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Ausgabe:

Juni/2011

Spalte:

617-618

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Jaffé, Dan [Ed.]

Titel/Untertitel:

Studies in Rabbinic Judaism and Early Christianity. Text and Context.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2010. XV, 248 S. gr.8° = Ancient Judaism and Early Christianity, 74. Geb. EUR 103,00. ISBN 978-90-04-18410-7.

Rezensent:

Michael Tilly

Dieser Tagungsband enthält zehn wissenschaftliche Essays, die aus einem bereits im März 2007 in Paris durchgeführten Symposium zum Thema »Rome, Athens or Jerusalem. Where does Christianity Come From?« hervorgegangen sind. Die einzelnen Beiträge in englischer und französischer Sprache beleuchten unterschiedliche As­pekte der Entstehung und Entwicklung der Jesusbewegung und des frühen Christentums in ihren Bezügen zum antiken Judentum.
Die beiden ersten Aufsätze thematisieren die Gestalt des historischen Jesus. Daniel Marguerat (3–16) betont auf der Grundlage einer kurzen forschungsgeschichtlichen Skizze einerseits die Singularität der rekonstruierbaren Inhalte der Verkündigung Jesu aus Nazareth. Andererseits weist er auf die Schwierigkeiten der Zuordnung Jesu zu einer konturierbaren religiösen Strömung innerhalb des palästinischen Judentums hin: »Ma thèse est que la judaïcité de Jésus ne doit pas être affirmée au détriment de la singularité de son émergence au sein du judaïsme du premier siècle« (9). Diese Einzigartigkeit zeige sich vor allem in Jesu Radikalisierung des Liebesgebotes bei gleichzeitiger soteriologischer Relativierung der Tora angesichts seiner Erwartung des anbrechenden Gottesreiches. Marguerat sieht in dieser Botschaft Jesu letztendlich auch den späteren Ablösungsprozess zwischen Judentum und Christentum begründet. François Blanchetière (17–26) stellt die Frage, ob die Bezeichnung der von Jesus ausgelösten religiösen Bewegung als eine »nouvelle religion« berechtigt ist. Seine Antwort fällt negativ aus. Weder die Überzeugungen noch die Praktiken der Jesusbewegung seien als signifikante Abweichung von denen der jüdischen Mehrheitsgesellschaft zu betrachten. Dies wie­derum entspreche einer (zur Zeit der hellenistisch-römischen Antike verbreiteten) Tendenz, radikale religiöse Neuerungen gleichsam intuitiv abzulehnen. Jesus aus Nazareth sei nicht als »fondateur« des Christentums, sondern zunächst als »réformateur« bzw. »rénovateur« der jüdischen Tradition zu betrachten (25).
Drei Aufsätze behandeln Reflexe des frühen Christentums in der rabbinischen Traditionsliteratur. Barak S. Cohen (29–44) setzt sich kritisch mit der (in der älteren Forschung verbreiteten) Annahme auseinander, in amoräischen Texten wie bBer 12a, bBB 25a oder bAZ 4a würde sich der Kontakt zwischen Juden und Christen in der babylonischen Stadt Nehardea während der Sassanidenzeit widerspiegeln. Anhand einer gründlichen Analyse dieser talmudischen Texte mitsamt ihrer Parallelen und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Rabbinen mit dem Begriff ןימ keineswegs nur auf Judenchristen zielten, widerlegt er dieses Verständnis der talmudischen Quellen: »The conclusion that Nehardean sages argued with Christians or even co-existed with them in the same geographical region has no textual justification« (43 f.). Dan Jaffé (45–66) erblickt in der (ein angebliches Jesuswort enthaltenden) Anekdote in tChul II 24 und in der späteren rabbinischen Deutung dieses Abschnitts einige Anhaltspunkte für ein Bestreben der jüdischen Gelehrten nach der sozialen Ausgrenzung von Judenchristen. Auch hier ist meines Erachtens zu berücksichtigen, dass der Terminus תונימ ganz allgemein jüdischen Synkretismus bezeichnen kann bzw. an dieser Stelle wohl sexuell deviantes Verhalten bedeutet. Avinoam Cohen (67–84) behandelt die (bemüht harmonisierenden) Auslegungen von Num 6,26 und Dtn 10,17 in der Midraschliteratur als Reflexe theologischer Auseinandersetzungen zwischen jüdischen und christlichen Gelehrten in der Zeit nach der Zerstörung des Zweiten Tempels.
In drei Aufsätzen geht es um die Ursprünge des Christentums im Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels. Daniel R. Schwartz (87–105) betont die Differenzen zwischen der Jesusbewegung als Teil des an »place, pedigree, and law« (97) orientierten palästinischen Judentums und dem nachösterlichen (insbesondere paulinischen) Christentum, dessen ebenso individualistische wie universalistische Prägung die zentrale Bedeutung des Auferstehungskerygmas und damit zugleich eine wesentliche Differenz zum Judentum begründe. Jonathan Bourgel (107–138) widmet sich in einem ausführlichen Beitrag den früh­-christlichen Notizen von der Flucht Jerusalemer Judenchristen in das ostjordanische Pella während der Endphase des Jüdischen Krieges und zeichnet die geschichtliche Bedeutung des Geschehens nach, das diesen Texten seines Erachtens zugrunde liegt. Eyal Regev (139–159) thematisiert die Wahrnehmung des Jerusalemer Tempels im Markusevangelium. Die markinische Darstellung der Tempelaktion Jesu (Mk 11,15–19) interpretiert er dabei nicht als eine grundsätzlich kultkritische Symbolhandlung, sondern als eine narrative Demonstration der geforderten Heiligung des Ortes der Anbetung Gottes und seines Schutzes vor Profanierung. Die von Regev hierbei vorausgesetzte Frühdatierung des Markusevangeliums wird von ihm allerdings nicht hinreichend begründet.
Emmanuel Friedheim (163–185) beschäftigt sich mit dem un­mittelbaren Einfluss paganer Kultur auf das – um kulturelle Ab­grenzung bemühte – frühe palästinische Christentum. Seines Erachtens ist davon auszugehen, dass ihre Vermittlung durch das hellenisierte Judentum bis in die zweite Hälfte des 1. Jh.s n. Chr. hinein die christliche Wahrnehmung und Rezeption der nichtjüdischen Welt be­stimmt habe. Im letzten Beitrag des Bandes (187–230) vergleicht Stéphanie E. Binder Tertullians kasuistische Schrift über den Götzendienst (De idololatria) mit mAZ und entdeckt dabei eine Reihe von inhaltlichen Bezügen, die sie zu dem Schluss führen: »Tertullian was most probably inspired by Jewish elements in the redaction of the text« (227). Dem Buch beigegeben sind Register der Quellen (231–240), Namen (241 f.) und modernen Autoren (243–248).
Der lesenswerte Sammelband enthält ebenso interessante wie materialreiche Beiträge zur Frühgeschichte des Christentums. Insbesondere die Beiträge jüdischer Wissenschaftler ermöglichen einen überaus ertragreichen Perspektivwechsel hinsichtlich der exegetischen Betrachtung und religionsgeschichtlichen Interpretation der frühchristlichen Literatur.