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Ausgabe:

Juni/2011

Spalte:

623-626

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Bauks, Michaela

Titel/Untertitel:

Jephtas Tochter. Traditions-, religions- und rezeptionsgeschichtliche Studien zu Richter 11,29–40.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XIV, 208 S. m. Abb. gr.8° = Forschungen zum Alten Testament, 71. Lw. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-150255-2.

Rezensent:

Walter Groß

Michaela Bauks behandelt die in jüngerer Zeit wegen ihrer sachlichen und methodischen Probleme sowie ihrer theologischen Implikationen vielfach und sehr kontrovers diskutierte Erzählung von der Opferung der Tochter Jiftachs Ri 11,29–40 nach metho­-dischen Vorbemerkungen und literarkritischen Beobachtungen (Kapitel 1) exegetisch (Kapitel 2) und rezeptionsgeschichtlich (Kapitel 3) und schließt mit einem Kapitel zum historischen Ort und der kanonischen Bedeutung (Kapitel 4) sowie einer kurzen Zusammenfassung (Kapitel 5). Das umfangreiche rezeptionsgeschichtliche Kapitel hat gegenüber vergleichbaren Darstellungen die Besonderheit, dass B. nicht nur jüdische und christliche Auseinandersetzungen mit dem sperrigen Text Ri 11, sondern auch antike Polemik gegen Menschenopfer generell referiert. Das trägt zum Verständnis der frühen Rezeptionsgeschichte erheblich bei.
Exegetisch herrscht ein weitgehender Konsens dahingehend, dass die Erzählung vom Tochteropfer Jiftachs nicht von einem Deuteronomisten stammt, da dtr Texte Menschenopfer verurteilen. Daher wird dieser Text entweder vordtr (oder womöglich zeitgleich, aber jedenfalls nicht-dtr) oder nachdtr angesetzt. B. ar­gumentiert, in Anlehnung an Thomas Römer, für die zweite Alternative. Sie unterzieht die Argumente einer gründlichen Überprüfung; indem sie unterschiedliche Aspekte je getrennt aufarbeitet, zeigt sie sehr deutlich, wie komplex die Auslegungsentscheidung ist, wie viele Einzelentscheidungen, die jeweils auch anders ausfallen könnten, in sie einfließen.
In Kapitel 1 gibt B. eine in manchen Details ungenaue Übersetzung von 11,29–40 (V. 34: »Tamburine«: Pl.; V. 36, letzter Satz: »dir« fehlt; V. 39: »Monate« ohne Artikel; bei »Gelübde« fehlt das Personalpronomen) mit der in ihrer Auslegung wiederkehrenden Tendenz, die Rede Jiftachs V. 35 und die zweite Rede der Tochter V. 37 so wenig konfrontativ wie möglich darzustellen.
Es folgt eine literarkritische Erörterung, die deswegen undurchsichtig bleibt, weil B. keine eigene Analyse entwickelt, sondern literarkritische Vorschläge älterer Autoren, die jeweils von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen, teils miteinander kombiniert, teils gegeneinander ausspielt und Interpretationsdetails sowie Beobachtungen zu Erzählstrategien in die Diskussion einbezieht. Sie scheint vorauszusetzen, dass der »Kriegsbericht« von der Jiftach-Tochter-Erzählung unabhängig, älter und erst kompositionell mit dieser verbunden ist, weist aber V. 29 sowohl diesem als auch der Jiftach-Tochter-Erzählung zu. Wenn sie zur Klärung der »Textstrategien« S. 12 ff. auch die sehr junge Verhandlung Jiftachs mit dem Ammoniterkönig 11,12–28 und die Notiz 3,10 zu Otniël (seltsamerweise als »Kleiner« Richter bezeichnet), die gemeinhin als dtr gilt, einbezieht, scheint sie auf der Ebene des Endtextes zu argumentieren. Als Ergebnis aber behandelt sie 11,29–40 als getrennt entstandene Einheit, mit der Einschränkung: »Als zu isolierender Teil käme sprachlich und kompositionell am ehesten das Festritual V. (37–38).39b–40 in Frage« (21). Auf S. 70 bekräftigt sie diese Hypothese, nun allerdings auf die abschließenden Sätze beschränkt: »Somit dürfte in Ri 11 der Annex V. 39b–40 auch kaum der ur­sprüngliche Teil der Erzählung sein, sondern der reinterpretierende Versuch einer Sinnstiftung, die sehr wahrscheinlich auf der Basis griechischer Parallelmotive entworfen worden ist.« Ob der Rest 11,29–36.39a (= erste vier Sätze) als Erzählung funktionieren könnte, wird nicht überprüft.
In Kapitel 2 referiert B. zunächst mit vielen Details die vielstimmige Diskussion um Kinderopfer im Alten Orient. Bezüglich der phönizischen Zeugnisse aus dem 4.–1. Jh. v. Chr. pflichtet sie der umstrittenen These bei, dass mlk ein Opfer, und zwar ein Kinderopfer als Notopfer in Ausnahmesituationen bezeichnet. Vermeintliche ikonographische und textliche Belege aus Ägypten und Ugarit aus dem 2. Jt. weist sie dagegen als »nicht überzeugend« zurück. Die alttestamentliche Moloch-Polemik zwinge dazu, »von der grundsätzlichen Möglichkeit von Kinderopfern in Israel seit dem 7./6. Jh. v. Chr. auszugehen« (56). Schon auf der nächsten Seite verschiebt sie diese Opferpraxis in die zweite Hälfte des 6. Jh.s. In der Folge dienen diese Überlegungen zusammen mit den jüngeren phönizischen Belegen als ein Argument dafür, die Jiftach-Erzählung, die die »Illustration eines mlk-Opfers« biete, für nachdtr und hellenistisch zu erklären.
Die Logik dieses Arguments bleibt undurchsichtig. Der Fachausdruck mlk kommt, wie sie selbst hervorhebt, für das Opfer in Ri 11 (und in 2Kön 3) nicht vor. Die phönizischen Belege und die alttestamentliche Moloch-Polemik, wenn sie denn Kinderopfer be­zeugen, sprechen von der Opferung von Kleinkindern. Die Tochter Jiftachs ist dagegen eine geschlechtsreife junge Frau. Die einzige nähere alttestamentliche Parallele, auch in höchster Kriegsnot, ist daher die Opferung des Kronprinzen durch den belagerten König von Moab 2Kön 3,27. Diese »Überlieferung« (sie ist somit älter) hat nach B. die dtr Redaktion in ihr Werk integriert. Auch dort ist der dtr Redaktor freilich seiner vermeintlichen Pflicht, ein derartiges Menschenopfer explizit zu verurteilen (wie in Ri 11), nicht nachgekommen – zumal B. den in 2Kön 3,27 berichteten Zorn, der über die Israeliten kam, wohl zu Recht »als Zorn Kemoschs interpretiert, der nach vollzogenem Opfer pro domo handelte und die Israeliten zum Rückzug trieb« (74). 2Kön 3, in ihrem Sinn aufgefasst, beweist daher entgegen ihrer Intention, dass ein dtr Autor die ältere königszeit­liche Tradition von einem erfolgreichen Sohnesopfer des Moabiters in höchster Kriegsnot kannte und unkommentiert in sein Werk aufnahm. Warum sollte das für Jiftachs Opfer nicht ebenso gelten? Vordtr Herkunft der Erzählung von Jiftachs Opfer erwägt sie aber an keiner Stelle ernsthaft, schließt diese vielmehr auch für eine eventuell postulierbare ältere »Tradition« aus (156 f.) und charakterisiert Ri 11,29–40 als »ein griechisch beeinflusstes Literaturstück spätnachexilischer Provenienz« (161), allerdings un­ter Verzicht auf den Versuch, »die Möglichkeit griechischer Kultureinflüsse in den Richtererzählungen in redaktionsgeschichtlicher Hinsicht« oder den »Überlieferungsweg griechischer Traditionen nach Palästina und in den jüdischen Kanon zu rekonstruieren« (160).
Als Argument für erst hellenistische Abfassung der Jiftach-Szene führt B. vor allem große Ähnlichkeiten mit der vielgestaltigen griechischen Iphigenietradition an, die in Palästina zu einem kulturellen Allgemeingut geworden sei, wofür sie freilich keine Nachweise anführt. Dass Jiftachs Tochter in Ri 11 namenlos bleibt, erklärt B. u. a. sehr eigenartig: »So könnte die Namenlosigkeit in der biblischen Erzählung auf die Vielgestaltigkeit der griechischen Ursprungstradition zurückgeführt werden, die man nicht eigens zitierte, sondern einfach als bekannt voraussetzte und als Erzählstoff neu verwertete, indem man eine israelitische Variante schuf« (62). B. erwähnt zwar, dass die Opferung der Tochter Jiftachs u. a. nach dem Motivkomplex »in großer Not freiwillig geleistetes unwissentliches Versprechen des eigenen Kindes als erster Mensch, der unter den vom Gelübde genannten Bedingungen begegnet« gestaltet ist, behandelt dieses im östlichen Mittelmeerraum mehrfach bezeugte Wandermotiv, dessen Herkunft und Alter ungeklärt sind, aber nur kurz.
Hinsichtlich des »Jungfrauenritus« Ri 11,37–40 interessiert B. vor allem ein Zusammenhang mit dem Iphigenie-Artemis-Mythos von Brauron, der Initiationsriten für junge Frauen an dieser Kultstätte der Artemis enthält, deren archäologische Zeugen zwischen 700–480 v. Chr. datiert werden. Entgegen anders lautenden Deutungen betont B. zu Recht, dass in Ri 11 nicht nur die Weihe der Tochter für JHWH, sondern deren Darbringung als Brandopfer berichtet wird. In Anlehnung an Walter Burkert nimmt sie an, dass auch in Ri 11 ein rite de passage geschildert wird: »So legt sich der Schluss nahe, dass auch hier von einem Menschenopfer in äußers­ter Not die Rede ist, welches, im Anschluss an seine Ausführung, eine Neubestimmung erfahren hat. Anstatt als passives Opfer in Vergessenheit zu geraten, soll das Opfer in einem Ritus, der den Übergang des Mädchens zur heiratsfähigen Frau markiert, regelmäßig erinnert werden« (72). Ob diese Neubestimmung durch literarische Arbeit an der bereits schriftlich (im jetzigen Kontext?) vorliegenden Opfergelübde-Erzählung oder im Verlauf ihrer ersten Verschriftlichung erfolgte, bleibt undeutlich; es scheint eher die erste Alternative gemeint zu sein. Jedenfalls aber behauptet B. nicht nur phänomenologische Ähnlichkeiten zwischen dem Ritus in Brauron und Ri 11, die aus kulturhistorischer Sicht Textelemente in Ri 11 erhellen können, sondern sie folgert, dass »der reinterpretierende Versuch einer Sinnstiftung … sehr wahrscheinlich auf der Basis griechischer Parallelmotive entworfen worden ist« (72). Es fehlt jeder Versuch, eine derartige direkte Abhängigkeit speziell von den Riten und Mythen in Brauron zu plausibilisieren.
Wenn die Opferung der Tochter durch Jiftach eine freie Erfindung aus hellenistischer Zeit ohne ältere überlieferungsgeschichtliche Wurzeln ist, stellt sich die Frage nach der Intention des Autors mit besonderem Nachdruck. B. führt einerseits ein »interkulturelles Interesse« an: »die Schaffung einer jüdischen Variante der Iphigenietradition« (171). Da jedoch entgegen den klassischen Ausgestaltungen des Iphigenie-Stoffs JHWH die namenlose Tochter in Ri 11 nicht vor der Opferschlachtung bewahrt, muss vor allem die Frage nach den theologischen Intentionen beantwortet werden. B. radikalisiert sogar die theologische Problematik, indem sie nicht nur Jiftach als »tragischen Charakter« zeichnet, »der in einem nicht auflösbaren Dilemma steht« (156), sondern sogar behauptet: »Als verantwortlicher Richter gibt er sich selbst in seinem Kind preis, um Gott zum Eingreifen zu zwingen. Die Form des offenen Gelübdes überlässt dem Adressaten, Gott, die Möglichkeit, sich das zu nehmen, was ihm zusteht« (80). Dass Gelübde Gott »zwingen« könnten oder sollten, ist ein dem Alten Testament durchaus fremder Gedanke; in Ri 11 ist er besonders unpassend, weil Jiftach erst opfert, nachdem JHWH die erbetene Leistung erbracht hat. Auch vermeidet es der Erzähler in Ri 11, nachdem JHWH Jiftach den Sieg geschenkt hat (V. 32), peinlichst, JHWH handelnd oder redend oder auch nur nachträglich bewertend in den Vollzug des Gelübdes zu involvieren. Die Sichtweise B.s aber vorausgesetzt, wirken die von ihr benannten theologischen Intentionen wenig überzeugend: Der Autor wollte ein »dynamisches Gottesbild« vorführen; er wollte darstellen, »dass dem Schöpfergott allen Lebens wenigstens theoretisch jedes Opfer zusteht« (171). Zugleich wollte er aber »die Praxis des Kinder- bzw. Menschenopfers in Frage stellen« (81) und »eine narrative Illustrierung der kritischen weisheitlichen Belege« bieten, »die zum überlegten Umgang bzw. zum Verzicht auf Gelübde überhaupt aufrufen« (96).
B.s Monographie führt die vielfältigen methodischen Probleme, die die Erzählung von Jiftachs Tochteropfer aufwirft, ausführlich vor und sie weckt Verständnis dafür, dass deren Rezeption, schon be­ginnend in der Antike, so vielstimmig ausgefallen ist. Die me­thodischen Probleme B.s eigener Entstehungshypothese, die sie eher als Aufforderung zur Diskussion formuliert, sind aber auch nicht zu übersehen.