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Ausgabe:

Juni/2011

Spalte:

614-616

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Hauptman, Judith

Titel/Untertitel:

Rereading the Mishnah. A New Approach to Ancient Jewish Texts.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2005. XIII, 285 S. gr.8° = Texts and Studies in Ancient Judaism, 109. Lw. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-148713-2.

Rezensent:

Michael Becker

Judith Hauptman ist E. Billy Ivry Professor of Talmud and Rabbinic Culture und lehrt am Jewish Theological Seminary in New York. Sie hat sich mit mehreren größeren und zahlreichen kleineren Studien zum rabbinischen Judentum, die insbesondere die Genderproblematik und die literarische Entwicklung talmudischer Argumentation betreffen, als innovative Forscherin hervorgetan. Ihr vorliegendes Buch stützt sich auf Vorarbeiten aus fast zwei Jahrzehnten.
Das Kernstück der Studie ist die Ausarbeitung einer Theorie zum Verhältnis von Mischna und Tosefta. Deren Darstellung er­folgt im ersten Kapitel (1–30). Fünf weitere Kapitel reflektieren dann einzelne Problemkreise, die jeweils anhand von Beispielen veranschaulicht werden. Sie werden unter folgenden Titeln verhandelt: The Tosefta as a Commentary on an Early Mischna (2: 31–49), Rewriting Tosefta’s Halakic Paragraphs for Inclusion in the Mischnah (3: 50–108), Condensing Aggadah (4: 109–156), Editing for Ease of Memory (5: 157–230) und From Tosefta to Mischnah to Talmud (6: 231–254). Ein abschließendes Kapitel (255–264) fasst die Ergebnisse zusammen und gibt einen Ausblick. Es folgen eine Bibliographie sowie Indizes.
Bereits aus dem Aufbau wird deutlich, dass die Frage nach dem Verhältnis von Mischna und Tosefta eine höchst komplexe Frage darstellt, deren Beantwortung es notwendig macht, viele sehr subtile Themen und Folgeprobleme mit zu berücksichtigen. Zudem ist die Frage nicht neu, denn sie geht bis auf frühmittelalterliche Studien zurück. Die vom babylonischen Gaon Sherira (10. Jh.) gegebene Antwort, dass die Mischna von Rabbi (R. Jehuda ha Nasi) und die Tosefta von dessen jüngerem Kollegen R. Chijja unter Verwendung der Mischna zusammengestellt wurde und somit deren ers­ter Kommentar ist, gilt bis heute oft noch als eine Standardantwort – zumindest in prinzipieller Hinsicht. Hieran haben auch diverse Modifikationen und Problematisierungen des Verhältnisses lange Zeit kaum etwas geändert. Zahlreiche Probleme, die ein lineares Kommentarverhältnis unmöglich erscheinen lassen, blieben. Den jüngst vorgetragenen Ansätzen einer gegenteiligen Auffassung von Shamma Friedman und Alberdina Houtman, die das Verhältnis von Mischna und Tosefta (partiell) umkehren und insofern der vorgetragenen Position recht nahe kommen, steht die Vfn. dennoch teilweise kritisch gegenüber, da sie das Problem nicht in Einzeltraditionen aufspalten möchte und eine komplexere Relation zwischen Tosefta und Mischna gegeben sieht. Ihre Theorie vertritt einen universalen Anspruch und geht darin über die bisherigen Ansätze hinaus. Sie beinhaltet drei Hauptpunkte:
a) Die Tosefta geht als Sammlung (unserer) Mischna voran und diente ihr als eine Quelle. b) Sie geht ihrerseits jedoch auch auf eine (mündliche) Mischna-Sammlung zurück, die sie kommentiert und welche die Vfn. Ur-Mischna nennt. c) Unsere Mischna stellt sich folglich als ein redaktionelles Amalgam aus Ur-Mischna und Tosefta dar, die von einem Redaktor im frühen dritten Jh. in einer gegen­-über seinen Quellen teilweise sehr freien Weise zusammengestellt wurde. Sie ist als eine eigenständige Sammlung zu betrachten, zumal das Verhältnis zur Tosefta, die sich auch später noch weiterentwickelt hat (vgl. 231 ff.), von dem Verhältnis der Tosefta zur Ur-Mischna zu unterscheiden ist.
Methodisch setzt die Vfn. bei subtilen synoptischen Vergleichen an, mit welchen das Verhältnis von Mischna und Tosefta analysiert wird. Das Verfahren ist insofern literarkritisch; es versucht aber auch, sozialgeschichtliche Faktoren zu berücksichtigen. Diese Textnähe ist Stärke und Schwäche zugleich. Zunächst zur Stärke. Sie liegt eindeutig darin, dass in vielen Textbeispielen plausible Entwicklungen verdeutlicht werden können, die eine Mischna-Tradition unter Berücksichtigung der Tosefta verständlicher ma­chen (vgl. die Beispiele in den Abschnitten S. 3–14 und 34–108). Freilich stellen diese Beispiele eine vom Ergebnis geleitete Selektion und daher nur einen Ausschnitt dar, was der Vfn. durchaus be­wusst ist (256). Die Vergleiche werfen wichtige Fragen auf, doch lassen sich die Einsichten nicht immer und überall generalisieren, da auch ambivalente Befunde vorliegen. Die mitunter abweichende Anordnung der Tosefta, die differenten Inhalte wie die fehlenden Erklärungen bei problematischen Äußerungen der Mischna sprechen laut Vfn. zwar gegen ein Kommentarverhältnis (17 f.), doch finden sich auch zahlreiche Übereinstimmungen, und manche der Probleme bestehen auch im umgekehrten Falle. Durch die Einführung einer Ur-Mischna, die als Grundlage auch der Tosefta diente, integriert die Vfn. zwar einen Teil der alten Standardtheorie auf elegante Weise, jedoch um den Preis eines hypothetischen Konstrukts, das manche Probleme beinhaltet und noch weiterer Diskussion bedarf (vgl. 21).
Anderen Herausforderungen begegnet die Vfn. bereits präventiv (25 ff.). Neben markanten Unterschieden bei der Integration von Material der Tannaiten der fünften Generation (vgl. 259 f.) und der freien Bearbeitung diskutiert die Vfn. auch den Einwand, dass üblicherweise eher mit einer Ausweitung des Materials gerechnet wird, nicht aber mit dessen Beschränkung wie im bewussten Fall, wenn unsere Mischna auf die viermal so umfangreiche Tosefta zurück­-ginge. Interessant ist, dass die Vfn. hierbei nach eigenem Bekunden einem Hinweis von Martin Hengel folgt (28, Anm. 98, wobei freilich nicht alles korrekt verstanden scheint; vgl. auch 258) und das »Synoptische Problem« als eine Analogie zu ihrer Theorie anführt, insofern auch hier ein sekundärer Text (Mt) längere Traditionen seines Primärtextes (Mk) vielfach gekürzt hat. Dieser Vergleich könnte darüber hinaus auch deshalb sehr reizvoll sein, da hier ebenfalls eine Quelle hypothetisch rekonstruiert wird.
Anders als beim »Synoptischen Problem« steht zur Rekonstruktion der Ur-Mischna allerdings keine unabhängige zweite Quelle (Mk) zur Verfügung, die den Rahmen für die anderen abhängigen Texte bietet. Genau dadurch wird die Rekonstruktion einer Ur-Mischna jedoch sehr schwierig, denn es lässt sich auf der vorgegebenen methodischen Basis kein kohärenter Text erheben. Dies sieht zwar auch die Vfn., doch halten sie diese Schwierigkeiten nicht ab (21). Nicht immer überzeugen vor allem die Schlussfolgerungen, dass die haggadischen Traditionen der Tosefta gegenüber den oft nur kurzen Erwähnungen der Mischna die älteren Traditionen darstellen sollen und gewissermaßen als Summarien dienen (vgl. 108–156).
Richtig ist mitunter, dass hinter solchen Notizen weitergehende Erzählungen stehen können, doch lässt dies noch nicht den Schluss zu, dass die Mischna-Traditionen nur die Zusammenfassungen der Geschichten der Tosefta sind. Im Übrigen lassen sich auch hier gegenläufige Phänomene beobachten, da die Mischna manchmal auch längere haggadische Traditionen beinhaltet, während die Tosefta nur eine kürzere und stilisierte Parallele bietet. Die Einfügung von Gedächtnishilfen wird zudem als ein weiter verbreitetes Phänomen angesehen werden müssen (vgl. 157–230).
Größere Plausibilität könnte dies Vorgehen gewinnen, wenn sich – ähnlich wie bei den Synoptikern – übergeordnete Redaktionsstrategien erheben ließen (vgl. 256). Mehr noch – und hier wird die Kritik grundsätzlicher – ist zu fragen, ob ein ausschließlich literarkritisches Verfahren ausreicht, die komplexen Zusammenhänge zwischen Mischna und Tosefta zu erheben. Zwar rechnet die Vfn. sogar mit einer späteren Überarbeitung der Tosefta, mögliche Einwände, die einen Einfluss mündlicher Traditionen be­rücksichtigen, werden von ihr aber sehr dezidiert abgelehnt. Freilich muss man gar nicht so weit gehen, die gesamte Theorie durch ein Konkurrenzmodell, das ausschließlich auf Oralität setzt, infrage zu stellen (28.256; »Occam’s razor« für die Plausibilität möglichst einfacher geschichtlicher Abläufe zu bemühen, ist freilich nicht immer angebracht, da sich die Geschichte oft gerade nicht an einfache Wege hält). Es genügt bereits die Vermutung, dass im frührabbinischen Bereich neben schriftlichen Äußerungen auch noch mündliche Paralleltraditionen vorhanden waren, die zur weiteren Traditionsbildung beigetragen haben. Auch hier ließen sich die Synoptiker als Analogie durchaus bemühen.
Eine gewisse Schwäche des Ansatzes besteht insofern darin, dass die Vfn. eine Reihe von anderen Fragestellungen und methodischen Zugängen durch ihre Prämissen ausklammern muss, wo­durch sie sich mancher Chancen begibt. Die einseitige Festlegung auf eine universell anwendbare literarische Theorie scheint an vielen Stellen zu unflexibel, um sich allen Herausforderungen der Texte stellen zu können.
Obwohl viele Details einer besseren Erklärung nähergebracht werden können, steigen die Widerstände mit dem Grad an Verallgemeinerung spürbar an. Vielleicht müsste eine Antwort auf die Ausgangsfrage doch noch differenzierter erfolgen. So lassen bereits die Unterschiede zwischen einzelnen Traktaten ein pauschales Urteil zum Verhältnis beider Schriftwerke kaum praktikabel er­scheinen. Zudem ist die Textbasis bei den rabbinischen Schriften ein weithin noch offenes Problem, das aber durchaus Einfluss auf die Klärung des Verhältnisses beider Texte besitzt. Ansätze und Anregungen zur Weiterarbeit bietet die Studie aber auf vielfältige Weise. Darin kann sie als ein die Diskussion weiterführender Beitrag gelten.