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Ausgabe:

Mai/2011

Spalte:

479-490

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Claudia Welz

Titel/Untertitel:

Imago Dei
Bild des Unsichtbaren

Das Thema dieses Aufsatzes1 ist das biblische Motiv der Gottebenbildlichkeit. Dieses Motiv ist im Laufe seiner mehr als 2400-jährigen Geschichte immer wieder intensiv diskutiert worden. Der Versuch, zweieinhalb Jahrtausende ohne signifikante Auslassungen auf wenigen Seiten darstellen zu wollen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Deshalb will ich mich darauf begrenzen, lediglich vier Modelle vorzustellen, wie das imago Dei-Motiv verstanden werden kann.

Meine Überlegungen in diesem Zusammenhang sind nur ein kleiner Teil eines größeren, länder- und fächerübergreifenden Forschungsprojekts, das im Wintersemester 2010 an der Universität Kopenhagen und an diversen Partneruniversitäten seinen Anfang genommen hat. Das Projekt als Ganzes heißt »In-visibilis: Sichtbarkeit und Transzendenz in Religion, Kunst und Ethik«2. Der Bindestrich im Wort in-visibilis bezeichnet eine Dialektik von Sicht­barem und Unsichtbarem. Niemand kann das Sichtbare durchschauen und niemand kann sehen, was komplett unsichtbar ist. Das Unsichtbare kann nur an etwas Sichtbarem erscheinen, das nichtsdestotrotz nicht im Sichtbaren aufgeht, sondern von ihm weg zu dem hinführt, was darüber hinausgeht. Meine Untersuchung konzentriert sich auf den Menschen als Bild Gottes. Was zeigt dieses Bild? Und was bedeutet es, das Bild des Unsichtbaren zu sein?

Schon damals, als ich vor vielen Jahren eine Proseminararbeit über das imago Dei-Motiv im Alten Testament schrieb, war ich verwundert über die Diskrepanz zwischen den Antworten in der exegetischen und der dogmengeschichtlichen Literatur. Ob sich wohl ein integratives Prinzip finden ließe, das diese disparaten Zugänge zusammenhalten könnte? Meine Arbeitshypothese ist, dass der Bildbegriff dies leisten kann, weil die verschiedenen Verstehensmodelle des imago Dei-Motivs auf verschiedenen Interpretationen des Bildbegriffs basieren. Deshalb will ich versuchen, die theologische Tradition aus der Perspektive der Bildwissenschaft und der Semiotik, der Lehre von den Zeichen, die auch ikonische Zeichen einschließt, zu überdenken.

1992 hat W. J. T Mitchell den Begriff des ›pictorial turn‹ geprägt. 1994 schlug Gottfried Boehm vor, von einem ›iconic turn‹ zu sprechen. In der Zwischenzeit ist es auch üblich geworden, auf den sog. ›visualistic turn‹ zu verweisen, wenn von neuen Technologien der Bildübertragung in den Massenmedien die Rede ist. Die Rede von einem ›turn‹, d. h. von einer Wende, weckt die Assoziation eines Paradigmenwechsels analog zum ›linguistic turn‹. Diese Redeweise provoziert die Frage, ob Bilder denn ihre eigene Logik der Bedeutungskonstitution haben.

Im Deutschen ist der Bildbegriff weiter gefasst als im Englischen. Im Englischen ist tunlichst zwischen ›images‹ und ›pictures‹ zu unterscheiden, was der folgende Satz illustriert: ›You can hang a picture, you can’t hang an image.‹ Das ›picture‹ genannte Bild ist ein materielles Kunstobjekt, das man an die Wand hängen kann. Das ›image‹ genannte Bild dagegen kann zwar im Bild an der Wand erscheinen, überlebt aber auch dessen Zerstörung und kann in Form von Erinnerungen, Narrativen, Kopien oder Spuren in anderen Medien weiterleben. 3

Wenn nun der Mensch ein Bild genannt wird, ist zu berück­sichtigen, dass dies ein verleiblichtes Bild ist, das Beine hat, mit denen es weglaufen kann, und Augen, mit denen es seine Betrachter selbst in den Blick nehmen kann – sowie ein Herz und eine Seele, womit es wahrnehmen kann, ob es beachtet oder übersehen, ob es anerkennend oder herablassend angeschaut wird. Dieses Menschen-Bild ist sowohl materiell als auch immateriell, sowohl sichtbar als auch unsichtbar. Der Mensch, der metaphorisch ein ›Bild‹ genannt wird – sei’s ein Mannsbild oder Weibsbild –, ist einerseits bereits durch sein Bild-Sein expressiv, und andererseits birgt er ein Ge­heimnis in sich, das nicht auf der Bildfläche zu sehen ist.

Nach der Vorstellung der in der bisherigen Auslegungsgeschichte dominierenden Verstehensmodelle des imago Dei-Motivs wird deshalb zu erwägen sein, wie die particula veri der jeweiligen Modelle bewahrt werden kann und wie der Bildbegriff zu fassen ist, damit er die relevanten Aspekte integrieren kann.

1. Das funktionale, auf Repräsentation


abhebende Modell


In der Hebräischen Bibel wird das Bild Gottes nur an drei Stellen genannt, und zwar im 1. Buch Mose, in Gen 1,26 f.; 5,1–3 und 9,6. Alle Stellen gehören zur sog. Priesterschrift. In der Übersetzung der Elberfelder Bibel lautet Gen 1,26–27 wie folgt:

»Und Gott sprach: Laßt uns Menschen machen in unserm Bild, uns ähnlich

[וּנֵתוּמְדִכּ וּנֵמְِלַצְבּ]! Sie sollen herrschen über die Fische des

Meeres und über die Vögel des Himmels und über das Vieh und über die

ganze Erde und über alle kriechenden Tiere, die auf der Erde kriechen!Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde [וׂמְלַצְבְּ], nach dem Bilde Gottes [םיִהׂלֱא םֶלֶצְבְּ] schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie.«4

Eine der Fragen, die uns dieser Text stellt, ist die nach der Übersetzung der hebräischen Präposition bet: Ist der Mensch in, nach oder zum Bilde Gottes geschaffen?

Die Septuaginta gebraucht die griechische Präposition κατά, die der deutschen Präposition ›in‹ oder ›nach‹ entspricht: Der Mensch ist Gottes Bild gemäß geschaffen. Gottes Bild ist gewissermaßen das Urbild oder der Prototyp des Bildes in Menschengestalt. Dies ist die platonische Sichtweise, die sich auch im Latein der Vulgata widerspiegelt. Dort heißt es, der Mensch sei ad imaginem et similitudinem nostram geschaffen. Hier wird die hebräische Präposition als ein bet normae verstanden, das die Übereinstimmung zwischen einer Vorlage und einer ihr angeglichenen Abbildung konstatiert.

Wenn die hebräische Präposition jedoch als ein bet essentiae zu verstehen ist, dann bedeutet וּנֵמְِלַצְבּ eher, dass der Mensch als Bild Gottes oder zum Bilde Gottes geschaffen ist. Für letztere Lesart hat sich Luther entschieden.5 Weil das Wort םֶלֶצ nicht nur für ein Bild, sondern auch für eine Statue stehen kann6 (vgl. 2Kön 11,18; par 2Chr 23,17; Num 33,52; Am 5,26), und weil ägyptischen und assy­-­rischen Parallelen zufolge der Pharao oder der König das lebendige Bild bzw. die Manifestation der Herrschaft Gottes ist7 – wobei das Wort םֶלֶצ hier eine Statue bezeichnet, die in Prozessionen herumgetragen wurde und von der angenommen wurde, dass sie die Macht der Gottheit offenbart –, deshalb haben viele Exegeten den funktionalen Aspekt des Bildes Gottes betont, d. h. sie interpretieren das biblische imago Dei-Motiv in dem Sinne, dass Gott auf der Erde durch den Menschen repräsentiert wird, und zwar demokratisch durch alle Menschen, nicht nur durch ein Staatsoberhaupt.

Wenn jedoch der Mensch als belebte, Gott repräsentierende Kultstatue8 gesehen wird, impliziert dies dann auch, dass der Mensch Gott gleichsam verkörpert? In diesem Fall wäre der Mensch die Epiphanie Gottes. Im Menschen erschiene Gott selbst. Hier stellt sich die Frage, welche Rolle die hebräische Apposition תוּמְד spielt. Bemerkenswerterweise wird dieses Wort nie verwendet, um ein Götterbild oder eine Kultstatue zu bezeichnen.9 Daher scheint es eine Restriktion zu formulieren: Zwischen Gott und Mensch besteht keine Identität, sondern lediglich Similarität, d. h. Ähnlichkeit.

Wie ist dann das Verhältnis der beiden Substantive םֶלֶצ und תוּמְד zu definieren? Ergänzt das zweite Substantiv das erste, indem es ihm eine neue Bedeutungsdimension hinzufügt? Oder handelt es sich um Synonyme in einem Hendiadyoin, in dem ein und dieselbe Sache durch zwei Worte ausgedrückt wird? Selbst wenn dies der Fall sein sollte, ist noch nicht alles geklärt. Denn sofern wir es nicht mit einer schlichten Tautologie zu tun haben, weil die beiden No­mina unterschiedliche Denotationen haben, bleibt die Frage offen, ob hier der erste, umfassendere Begriff durch den zweiten lediglich präzisiert wird oder ob er, wie schon vermutet, abgeschwächt wird in dem Sinne, dass der Mensch Gott nur ähnlich, aber nicht wesensgleich ist. Da sowohl die Substantive wie auch die Präpositionen promiscue gebraucht werden – in Gen 5,3 sind sie vertauscht – und da ihre Bedeutung nicht genau festzulegen ist, bleibt auch ihre Kombination vieldeutig. Der Doppelausdruck וּנֵתוּמְדִכּ וּנֵמְِלַצְבּ enthält eine unauflösliche Spannung zwischen Konkretion und Ab­straktion, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit. Der Text spricht bestenfalls von einer annähernden Vergleichbarkeit zwischen Gott und Mensch.

Eine weitere Frage ist, ob der Mensch quasi-göttliche Qualitäten erhält, um die ihm zugeschriebene Funktion, Gott auf Erden zu vertreten, ausführen zu können. Wenn dies so ist, worin bestehen diese Qualitäten? Der Text gibt uns nur zwei Hinweise:

Der erste Hinweis ist der Gebrauch der Spezialvokabel ארב für die Erschaffung des Menschen durch Gott. Dieses Verb wird ausschließlich für Gottes freie, souveräne creatio ex nihilo, die Schöpfung aus dem Nichts, gebraucht. Der zu untersuchende Text nennt keinerlei Material, aus dem Gott den Menschen hätte schaffen können. Auch fehlt eine Beschreibung der Art und Weise, wie Gott den Menschen schuf. Das Verb ארב bezieht sich lediglich auf das Faktum des Geschaffenhabens. Was Gott geschaffen hat, ist voraussetzungslos, absolut neu und analogielos. Bevor der Mensch überhaupt damit beginnen kann, etwas zu tun, hat Gott bereits gehandelt. Der Text richtet das Augenmerk weder auf das menschliche noch auf das göttliche Sein, sondern allein auf das, was Gott tut. Der Ausdruck imago Dei ist nur eine formale Indikation der Relation, in der sich der Mensch aufgrund seiner Geschöpflichkeit befindet. Da die menschliche Existenz als Ganze im Verhältnis zu ihrem Schöpfer gesehen wird, erscheint es verkehrt, auf bestimmte Merkmale und Fähigkeiten zu zeigen, durch deren Addition man sich dann ein Bild machen könnte vom Bild Gottes.

Der zweite Hinweis, den uns der Text gibt, ist die Aussage, durch welche die Position des Menschen als Herrscher über die Tiere und über die Erde beschrieben wird. Doch erklärt das dominium animalium und das dominium terrae schon durch sich selbst, was es heißt, als Bild Gottes geschaffen zu sein? Wenn wir dies annehmen, dann besteht die Gottebenbildlichkeit des Menschen in seiner Ermächtigung zur Herrschaft.10 Wie Gen 9,6 näher entfaltet, ist es verboten, andere Menschen zu töten, weil sie ebenfalls als Bilder Gottes geschaffen sind. Die unveräußerliche Würde des Menschen leitet sich folglich von seinem Geschaffensein als Bild Gottes ab. Dementsprechend wäre die Herrschaft des Menschen über andere Geschöpfe als Konsequenz seiner Gottebenbildlichkeit anzusehen, nicht als deren Inhalt. Wie Gottes Befehl in V. 28 zeigt (d. h. die Aufforderung, fruchtbar zu sein, die Erde zu füllen und sie sich untertänig zu machen), beschreibt der Text die Aufgaben des Menschen. Es wird nicht explizit gemacht, worin die Gottebenbildlichkeit besteht, wohl aber, wozu der Mensch als Bild Gottes geschaffen ist.11

Das funktionale Modell tendiert dazu, den Inhalt des Gottesbildes auf dessen Funktion zu reduzieren. Doch was bedeutet es, Gott auf Erden zu repräsentieren? Im Alten Orient waren Standbilder eines Herrschers Medien seiner Macht.12 Dass der König selbst in seiner Abwesenheit Macht ausübt, kam zur Darstellung in Bildern, die symbolisch sein Territorium markierten. Im Kontext der Kö­nigsherrschaft bedeutet Repräsentation demnach stellvertretendes Erscheinen.

Lässt sich diese Vorstellung von Repräsentation auch in einen theologischen Kontext übertragen? Dass der Mensch Gottes Mandatar ist, kann jedenfalls nicht bedeuten, dass der Mensch an der Stelle Gottes handeln soll. Wenn dies der Fall wäre, würde das Geschöpf seinen Schöpfer ersetzen. Dieser Gedanke widerspricht der priesterschriftlichen Theologie, wonach Gott selbst in seiner Herrlichkeit dem Menschen begegnen kann. Daher muss der Mensch seinen eigenen Auftrag haben, ohne dass er jemals Gottes Stellung einnehmen, geschweige denn ausfüllen könnte. Es ist allerdings diskutabel, ob bzw. inwieweit die Funktion des Menschen von seiner Natur ge­trennt werden kann. Dies führt uns zum zweiten Abschnitt.

2. Das mimetische, auf Ähnlichkeit


abhebende Modell


Herrschaft setzt z. B. die Bereitschaft und Fähigkeit voraus, Verantwortung zu übernehmen. Dass die Charakterzüge des Menschen im Hintergrund bleiben, heißt nicht, dass der Mensch sozusagen als ›Mann ohne Eigenschaften‹13 verstanden wäre. Die Tatsache, dass seine fraglichen Qualitäten nicht explizit gemacht werden, hat zu zahlreichen Spekulationen geführt. Die Leitfrage dabei war und ist, in welchem Sinne der Mensch Gott ähnlich sei. Im Folgenden werde ich einige Beispiele dieses mimetischen, auf Ähnlichkeit abhebenden Verstehensmodells der Gottebenbildlichkeit geben.

Zu den einflussreichsten Beispielen gehört Augustins Idee, dass sich die göttliche Dreifaltigkeit in den Seelenkräften des Menschen abbildet.14 Das menschliche Gemüt hat demnach eine triadische, aus memoria, intellectus und voluntas bestehende Struktur. Bis zum Jahr 412 rechnete Augustin mit dem Verlust der imago Dei durch die Sünde. Danach ging er davon aus, dass das Bild Gottes in der menschlichen Seele unzerstörbar sei und nach dem Fall lediglich erneuert werden müsse, zu dieser reformatio jedoch selbst imstande sei, sofern der Mensch dessen, der ihn geschaffen hat, gedenken und ihn im Glauben verstehen und lieben kann.15 Deshalb ist und bleibt der Mensch nach Augustins Ansicht auf immer das Bild Gottes.16 Gottes Bild in der menschlichen Seele ist zwar durch die Sünde verzerrt, wird jedoch durch Gott selbst bzw. Chris­tus verwandelt, erlöst und erneuert werden.17

Wenn dieses Bild schon als solches seinem Original ähnelt, liegt es nahe, zu unterscheiden zwischen dieser im Bildsein selbst liegenden ontologischen Ähnlichkeit, die von Anfang an gegeben ist, ohne jemals verloren gehen zu können, und der similitudo, einer Ähnlichkeit, die erst erlangt werden muss, sei es durch die Lebensführung des Menschen oder durch Gottes Gnade. Auf dieser Argumentationslinie hat sich die mittelalterliche scholastische Tradition jedoch in ein Dilemma hineinkatapultiert, denn nun musste auch bestimmt werden, was denn nach dem Sündenfall genau vom Bild Gottes übrig geblieben war und was durch Christus erneuert werden konnte. So unterschied man zwischen imago secundum naturalia und similitudo secundum gratuita, wobei behauptet wurde, das natürliche Bild Gottes bestehe in der Rationalität und Im­mortalität, während die gnadenhafte Ähnlichkeit in den Gaben der Heiligkeit und der Gerechtigkeit (bzw. Rechtfertigung) bestehe.18

In seiner Genesisvorlesung kritisiert Martin Luther diese Unterscheidung und lehnt auch Augustins trinitarischen Zugang zur Gottebenbildlichkeit ab. Denn wenn der freie Wille, die Vernunft und das Gedächtnis als solche – unter Absehung von der Gottesbeziehung – mit der Gottebenbildlichkeit ineins gesetzt werden, dann müsste auch der Satan, der diese Fähigkeiten exzellent be­herrscht, Bild Gottes genannt werden.19 Dagegen behauptet Lu­ther, die Gottebenbildlichkeit sei durch die Sünde vollständig verloren gegangen (per peccatum amissa est) und die geistigen und seelischen Vermögen des Menschen seien korrumpiert.20 Christus allein gilt als imago essentialis in dem Sinne, dass das Bild selbst auch Gott ist.21 Denn Christus allein vergegenwärtigt die erste Person der Trinität und rechtfertigt den Menschen, der dann – simul iustus et peccator – zwei Bilder gleichzeitig trägt: das Bild Gottes und das Bild des Teufels.22 Durch Leiden, Krankheit und Anfechtung kann der Glaubende allerdings wieder gleichgestaltig werden mit Christus in seiner Erniedrigung, so Luther.23 Die ursprüng­-liche Ähnlichkeit mit Gott muss demnach erst wiedererlangt werden, und dies ist ein lebenslanger, ja eschatologischer Prozess.

Das Problem, mit dem all diese Ansätze kämpfen, ist die Tatsache, dass das Neue Testament etwas voraussetzt, das in der hebräischen Bibel nicht berichtet wird, nämlich dass der Mensch erneuert werden muss nach dem Ebenbild dessen, der ihn geschaffen hat (vgl. Kol 3,10), und dass vor allen anderen Christus das Bild des unsichtbaren Gottes ist (vgl. 2Kor 4,4; Kol 1,15).

Es ist schwer, die Negativität der Sünde ins Bild Gottes einzuzeichnen, denn sobald dies geschieht, kann es nicht länger als Bild Gottes erkannt werden. Aus diesem Grund zog Luther die Schlussfolgerung, das Bild Gottes sei unter der Sünde verloren gegangen. Diese Schlussfolgerung ist jedoch nicht durch den hebräischen Text ge­deckt, zumindest dann nicht, wenn man die Christologie nicht in ihn hineinlesen will. Der einzige Weg, dieses Problem zu umgehen, besteht darin, die Gottebenbildlichkeit erst gar nicht als ein Attribut zu verstehen, das dem Menschen zugeschrieben werden könnte. Denn was man nicht besitzt, kann man auch nicht verlieren.

In seinem Buch Schöpfung und Fall hat Dietrich Bonhoeffer das mimetische Modell und die reformatorische Theologie in diesem Sinne weiterentwickelt. Bonhoeffers These lautet, dass der Mensch seinem Schöpfer darin ähnlich ist, dass er frei ist.24 Bonhoeffer hebt hervor, dass die Freiheit keine Qualität des Menschen ist, sondern vielmehr eine Relation, da Freiheit nichts ist, was der Mensch für sich selbst alleine hat.25 Bonhoeffer argumentiert gegen eine analogia entis, bei der der Mensch in seinem An-und-für-sich-Sein dem Sein Gottes ähnlich wäre; die Ähnlichkeit des Menschen zu Gott ist seiner Meinung nach eine analogia relationis.26 Das heißt, dass auch diese Relation nicht zur Seinsstruktur des Menschen gehört, sondern geschenkte, gesetzte Beziehung ist. Der Mensch hat diese Ähnlichkeit nicht in seinem Besitz, sondern ist allein in seinem Verweis auf Gott ihm ähnlich. Für den Menschen gibt es kein Frei-sein-von ohne das Frei-sein-für, und dementsprechend gibt es für ihn kein Herrschen ohne den Dienst an Gott.27

Bonhoeffer bleibt dem hebräischen Text darin treu, dass er nicht annimmt, dass die Gottebenbildlichkeit verloren ging. Er bleibt dem reformatorischen Anliegen Luthers darin treu, dass er Freiheit primär als ein göttliches Attribut versteht – als ein Gut, das dem Menschen durch Gottes Einwohnung in der Menschenwelt zu­gute kommt. Zudem dürfte Bonhoeffer mit seiner Idee der analogia relationis der erste Repräsentant dessen sein, was ich im Folgenden das relationale Verstehensmodell der Gottebenbildlichkeit nennen möchte. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, wurde genau diese Idee von Karl Barth aufgenommen.

3. Das relationale, auf das Ereignis des Angesprochenwerdens abhebende Modell


Die Gottesbeziehung wird innerhalb des relationalen Modells nicht als Status des Menschen verstanden. Das Bild Gottes ist ex-zentrisch in dem Sinne, dass seine Beziehung zu Gott gleichsam ›von außen‹ zu ihm kommt. Bild Gottes zu sein ist nicht menschliche Eigenschaft, sondern eher eine ›Außenschaft‹, wie Helmut Thielicke dies formuliert hat – kein proprium, sondern eher ein alienum des Menschen.28 Gottes Nähe verdankt sich allein der gnädigen Zuwendung Gottes zum Menschen. Das relationale Modell ist u. a. durch die Dialogphilosophie inspiriert, worin das Ereignis des Angesprochenwerdens und der Begegnung eine zentrale Rolle spielt.

Dementsprechend betont Karl Barth in seiner Kirchlichen Dogmatik, die Gottebenbildlichkeit bestehe »nicht in irgendetwas, was der Mensch ist oder tut« – vielmehr sei der Mensch Gottes Ebenbild allein schon dadurch, indem er als Mensch »Gottes Gegenüber« sei.29 Das in Gott selbst stattfindende Sichbegegnen und Sichfinden von Ich und Du wird Barth zufolge in Gottes Beziehung zum Menschen ab- und nachgebildet. Barth beschreibt die analogia relationis wie folgt: »Wie sich das anrufende Ich in Gottes Wesen zu dem von ihm angerufenen göttlichen Du verhält, so verhält sich Gott zu dem von ihm geschaffenen Menschen, so verhält sich in der menschlichen Existenz selbst das Ich zum Du, der Mann zur Frau.«30 Das Bild Gottes ist also kein stummes Bild, sondern ein sprechendes, in Gespräche verwickeltes. Barth wehrt jedoch sofort ein mögliches Missverständnis ab: Die Analogie zwischen Gott und Mensch ist nicht Gleichheit, sondern eine Entsprechung des Ungleichen.31 »Gott ist das Ur- und Vorbild, der Mensch sein Ab- und Nachbild.«32 Gott der Vater ist das Urbild, Christus das Vorbild. So bestimmt auch hier die Christologie die Interpretation.

Daher lässt sich fragen, ob sich denn auch im hebräischen Text Belege für das relationale Modell finden. Man könnte Folgendes vorbringen: In V. 28 spricht Gott die Menschen an und segnet sie. Verglichen mit dem Segenswort an die Tiere in V. 22 ist V. 28 insofern modifiziert, als hier das Wort םֶהָל hinzugefügt wird. Gott spricht direkt zu ihnen. Darf man daraus schließen, dass im Ge­schaffensein als Gottes Bild bereits die Fähigkeit liegt, in ein Verhältnis mit Gott einzutreten?33 Obwohl die Möglichkeit der Verständigung auf Seiten des Menschen vorausgesetzt sein mag, ist es fraglich, ob die Imperative in Gottes Segensspruch überhaupt als kommunikative Anrede gemeint sind oder nicht vielmehr als unilaterale Verfügung, als autoritatives Befehlswort auf Seiten Gottes. Die Tatsache, dass der Text keinerlei Reaktion des Menschen er­wähnt, spricht eher für Letzteres.

Nichtsdestotrotz kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Bildbegriff selbst eine implizite Relationalität enthält. Gerhard Ebeling hat diesen Gedanken in seiner Schöpfungslehre entfaltet. Ein Bild gibt etwas zu erkennen, und zwar etwas anderes als es selbst. »Es will in der Weise erkannt sein, daß man zur Erkenntnis jenes anderen geführt wird, das man in dem Bild erkennt oder wiedererkennt.«34 Die Existenz des Bildes enthält eine dreifache Relation, nämlich zum Dargestellten, zum Urheber des Bildes und zum Betrachter.35 Das im Bild Dargestellte vergegenwärtigt die Gegenwart dessen, was im Bild festgehalten wird. Der Urheber des Bildes ist getrennt von seinem Werk und kommt doch in ihm zum Ausdruck in der Weise, wie es gestaltet ist. Der Betrachter vergisst sich selbst über dem Anblick des Bildes und wird zu dem hinversetzt, was sich ihm darbietet. Die Bildbezüge durchdringen sich insofern, als Gott zugleich der Inhalt und der Ursprung des Bildes ist, als das Bild Gott und den Menschen zeigt, und als es sowohl von Gott als auch von Menschen betrachtet werden kann. 36 Ebeling verbindet die Gottebenbildlichkeit des Menschen mit seiner Sprachlichkeit und Personalität.37 Dabei spricht er vom »Wortgeschehen« zwischen Gott und Mensch sowie von Mensch zu Mensch.38 Beachtenswert ist, dass das Bild, das der Mensch von sich und von Gott hat, nicht identisch ist mit dem Bild, das er oder sie als Person ist. Der Mensch geht nicht in dem auf, als was er erscheint, und ist mehr als das, was er von sich selbst sagt und versteht.

Dieses relationale Modell der Gottebenbildlichkeit hebt darauf ab, dass Gott sich bereits auf den Menschen bezogen hat, bevor der überhaupt dazu kommt, sich als Teil dieser Beziehung zu verstehen. Bevor der Mensch zu sprechen beginnt, hat Gott ihn bereits angeredet und zu einem Leben im Dialog berufen. Dies stellt uns vor die Frage, ob der Mensch auch selbst etwas dazu beitragen kann, dass er zum Bild Gottes geformt wird. Besteht ein Zusam­men­hang zwischen Bild und Bildung? Schließt das Bildsein auch einen Bildungsprozess ein, in dem der Mensch zu dem wird, der er sein soll? Dem ist im folgenden Abschnitt noch näher nachzugehen.

4. Das dynamische, auf Bildung und Gleichgestaltung (conformitas) abhebende Modell


Dass sich der Mensch als Bild Gottes überdies auch nach dem Bilde Gottes erst noch zu bilden hat, ist die Pointe des dynamischen, auf Bildung und Gleichgestaltung abhebenden Verstehensmodells der Gottebenbildlichkeit. Dieses Modell hat seine Wurzeln in der griechischen Antike, in der die platonische Idee der Angleichung an Gott, der ὁμοίωσις θεῷ, in den biblischen Text eingetragen wurde. Vom Menschen als Bild Gottes wird erwartet, dass er die Distanz zu seinem göttlichen Vorbild so weit wie möglich minimiert, und zwar durch ethisches Streben.39

Diese Idee wurde im Humanismus der Renaissance wieder aufgenommen. Das Bild Gottes wird hier in einem evolutionären Sinne gedeutet: als Angabe des menschlichen Entwicklungspotentials. Nach Pico della Mirandolas Werk De hominis dignitate (1486) ist der Mensch als Wesen geschaffen, dessen Natur und Lebensform noch unbestimmt ist, weshalb der Mensch sich selbst bestimmen und sein Leben in Freiheit formen muss. Der Mensch als Chamä­leon ist weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch un­sterblich geschaffen, damit er als sein eigener, schöpferischer Bildhauer sich selbst zu der Gestalt ausformt, die er bevorzugt. Dabei kann er entweder zum Niederen, Tierischen entarten (degenerare) oder zum Höheren, Göttlichen wiedergeboren werden (regenerari).40 Die ge­glückte Selbstverwirklichung geht einher mit der Erlangung der Gottebenbildlichkeit. Dadurch kommt die imago Dei nicht nur als natürliche Anlage, sondern auch als Zielbestimmung zum Tragen.

Dies gilt auch für Meister Eckharts mystische Bildungslehre. Eckhart greift nicht nur auf die schöpfungsmäßige Gottebenbildlichkeit des Menschen zurück, sondern ist vor allem an der Erneuerung dieser ursprünglichen Bestimmung des Menschen durch seine Verwandlung in das Bild Christi interessiert. In seinem zwischen 1308 und 1313 für die Königin Agnes von Ungarn verfassten Buch der göttlichen Tröstung beschreibt Eckhart diese Transformation als fortgesetzten Prozess des zum Bild Gottes Gebildetwerdens, des seiner selbst und des Kreatürlichen Entbildetwerdens, des der göttlichen Gutheit Eingebildetwerdens und des in Entsprechung mit Gottes Willen Überbildetwerdens der Seele. Notabene: Der Gedanke einer entelechischen Selbstentfaltung der Seele wie auch der bildenden Einwirkung des einen Menschen auf andere Menschen ist Eckhart fremd. Die Bildung der Seele in die Konformität mit Chris­tus hinein wird exklusiv als Werk der göttlichen Gnade betrachtet, das sich weder lehren, lernen noch examinieren lässt. Erst im Reich Gottes wird das Gebildetwerden zur imago Dei vollendet sein.41

Dann erst wird der Mensch wahrhaft ›der Gott entsprechende Mensch‹ sein, der dem Menschen ein Mensch ist und Gott den Herrn des Menschen sein lässt, um die Finalbestimmung in Eberhard Jüngels Worte zu kleiden.42

Während nun der Renaissance-Humanismus den aktiven Beitrag des Menschen unterstreicht, ist rechtfertigungstheologisch an der soteriologischen Passivität des Menschen festzuhalten. Beide Aspekte kommen zusammen in einer Erbaulichen Rede Sören Kierkegaards von 1844, die den Titel trägt: »Der rechte Beter streitet im Gebet und siegt – damit, daß Gott siegt«43. Der Beter ist nicht passiv, denn sein Inneres ist ein Kampfplatz, wo er um eine Erklärung ringt für das, was ihm zugestoßen ist. Der Streit geht sowohl darum, sich bei Gott verständlich zu machen, als auch darum, dass Gott sich erklären möge.44 Doch Gott will allein jenes Verstehen mit dem Beter haben, »das im Unverständlichen ist«, d. h. den Glauben.45 Der Glaube hat zwar selbst keine Erklärung, wartet aber auf den Tröster, der dem Leidenden das Trauergewand auszieht und ihm ein neues Herz und einen gewissen Geist gibt.46

Kierkegaard zufolge kommt der Streitende nur dann dazu, Gott zu gleichen, wenn er selbst zu nichts wird, denn allein dann kann Gott ungehindert durch ihn hindurchscheinen.47 Dies expliziert Kier­kegaard mit der Metapher des Meeres: »Wenn das Meer alle seine Kraft anstrengt, so kann es das Bild des Himmels gerade nicht widerspiegeln …; doch wenn es stille wird und tief, senkt sich das Bild des Himmels in sein Nichts.«48 Die Aktivität des Beters dient demnach nur dazu, die eigene Aktivität der Selbstbekräftigung im Streit mit sich selbst aufzugeben. Denn so sehr sich der Mensch auch be­müht, etwas zu sein bzw. zu werden, Gott gleichen kann er nur, wenn er Gott in sich wirken lässt. Der Mensch wird erst dann durchsichtig für Gott, wenn Gottes Werk im menschlichen Werk und an dessen Grenzen deutlich wird. Die von Gott erbetene Erklärung (dän.: Forklaring) verwandelt sich somit in die Verklärung (Forklarelse) des mit Gott streitenden Beters. Ist dadurch aus Gottes Opponent ein Mitarbeiter Gottes geworden? Dies gilt nur insofern, als der Mensch Gott dabei hilft, die Bedeutung des Menschen zu reduzieren, bis er in der Tat von sich selbst weg verweist und das Bild Gottes widerspiegelt.

5. Konklusion: Zum Verständnis des Bildbegriffs


Ich fasse zusammen und komme zum Schluss. Der Überblick über die vier Modelle, das Imago Dei-Motiv zu verstehen, hat gezeigt, dass sich die verschiedenen Aspekte der Bildlichkeit überschneiden können. So impliziert z. B. die Repräsentation auch eine Art von Ähnlichkeit. Wenn wir von einem Bild des Unsichtbaren sprechen, das sich unserem Blick entzieht, kann die konstatierte Ähnlichkeit jedenfalls kein Resultat eines Vergleichs zwischen dem Bild und seiner Vorlage sein. Die Züge, in denen das Sichtbare dem Unsichtbaren ähnelt, können nur unter der Bedingung identifiziert werden, dass man schon weiß, worauf das Bild referiert. Dieses Wissen kann nicht einfach von einem vorhandenen Bild abgelesen werden, denn Bilder bleiben vieldeutig. Die Würde des Menschen etwa übersteigt das, was empirisch am Menschen wahrgenommen werden kann. Dennoch kommt die bildliche im Unterschied zur sprachlichen Repräsentation nicht umhin, zumindest einige Züge der porträtierten Person zu zeigen. 49

Wie also ist der Bildbegriff zu fassen, damit er die herausgestellten Aspekte integrieren kann? Ist das Bild Gottes ein Porträt? Dies wurde jüngst von Hannes Langbein vorgeschlagen. Seiner Ansicht nach zeichnet sich ein Bild nicht primär dadurch aus, dass es etwas abbildet oder auf etwas verweist. Vielmehr sei es »der Ort eines Blickwechsels zwischen Betrachter und Betrachtetem« – entweder durch einen im Bild stattfindenden Entzug oder eine überschwängliche Gabe.50 Der Unsichtbarkeit könne nur ein verwandelnder Blick gerecht werden, der nicht nur sieht, was ist, sondern immer auch das, was nicht ist, sieht, als ob es wäre. Die Gottebenbildlichkeit als Blickwechsel sei ein Geschehen, das im liebenden Blick Gottes seinen Ursprung habe.51

Ich habe Sympathie für diesen Zugang. Als ich jedoch Jean-Luc Nancys Buch Porträt und Blick las, auf das sich Langbeins Vorschlag stützt, wurde ich auf folgendes Problem aufmerksam: Nach Nancy bewahrt das Porträt das Bild eines Abwesenden. Während das Spiegeln nur in praesentia geschehe, sei das Porträt eine Präsenz in absentia.52 Wie gesagt ist das Bild Gottes biblisch gesehen kein Bild, das Gott in einer gottlosen Welt repräsentiert. Überdies sind Ab­-bildungen Gottes durch das Bilderverbot tabuisiert. Würde Gott nichtsdestotrotz sein eigenes Porträt in die Welt setzen? Dann hätte Gott viele Köpfe und viele Gesichter …

Kierkegaards Entdeckung der Transparenz des Gottesbildes, seiner Materialität zum Trotz, kann uns stattdessen zur Annahme führen, dieses Bild sei ein Zeichen, das zwar in sich selbst steht, aber dennoch auf einen anderen verweist. Zwar ist dieses Bild normalerweise opak. Nietzsche nannte den Menschen »ein undurchsichtiges Tier«53. Dessen ungeachtet können wir zumindest versuchen, das pragma-semiotische Prinzip anzuwenden, dass alles als ein Zeichen mit der Struktur ›etwas als etwas für jemanden‹ gesehen werden kann. Nichts kann als Zeichen wirken, wenn es nicht als Zeichen verstanden wird.

Charles Sanders Peirce (1839–1914), der Vater der modernen Se­miotik, unterschied zwischen drei Zeichenklassen: Ikon, Index und Symbol.54 Das Ikon hat Eigenschaften mit seinem Objekt gemeinsam und ist ihm darin ähnlich. Ein Index verweist auf sein Objekt aufgrund einer zeitlichen, räumlichen oder kausalen Beziehung mit ihm. Ein Symbol verweist auf sein Objekt, weil es mit ihm durch ein Gesetz, eine Gewohnheit oder eine Konvention verbunden ist. Ein Bild ist zumeist ein komplexes Zeichen, in dem alle Zeichenklassen enthalten sind. Das ›reine‹ Ikon dagegen wird nicht von seinem Objekt bestimmt, sondern ist ein selbstreferenzielles Bild, da es die Eigenschaften, auf die es verweist, selbst hat.

Ist das Bild Gottes ein reines Ikon? Dann wäre es ein Idol. Denn dann hätte es verloren, was ihm wesentlich ist: den Bezug auf den unsichtbaren Gott. Wäre der Mensch als imago Dei selbstreferenziell, diente sein Bild-Sein der Apotheose des Menschen.55 Wollen wir den Gedanken der Unähnlichkeit zwischen Gott und Mensch bewahren, müssen wir an der in der Bildlichkeit implizierten Relationalität festhalten. Der Gedanke der Unähnlichkeit wiederum leitet sich vom Gedanken der Ähnlichkeit ab, und deshalb können wir uns nicht einfach von Augustins Einsicht verabschieden, dass ein Bild dem ähnelt, wovon es ein Bild ist.56 Es bleibt jedoch fraglich, welche Charakteristika wir mit Gott teilen und welche nicht und wie dieses Teilen oder Mitteilen vorgeht.

Wenn das Bild Gottes seine Ähnlichkeit mit Gott bewahren soll, in welcher Form auch immer, ist es als Ikon zu definieren. Wenn der funktionale Aspekt der Repräsentation darin eingeschlossen sein soll, ist das Bild auch indexikalisch zu verstehen. Überdies erfordert der Aspekt des Über-sich-selbst-Hinausweisens, der in den relationalen und dynamischen Modellen prominent ist, dass das Bild Gottes auch als Symbol zu bestimmen ist. Meine Konklusion lautet daher, dass der Mensch als imago Dei als ein komplexes Zeichen aufzufassen ist, das sowohl ikonisch, indexikalisch als auch symbolisch ist.

Die Bildwissenschaft macht zudem darauf aufmerksam, wo­durch sich ein Bild von einem nicht-ikonischen Zeichen unterscheidet. Die Differenz liegt in der Art des Bedeutens, der Art der Signifikation, die beim Bild nicht so sehr in der Lexis, sondern vielmehr in der Deixis, d. h. im Zeigen, besteht.57 Das Bild ist wesentlich Geste, die den Betrachter dazu bewegt, seinen Blick zu wenden. Ein Bild wird gezeigt und doch zeigt es sich – ja, es kann sogar mehr zeigen, als mit ihm gezeigt werden soll. Philipp Stoellger hat herausgestellt, dass die transitive und intentionale Deixis als Fall von Aktintentionalität nicht passend ist für das Bildereignis, sondern vielmehr das allmähliche oder plötzliche Erscheinen von etwas, das intransitiv und nichtintentional zum Vorschein kommt. 58

Was sich im Bild offenbart und wie es sich zeigen wird, ist nicht im Voraus abzusehen. Das Überraschenkönnen mag auch etwas sein, worin das sichtbare Bild Gottes dem Unsichtbaren, auf den es verweist, entspricht. In diesem Sinne will ich meine Überlegungen mit einem Tagebucheintrag des Zürcher Schriftstellers Max Frisch (1911–1991) abschließen. Dort heißt es:

»Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, daß sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. Wir wissen, daß jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und daß auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, daß wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden: weil wir sie lieben; solang wir sie lieben.

Du sollst dir kein Bildnis machen, heißt es, von Gott. Es dürfte auch in diesem Sinn gelten: Gott ist das Lebendige in jedem Menschen, das, was nicht erfassbar ist. Es ist eine Versündigung, die wir, so wie sie an uns begangen wird, fast ohne Unterlaß wieder begehen – ausgenommen wenn wir lieben.«59

Summary


This article is about the biblical motif of the human being as an image of God. The investigation focuses on the dialectics of visi­-bility and invisibility in regard to the human being: What does it mean to be an image of the invisible? The article identifies four models of understanding the imago Dei motif, namely (1) the functional model emphasizing representation – a model which is supported by exegetical findings concerning Genesis 1:26 f., (2) the mimetic model emphasizing resemblance or, respectively, the dissemblance caused by sin (Augustine, Luther, Bonhoeffer), (3) the relational model emphasizing the event of being addressed (Thielicke, Barth, Ebeling), and (4) the dynamic model emphasizing the striving for (con-)formation, one’s being-formed in conformity with God, or a both active and passive form of reflection (Pico della Mirandola, Meister Eckhart, Kierkegaard). In a fifth and final step, the notion of the image is reconsidered from the perspective of Bildwissenschaft, i. e., from a new discipline that originates at the intersection of semiotics and visual studies. The article suggests understanding the imago Dei as a complex sign that is at once iconic, indexical, and symbolical, signifying through deixis and thereby pointing beyond itself.

Fussnoten:

1) Dieser Aufsatz geht zurück auf meine Antrittsvorlesung als Privatdozentin in Systematischer Theologie an der Universität Zürich am 1. November 2010.
2) Vgl. http://www.teol.ku.dk/english/dept/invisibilis/.
3) Vgl. W. J. T. Mitchell, »Vier Grundbegriffe der Bildwissenschaft«, in: Bildtheorien. Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn, hrsg. v. K. Sachs-Hombach, Frankfurt a. M. 2009, 319–327, hier 322.
4) Die Heilige Schrift. Elberfelder Bibel revidierte Fassung, Wuppertal 41999.
5) Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Apokryphen und Wortkonkordanz, Stuttgart 1990.
6) Vgl. Angelika Berlejung, Die Theologie der Bilder. Herstellung und Einweihung von Kultbildern in Mesopotamien und die alttestamentliche Bilderpolemik (Orbis Biblicus et Orientalis 162), Freiburg (Schweiz) 1998, 308–311.
7) Vgl. Boyo Ockinga, Die Gottebenbildlichkeit im Alten Ägypten und im Alten Testament (AAT 7), Wiesbaden 1984, 153 ff.; Werner H. Schmidt, Die Schöpfungsgeschichte der Priesterschrift. Zur Überlieferungsgeschichte von Genesis 1,1–2,4a und 2,4b–3,24 (WMANT 17), Neukirchen-Vluyn 21967, 137–139.
8) Vgl. Bernd Janowski, »Die lebendige Statue Gottes. Zur Anthropologie der priesterlichen Urgeschichte«, in: M. Witte (Hrsg.), Gott und Mensch im Dialog. FS Otto Kaiser (BZAW 345/I), Bd. 1, Berlin-New York 2004, 183–214; Erich Zenger, Gottes Bogen in den Wolken. Untersuchungen zur Komposition und Theologie der priesterschriftlichen Urgeschichte, Stuttgart 1983, 89.
9) Vgl. Berlejung 1998, 311.
10) Vgl. Walter Groß, Studien zur Priesterschrift und zu alttestamentlichen Gottesbildern, Stuttgart 1999, 31.
11) Vgl. Gerhard von Rad, Das erste Buch Mose. Genesis (ATD 2/4), Göttingen 121987, 39.
12) Vgl. Klaus Koch, Imago Dei – Die Würde des Menschen im biblischen Text, Hamburg 2000, 17 f.
13) Anspielung auf Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften.
14) Vgl. Aurelius Augustinus, De trinitate IX, 4, 4; 12, 18; X, 11, 17 f. Vgl. Matthew Drever, »The Self before God? Rethinking Augustine’s Trinitarian Thought«, in: HThR 100:2 (2007), 233–242.
15) Vgl. Aurelius Augustinus, De trinitate XIV, 12, 15.
16) Vgl. De trinitate VII, 6, 12. Vgl. Roland Kany, Augustins Trinitätsdenken. Bilanz, Kritik und Weiterführung der modernen Forschung zu »De trinitate«, Tübingen 2007, 227–230.
17) Vgl. Aurelius Augustinus, De trinitate XIV, 16, 22 and 17, 23.
18) Vgl. Albrecht Peters, Der Mensch (Handbuch systematischer Theologie 8), Gütersloh 21994, 46 und 197 f., mit Verweis auf die Glossula vocabulorum in Genesim (Clm. 22307 f.5): »Distat inter imaginem et similitudinem: imago est in ratione et immortalitate, similitudo vero in morum sanctitate et iustificatione.«
19) Vgl. Martin Luther, Genesisvorlesung (1535/38), in: WA 42, 46, 8; 123, 38–124, 21; 125, 21–32.
20) Vgl. WA 42, 46, 4–7.
21) Vgl. WA 20, 375, 23 f.
22) Vgl. Johann Anselm Steiger, »Bild Gottes und Bildung durch Bilder in Luthers Theologie«, in: Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben. Communicatio – Imago – Figura – Maria – Exempla, Leiden-Boston-Köln 2002, 107–143, hier 113.117.
23) Vgl. WA 24, 50, 26.29–32; WA 5, 177, 19–21: »Ita per spem tribulatione operante nascentem divinae imagini conformamur et creamur ad imaginem (iuxta Paulum [scil. Kol 3,1] eius, qui fecit nos.«
24) Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Schöpfung und Fall, hrsg. v. M. Rüter u. I. Tödt, Gütersloh 32007, 56 und 58.
25) Vgl. a. a. O., 58.
26) Vgl. a. a. O., 60 f.
27) Vgl. a. a. O., 63.
28) Vgl. Helmut Thielicke, Theologische Ethik, Bd. 1: Prinzipienlehre: dogmatische, philosophische und kontroverstheologische Grundlegung, Tübingen 31965, §§ 781 ff.792.806 ff.956 ff.
29) Vgl. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik. Die Lehre von der Schöpfung. Das Werk der Schöpfung (KD III,1 §§ 40–42), in: Studienausgabe, Bd. 13, Zürich 1993, 207.
30) A. a. O., 220.
31) Ebd.
32) A. a. O., 222, vgl. 212.
33) So Victor Maag, »Alttestamentliche Anthropologie in ihrem Verhältnis zur altorientalischen Mythologie (1955/1980)«, in: H.-P. Müller (Hrsg.), Baby­-lonien und Israel, Darmstadt 1991, 82; Claus Westermann, Genesis 1–11 (BK.AT1.1), Neukirchen-Vluyn 1974, 217 f.
34) Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 1: Prolegomena. Erster Teil: Der Glaube an Gott den Schöpfer der Welt, Tübingen 21982, 377.
35) Vgl. a. a. O., 378 f.
36) Vgl. a. a. O., 378–380.
37) Vgl. a. a. O., 389.
38) A. a. O., 395, vgl. 402.
39) Vgl. Christoph Markschies, »Gottebenbildlichkeit. II. Christentum« in: RGG 3 (2000), 1160–1163, mit Verweis auf Plato, Theaitet 176A/B; Rep. 613 A.
40) Vgl. Giovanni Pico della Mirandola, De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen (Philosophische Bibliothek 427), übers. v. N. Baumgarten, hrsg. v. A. Buck, Hamburg 1990, 4–7.
41) Vgl. Meister Eckhart, Das Buch der göttlichen Tröstung. Ins Neuhochdeutsche übertragen v. J. Quint, Frankfurt a. M.-Leipzig 1987, 13 f.23.33–35. Vgl. hierzu Wolfhart Pannenberg, »Gottebenbildlichkeit und Bildung des Menschen«, in: Grundfragen Systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze Band 2, Göttingen 1980, 207–225, hier 211 f. und 225.
42) Vgl. Eberhard Jüngel, »Der Gott entsprechende Mensch. Bemerkungen zur Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grundfigur theologischer Anthropologie«, in: Ders., Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen, München 1986, 306 und 317.
43) Ich zitiere aus folgender Übersetzung: Sören Kierkegaard, Vier erbauliche Reden 1844. Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten 1845, in: E. Hirsch/H. Gerdes (Hrsg.), Gesammelte Werke, 13. und 14. Abt., Gütersloh 21996, 86–110.
44) Vgl. a. a. O., 97 und 103.
45) A. a. O., 104.
46) Vgl. a. a. O., 105 f.
47) Vgl. a. a. O., 108.
48) A. a. O., 109.
49) Vgl. Jakob Steinbrenner, »Bildtheorien der analytischen Tradition«, in: Bildtheorien. Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn, hrsg. v. K. Sachs-Hombach, Frankfurt a. M. 2009, 284–315, hier 300 f. mit Verweis auf Hopkins.
50) Hannes Langbein, »Sichtbarkeit und Ebenbildlichkeit. Zur Theorie der Visibilität des Menschen bei Hans Blumenberg«, in: R. A. Klein (Hrsg.), Auf Distanz zur Natur. Philosophische und theologische Perspektiven in Hans Blumenbergs Anthropologie (Interpretationen Interdisziplinär 7), Würzburg 2009, 88–98, hier 97, mit Verweis auf Jean-Luc Marion, God Without Being, Chicago 1991, 18–22.88, und Öffnung des Sichtbaren, Paderborn 2005, 63 ff.; sowie Georges Didi-Huberman, Was wir sehen blickt uns an, München 1999, 13.17.21.
51) Ebd.
52) Vgl. Jean-Luc Nancy, Porträt und Blick, übers. v. G. Febel u. J. Legueil, Stuttgart 2007, 30 und 35.
53) Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, IX 291.
54) Vgl. Charles Sanders Peirce, Brief an Lady Welby (§ 1. On Signs and the Categories, § 2. On the Classification of Signs), in: Collected Papers of Charles Sanders Peirce, Bd. VIII: Reviews, Correspondence, and Bibliography, hrsg. v. A. W. Burks, Cambridge 1958, 220–245, hier 241. Vgl. Winfried Nöth, »Bildsemiotik«, in: Bildtheorien. Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn, hrsg. v. K. Sachs-Hombach, Frankfurt a. M. 2009, 235–254, hier 241–244.
55) Dies sei kritisch eingewendet gegen Michael Moxter, der vom Bild Gottes behauptet, als Bild komme es ohne Referenz aus und rege auch diesseits der Tatsachen die Imaginationskraft an (»Der Mensch als Darstellung Gottes. Zur An­thropologie der Gottebenbildlichkeit«, in: Theologie zwischen Pragmatismus und Existenzdenken. Festschrift für Hermann Deuser zum 60. Geburtstag, hrsg. v. G. Linde/R. Purkarthofer/H. Schulz/P. Steinacker, Marburg 2006, 271–284, hier 283).
56) Vgl. Aurelius Augustinus, De Genesi ad litteram inperfectus liber, cap. 16, in: CSEL XXVII/1, 497 f.: omnis imago est similis ei, cuius imago est.
57) Vgl. Philipp Stoellger, »Das Bild als unbewegter Beweger? Zur effektiven und affektiven Dimension des Bildes als Performanz seiner ikonischen Energie«, in: G. Boehm/B. Mersmann/Chr. Spies (Hrsg.), Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, München 2008, 183–217, hier 189 f.192.
58) Vgl. a. a. O., 212.
59) Max Frisch, »Vorstudien zu ›Andorra‹«, in: Ders., Tagebuch. 1946–1949, Frankfurt a. M. 1985, 27 und 32.