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Ausgabe: | Juni/2011 |
Spalte: | 626-628 |
Kategorie: | Altes Testament |
Autor/Hrsg.: | Groß, Walter |
Titel/Untertitel: | Richter. Übersetzt u. ausgelegt v. W. Groß. M. Karten v. Erasmus Gaß. |
Verlag: | Freiburg-Basel-Wien: Herder 2009. 896 S. gr.8° = Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament. Lw. EUR 125,00. ISBN 978-3-451-26810-6. |
Rezensent: | Henrik Pfeiffer |
Eine eingehende Kommentierung des Richterbuches stellte im deutschsprachigen Raum bisher ein Desiderat dar. Das vorliegende Werk, das diese Lücke großzügig schließt, steht im Wirkungsfeld der Schule W. Richters, der nicht zu Unrecht als Begründer einer literaturwissenschaftlich orientierten Exegese gilt und maßgeblich zur Erforschung des Richterbuches beigetragen hat.
Die Einleitung (77–96) bietet neben einem Überblick zur Anlage des Werkes knappe Informationen zu Buchnamen und kanonischer Stellung sowie einen summarischen Abriss zum vielschichtigen Wachstum des Richterbuches und zur Textüberlieferung. Gegenstand der Auslegung ist konsequent der masoretische Text – eine Entscheidung die angesichts der nach wie vor undurchsichtigen Textgeschichte der Jdc-LXX allemal gerechtfertigt ist.
Die Kommentierung der einzelnen Textabschnitte erfolgt in der Regel in sechs Schritten: Voran steht eine Übersetzung in der Texteinteilung nach W. Richter, Biblia Hebraica transcripta BHt (ASAT 33.4), St. Ottilien 1991, versehen mit philologischen und textkritischen Noten. Es folgen eine idealiter aus der Textsyntax erhobene Analyse von Aufbau und Textgenese, an die sich die eigentliche Auslegung anschließt, gefolgt von einer Synthese, die vor allem die Rollen der jeweiligen Akteure in den verschiedenen Textstrata beobachtet, einer historischen Rückfrage an die ältesten Überlieferungen (nicht an die berichteten Ereignisse!) sowie einer paradigmatischen Behandlung von Aspekte[n] der Rezeptionsgeschichte, die einerseits »die Zeitbedingtheit heutiger aktueller Wertungsmuster« aufweisen, zum andern aber auch die ideologische Verengung einer einseitigen Orientierung am Endtext sichtbar machen will (81). Die »Rollenanalyse« und der »syntaktisch detaillierte Nachvollzug der Entwicklung der Textaussagen« versteht G. als »Spezifikum dieses Kommentars« (81).
Auch wenn die Auslegung letztlich auf den »Endtext« zielt, legt G. »großen Wert darauf, in traditioneller Weise Leseprobleme aufzudecken und mit ihrer Hilfe Hypothesen über die Textgenese zu entwickeln« (78). Im Ergebnis erarbeitet er freilich ein eher moderates literarhistorisches Modell: Für den »Kernbereich« (2,6–12,15) rechnet er mit sieben entstehungsgeschichtlichen Stadien: Im Ursprung der Überlieferung stehen als unverbundene Fragmente die kleinräumigen, auf dem Territorium des (nachmaligen) Nordreichs situierten und in der Welt der Stämme beheimateten Heldenerzählungen um Ehud (3,15b–26*), Debora/Barak (4,17–21*[!]; 5*), Gideon (6,11–24*; 7*[?]; 8,5–21*) und Jiftach (11,1–11*.30–40*). Diese zum Teil noch ganz profanen Erzählungen setzen in ihrer ältesten Gestalt bereits die Verhältnisse der frühen Königszeit voraus und datieren kaum vor das 10.–8. Jh. (was freilich ältere Herkunft nicht prinzipiell ausschließe). Hinzu kommt eine bruchstückhaft erhaltene Liste, die ebenfalls erst in der Königszeit formuliert wurde (10,1–5; 12,8–15, sog. »Kleine Regenten«). Eine vor-dtr Bearbeitung führt die Einzelüberlieferungen erstmals im 7./6. Jh. (»je nach Rahmenthese zu Ex – 2Kön«; 85) zusammen. Sie blickt dabei bewusst auf den Untergang des Nordreiches zurück und erklärt diesen vor dem Hintergrund eines antiköniglichen und antidynastischen Ideals durch mangelnde Anerkenntnis der Herrschaft Jahwes (8,23!). Entsprechend weitet die vor-dtr Bearbeitung die Perspektive auf »ganz Israel« (sc. das Nordreich) und erhebt Jahwe zum eigentlichen Akteur des Geschehens (»Jahwekrieg«). Es folgen zwei dtr. Editionen. Deren erste (DtrR – ein jüngerer Dtr, der die Zusammenhänge Ex – Jos und Sam – Reg verbindet [86]?) bringt die Helden in eine zeitliche Abfolge, integriert die »Kleinen Regenten«, stellt der Komposition den südlichen Helden Othniel voran, um so das Israel-Verständnis im Sinne des 12-Stämmevolkes umzuprägen und zugleich ein Kontinuum zur Josua-Generation herzustellen (Othniel als Bruder Kalebs, Jos 11,23/Jdc 2,7–10), erhebt die Helden entgegen 8,23 zu Regenten (vgl. vor allem Othniel und Jiftach) und bindet diese in die geschichtstheologische Programmatik von Schuld-Strafe-Mitleid Jahwes ein (2,11–16.18–19* und Rahmenformeln). Ein »sekundärer dtr Redaktor (Dtr S)« bringt dann mit Jos 23; Jdc 2,6.17.20–21 das in der nachexilischen Zeit virulente Problem der »in dem Israel zugewiesenen Territorium ›übrig gebliebenen Völker‹ ein« (86 f.), die jetzt ihr Territorium erst erobern müssen (daran anschließend 2,23–3,4). Auf je verschiedene Hände gehen sodann die Abimelecherzählung (9,22–56*), »Jiftachs Verhandlungen mit dem Ammoniterkönig« (11,12–28), die beiden »Auseinandersetzungen mit Efraim« (7,23–8,3; 12,1–6) sowie die Episode von Gideons Efod (8,24–27) zurück.
Von diesen Einträgen grundsätzlich zu unterscheiden ist die Anfügung der Simsonerzählung durch einen nachexilischen, bereits am Mischehenproblem orientierten Bearbeiter, der sich der Rahmenformeln von DtrR bedient und die erweiterten Regentenerzählungen in zwei Teile mit negativer Klimax gliedert (Othniel – Gideon/Jiftach – Simson). Die Ursprünge von Jdc 13–16 vermutet G. in einem aus »volkstümlichen Einzeltraditionen der Schefela« (89) geformten Erzählkranz (Jdc 14 + 15) des 7. Jh.s und einer märchenhaften Erzählung Jdc 16*.
Wiederum von anderer Hand stammen die Reden des Jahweboten (2,1–5) und des namenlosen Propheten (6,7–10; vgl. Jos 24). Beide schärfen die Unabwendbarkeit des Jahwe-Gerichts ein, vor dem Israel nur noch für die kurze Lebenszeit seiner jeweiligen Regenten bewahrt wird. Ein letzter Bearbeiter versah die Komposition schließlich mit dem Rahmen 1 + 17–21, der die negative Sicht auf das Volk von 2,1–5 ausdrücklich bestätigt, auf der anderen Seite aber das davidische Königtum als heilvolle Wende in den Blick nimmt. Jdc 1 orientiert sich dabei an der von Dtr S eingetragenen Thematik der »übrig gebliebenen Vorbewohner« und liefert nunmehr unter Einbindung von Sonderüberlieferungen und Stoffen des Jos das »historische Material für die Behauptung der verbliebenen Vorbewohner« (91). Den hinteren Rahmen führt G. auf die redaktionelle Verbindung zweier ehemals selbständiger Großerzählungen 17–18* (antidanitisch, frühestens spätkönigszeitlich) und 19–21* (nachexilisch, mit Rekursen auf Gen 19; 38; 1Sam 11; Jos 8; Dtn 13,13–19 und P) zurück.
Insgesamt gelingt G. eine philologisch vorbildliche Erschließung des Textes und eine eindringliche, an Beobachtungen (na-mentlich zur sprachlichen Gestalt) reiche Kommentierung, die auch übergreifende Probleme zum Richterbuch in mehr als 20 Exkursen behandelt. Damit liefert der Kommentar nicht nur ein unentbehrliches Arbeitsmittel zur Erschließung des biblischen Textes, sondern auch einen substantiellen Beitrag zur Erforschung des Richterbuches.
Kritische Rückfragen ergeben sich hinsichtlich mancher literarhistorischer Entscheidungen. Exemplarisch seien zwei Beispiele genannt: Die schon von W. Richter vertretene Sicht einer vor-dtr Ausgabe von Jdc 2–12* hat in der Forschung nicht zu Unrecht Kritik erfahren. Die Probleme zeigen sich besonders bei dem Versuch, aus den dtr geformten Rahmenstücken eine vor-dtr Substanz (3,13; 6,2b–6a*) zu gewinnen. Sonderungen solcher Art bleiben ohne handfestes literarkritisches Indiz und führen im Ergebnis zu fragmentarischen Erzähleingängen.
An anderen Stellen wünschte man eher einen beherzteren Zugriff. So beobachtet G. für das Deboralied (Jdc 5) zutreffend erhebliche formale Inkohärenzen, schließt aber eine literarkritische Lösung – abgesehen von V. 31 – aus und plädiert stattdessen für die Annahme eines »größeren Fundus formal wie inhaltlich unterschiedlich akzentuierter Überlieferungen« (340), mithin für einen Rückgriff auf virtuelle (!) Vorlagen. Literarkritische Lösungen haben demgegenüber den methodischen Vorteil, nicht hinter den gegebenen Text zurückgehen zu müssen. Dem großen Verdienst von G. tut dies keinen Abbruch. Eine gute Gliederung, zahlreiche Bibliographien, 14 Karten und verschiedene Register erschließen das gehaltvolle Werk.