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Ausgabe:

Juni/2011

Spalte:

618-620

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Stemberger, Günter

Titel/Untertitel:

Judaica Minora. Teil II: Geschichte und Literatur des rabbinischen Judentums.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. IX, 787 S. gr.8° = Texts and Studies in Ancient Judaism, 138. Lw. EUR 219,00. ISBN 978-3-16-150571-3.

Rezensent:

Catherine Hezser

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Stemberger, Günter: Judaica Minora. Teil I: Biblische Traditionen im rabbinischen Judentum. Tübingen: Mohr Siebeck 2010. VIII, 560 S. gr.8° = Texts and Studies in Ancient Judaism, 133. Lw. EUR 154,00. ISBN 978-3-16-150403-7.


Diese beiden Bände enthalten mehr als 60 zumeist auf Deutsch verfasste Aufsätze, die Günter Stemberger im Laufe der letzten 20 Jahre geschrieben hat und die bereits in diversen Festschriften, Sammelwerken und Zeitschriften erstveröffentlicht worden sind. Die Themen dieser Beiträge beziehen sich auf S.s Forschungsschwerpunkte im Spannungsfeld zwischen Tora und rabbinischem Ju­dentum. Der erste Band vereinigt Beiträge, die die Rezeption der Tora in den verschiedenen literarischen Gattungen des antiken Judentums untersuchen. Daneben finden sich Aufsätze zum Verhältnis von Juden- und Christentum, Judaistik und Neuem Testament. Der zweite Band ist ausschließlich dem rabbinischen Judentum gewidmet, wobei sowohl literarische als auch historische und ideologiegeschichtliche Aspekte behandelt werden. Die meisten Themenbereiche sind heutzutage immer noch aktuell, auch wenn seit der Erstveröffentlichung der jeweiligen Beiträge neuere Forschungsarbeiten entstanden sind. Insgesamt sind die beiden Bände als wahre Schatzkammer anzusehen, welche eine Vielzahl kleinerer Arbeiten S.s den Lesern einfach zugänglich macht.
Es finden sich hier wichtige Untersuchungen, deren Bedeutung durch die Erstveröffentlichung in Konferenzbänden und schwer auffindbaren Zeitschriften nicht genügend zum Ausdruck gekommen ist. Im ersten Band beschäftigt sich zum Beispiel ein Beitrag mit der Toraerziehung im Judentum der rabbinischen Zeit (Bd. 1: 38–53). Gegenüber traditionellen Behauptungen, dass bereits im Judentum der hellenistisch-römischen Zeit ein übergreifendes und abgestuftes Schulsystem existierte, zeigt S., dass den Rabbinen zufolge die elementare Unterweisung in der Tora in erster Linie als Pflicht des Vaters gegenüber seinem Sohn angesehen wurde. Die besonders in späteren Texten genannten Lehrer und Schulen dienten wohl der Ergänzung der in der Familie gewonnenen Fähigkeiten. Einige rabbinische Texte scheinen mit der Möglichkeit zu rechnen, dass auch Frauen Tora lernten, auch wenn dies nicht als allgemein üblich angesehen werden kann. Rabbinische Texte, die sich mit dem Torastudium von Kindern befassen, werden auch im folgenden Beitrag diskutiert (Bd. 1: 54–68).
Ein weiteres Thema, das in einer Reihe von Kapiteln behandelt wird, ist die rabbinische Hermeneutik. Die Entstehung des biblischen Kanons wird von ihrer historischen Entwicklung her und aus rabbinischer Perspektive beleuchtet (Bd. 1: 69–87). Dabei wird Graetz’ These, derzufolge der Kanon auf einer rabbinischen Synode in Javne am Ende des 1. Jh.s festgelegt wurde, widerlegt. Die meisten als »kanonisch« angesehenen biblischen Bücher lagen schon zu Beginn der rabbinischen Zeit fest. »Ein ›offizieller‹ Akt der Kanonisierung ist nicht bezeugt« (86). Wie im Christentum im Hinblick auf das Neue Testament wurde auch im Judentum der Kanonbegriff ausgeweitet, um die später entstandenen rabbinischen Traditionswerke mit einzuschließen. Zunächst wurde die Mischna wie ein kanonischer Text behandelt, im Mittelalter auch der Babylonische Talmud. Hermeneutische Sachverhalte werden in weiteren Artikeln, z. B. zur narrativen Theologie im Midrasch (Bd. 1: 130–144), zum Verhältnis zwischen griechisch-römischer und rabbinischer Hermeneutik (Bd. 1: 118–29) und zur Auslegung der Bibel in den Qumrantexten im Vergleich zum rabbinischen Judentum (Bd. 1: 159–175) reflektiert.
Ein anderer Themenbereich behandelt historische und sozialgeschichtliche Aspekte der rabbinischen Bewegung. So analysiert S. zum Beispiel in seinem Aufsatz zur Semikha und Ordination (Bd. 2: 187–215) die Hinweise auf derartige Phänomene in den verschiedenen rabbinischen Textgattungen und kommt zum Ergebnis, dass das christliche Verständnis der Ordination im rabbinischen Judentum nicht vorhanden war, sondern auf christliche Auslegungen der biblischen Tradition zurückzuführen ist. Das Verhältnis zwischen Pharisäern und Rabbinen wird in mehreren Beiträgen be­handelt (Bd. 1: 341–379.395–410; Bd. 2: 172–186). Wie die meisten Forscher heutzutage kommt auch S. zu dem Ergebnis, dass die beiden Gruppen nicht deckungsgleich sind. Vielmehr muss man annehmen, dass verschiedene vor 70 vorhandene Strömungen in die nach 70 entstandene rabbinische Bewegung eingeflossen sind, auch wenn Shaye Cohens Begriff von der »grossen Koalition« zu optimistisch ausgedrückt sein mag.
Besonders für Neutestamentler relevant ist die Frage, inwieweit rabbinische Traditionen datierbar und für Vergleiche mit neutes­tamentlichen Texten verwendbar sind. Was die Datierungsfrage betrifft (Bd. 2: 231–245), weist S. auf die Komplexität der Frage, ob Attributionen verlässlich sind, hin. Generell ist zu sagen, dass sich die ipsissima verba der Rabbinen nicht rekonstruieren lassen. Da rabbinische Erzählungen meist paradigmatische Funktion haben, sind die in ihnen vorkommenden Rabbinennamen beliebig austauschbar, was schon in den Manuskriptvarianten deutlich wird. Insofern wäre die Redaktion des jeweiligen Sammelwerkes als terminus ante quem für die Entstehung der Einzeltraditionen anzusehen. Selbst baraitot müssen nicht in tannaitischer Zeit entstanden sein. Bedeutet dies, dass rabbinische Traditionen und Motive der neutestamentlichen Zeit nicht mehr auffindbar und rekonstruierbar sind? In seinem Aufsatz zur Judaistik und neutestamentlichen Wissenschaft (Bd. 1: 495–510) ermahnt S. die Neutestamentler, antike jüdische Texte erst einmal »für sich selbst sprechen zu lassen« (509), bevor sie zum Vergleich mit neutestamentlichen Texten herangezogen werden. Um diese Texte richtig zu verstehen, ist ein kritisches methodisches Bewusstsein notwendig, welches eine Ver trautheit mit der neueren Forschungsliteratur voraussetzt. Es »wäre zu wünschen, dass Neutestamentler bei der Verwendung rabbinischer Quellen dieselbe methodische Sorgfalt walten lassen, die sie für ihre eigenen Texte selbstverständlich fordern« (510).
Das chronologisch beste christliche Vergleichsmaterial sind die patristischen Texte. S. geht exegetischen Kontakten zwischen Chris­ten und Juden in der Zeit nach dem Neuen Testament nach (Bd. 1: 433–451), weist aber schon zu Beginn auf bestimmte grundlegende Unterschiede hin: Während die Rabbinen sich besonders mit dem Pentateuch beschäftigten, waren die frühchristlichen Exegeten besonders an den prophetischen Büchern interessiert. So gibt es nur begrenztes exegetisches Vergleichsmaterial, das sich auf ein und denselben Text bezieht. Außerdem basierte die rabbinische Auslegung auf dem hebräischen Text, während die Apologeten und Kirchenväter die Septuaginta und diverse griechische und latei­-nische Übersetzungen verwendeten, die immer zugleich auch Interpretationen des hebräischen Textes waren. Mögliche christ­-liche Einflüsse auf die jüdische Exegese und jüdische Einflüsse auf die christliche Exegese sollten nichtsdestoweniger erforscht werden, auch wenn es nur wenige Berührungspunkte gibt. Ein Text, der in beiden exegetischen Traditionen aufgegriffen worden ist, ist Gen 15 (Bd. 1: 452–468). Eine Analyse der jeweiligen Auslegungen weist so­wohl auf Ähnlichkeiten in der Hermeneutik als auch auf unterschiedliche theologische Schwerpunkte hin. Das Spannungsfeld zwischen Juden, Judenchristen und Kirchenvätern wird auch in den Beiträgen zu Hieronymus (Bd. 2: 66–81), Zwangstaufen (Bd. 2: 82–108) und jüdisch-christlichen Kontakten im Palästina der by­zantinischen Zeit (Bd. 2: 124–171) untersucht.
Insgesamt sind die beiden Bände sowohl Judaisten als auch Neutestamentlern und Kirchenhistorikern zu empfehlen. Alle Beiträge zeichnen sich durch sorgfältige Textarbeit, kritische Sichtweise und ausgewogene Argumentation aus und sind als Klassiker der Judaistik im deutschsprachigen Bereich anzusehen. Die Untersuchungen können in ihrer Vielfalt als Basis zukünftiger Studien dienen.