehlen), stattdessen aber eine lutherische Paulusdeutung ausgebreitet wird, dann ist das eine der Passagen, in denen das Buch der Versuchung erlegen ist, der eigenen theologischen Sichtweise größeren Raum zu geben als der bibelkundlichen Aufgabenstellung. Bei den theologischen Themen dominiert eindeutig Paulus, was keine bibelkundliche, sondern ebenfalls eine theologische Entscheidung ist. Mögliche alternative Themen wie »Reich Gottes« (vgl. 256), »Got­tesbezeichnungen«, »die Schrift im NT« oder »Nachfolgegemeinschaft/Gemeinde« statt »Gemeindestruktur (Ämter)« (310 f.) hätten andere Akzente gesetzt und zudem die Schriften des Neuen Testaments enger an das gesamtbiblische Zeugnis gebunden.
Im Großen und Ganzen enthält die Bibelkunde, wie zu erwarten, wenig Überraschendes. Zu dem bereits Genannten sei noch angemerkt: 1. Von der Elberfelder Übersetzung wird ohne nähere Begründung abgeraten (14). 2. Es wird irreführend behauptet, dass die Philosophie ausgerechnet eines Jürgen Habermas »sichtbar beeinflusst von der Bild- und Themenwelt des Alten und Neuen Testaments« sei (17). 3. Die Darstellung des lukanischen Schrifttums wird unangemessen eng an Conzelmann angelehnt (mehr­fache Hervorhebung von Lk 16,16 als Epocheneinteilung, »satansfreie Zeit«, heidenchristlicher Autor und heidenchristliche Adressaten u. a.). 4. Von Lk 14,1 bis 17,10 erstrecke sich ein »Sabbatmahl« (80.89), das die Exegese sonst bereits mit 14,25 enden lässt. 5. Als Stellenbeleg wird in der Regel nur das Kapitel ohne Vers angegeben, was für Lesende, die nachschlagen möchten, sehr unpraktisch ist, insbesondere, wenn es nur um einen einzigen Vers geht (z. B. 97: Aposteldekret in Apg 21 statt 21,25; oder 123: Kampf mit wilden Tieren in Ephesus in 1Kor 15 statt 15,32). Druckfehler oder Versehen finden sich nur wenige. Ein Glossar und ein Sachregister würden das Buch noch wertvoller machen.
In B.s Bibelkunde sind gewissenhafte Arbeit und reflektierte Lehrerfahrungen zu einem ansprechenden Ergebnis zusammengeführt worden. Das Lehrbuch meistert in der Regel auch die schwierige Gratwanderung zwischen Textnähe, exegetischer Er­schließung und theologischer Interpretation. Ob man mit diesem Buch den Präsidenten der Akademie für Sprache und Dichtung davon überzeugen könnte, dass die Theologen doch für obligatorische Grundkurse in Bibelkunde geeignet sind, ist eher zu bezweifeln, aber Studierende, die sich auf die Bibelkundeprüfung vorbereiten möchten oder eine Unterstützung für die Examensvor­bereitung benötigen, werden in diesem Buch einen nützlichen Helfer finden.