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Ausgabe:

Mai/2011

Spalte:

573-575

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Rostagno, Sergio

Titel/Untertitel:

La scelta. Ciò in cui credi e la norma che ti dai.

Verlag:

Torino: Claudiana 2009. 192 S. 8° = Piccola biblioteca theologica. Kart. EUR 18,00. ISBN 978-88-7016-708-5.

Rezensent:

Hans-Martin Barth

Sergio Rostagno, langjähriger Professor für Systematische Theologie an der Waldenser-Fakultät in Rom, Herausgeber der Zeitschrift »Protestantesimo« und Mitarbeiter bei »Filosofia e Teologia«, hat einen wichtigen Beitrag zum Selbstverständnis des Protestantismus vorgelegt. Er wendet sich an den italienischen Intellektuellen, ja an den Intellektuellen überhaupt, der mit dem Protestantismus nichts Rechtes anzufangen weiß. Sein Buch ist eine Apologie von Grundprinzipien des (lutherisch orientierten) Pro­testantismus und zu­gleich eine herbe Kritik des real existierenden Protestantismus. Er will keine Monographie über Luther schreiben, aber doch einige der Basisformeln reformatorischer Theologie von Missverständnissen befreien und auf ihre Grundeinsichten zurückführen. Denn die Einwände gegen die evangelische Theologie seien erheblich: Willkür und Beliebigkeit, pessimistische Anthropologie, falsche Trennung von Äußerem und Innerem; das lasse sich zeigen von Giordano Bruno bis Luhmann und Marcuse.
R. versucht, dem dadurch Paroli zu bieten, dass er die Theologie Luthers aus den gewohnten kirchengeschichtlichen und religiösen Koordinaten von sola scriptura und solus Christus, Sünde und Gnade herauslöst und auf ihre philosophisch-anthropologische Bedeutung hin befragt. Der Protestantismus gehe alle an; er sei nicht eine »Botschaft von Religiösen für Nicht-Religiöse« (38). Hinter der Distinktion von Glaube und Werken stehe die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem, was den Menschen begründet, und seiner Ethik. »Woran du glaubst«, ist das eine; kategorial verschieden und doch dem notwendig zugeordnet ist das andere: »die Norm, die du dir gibst«. Man müsse vom »Paradox« ausgehen und es fruchtbar werden lassen, statt sich auf einen »Sprung in den Glauben« zu beziehen. Das Paradox bestehe darin, dass Gott – gemessen an irdischen Kriterien – dem Menschen bedingungslos gnädig ist. Diesem Paradox entspreche eine in ausgewogene Entscheidungen eingebundene, an den konkreten Menschen orientierte Ethik. Im Glauben zeige sich das Paradox als Fundament, das die Autonomie des Menschen begründe, und zwar in einem dynamischen Sinn, in dem die immer neue Setzung des Fundaments ( esse) sich in fortgesetztem Werden (fieri) verwirklicht. In der Philosophiegeschichte, die sich ja wesentlich um das Selbstverständnis des Menschen bemüht habe, sei dieser Ansatz infolge seiner religiös-kirchlichen Einkleidung übergangen worden. Es gelte aber, den philosophischen Gehalt der lutherischen Theologie ernst zu nehmen. Luther habe sich keineswegs, nach einem »Addio« an die Vernunft, in die Arme des Glaubens geworfen (52).
Das Verhältnis von Glaube und Werk, Hören und Handeln, von Theorie und Praxis werde damit auf eine neue Basis gestellt: Beides gehöre zusammen, jedoch in kategorialer Differenz. Es gehe nicht darum, den Glauben in die Tat umzusetzen; Glaube kann nicht durch ein ihm entsprechendes Handeln ergänzt, vervollkommnet oder zu seinem eigentlichen Ziel gebracht werden. Er ist ein Da­tum, ein Ausgangspunkt, und nicht ein Motiv zu entsprechendem ethischen Verhalten. Ethik erwächst demzufolge aus dem »Paradox«, nicht aus dem Versuch, Gott ähnlich zu werden. Wichtig ist damit nicht die Selbstverwirklichung des Menschen, sondern seine Selbstwahrnehmung als befreites Subjekt, das sich nun in Freiheit seinen Mitmenschen zuwenden und im Sinne von Gegenseitigkeit deren Bedürfnissen entsprechen kann.
In seinen Thesen de homine mache Luther deutlich, dass der Mensch nicht von seinen Potentialitäten her zu verstehen ist; es gibt kein »Trampolin« zur Verbindung von Gott und Mensch. Vielmehr sei der Mensch definiert durch seine Rechtfertigung aufgrund von Gottes paradoxem Handeln. Mehr als die Rechtfertigung im Sinne von Sünde und Buße sei das Thema der Theologie »die Konstitution des Subjekts« (118). An dieser Stelle kann der Be­griff »Menschenwürde« aufgenommen und an der Christologie verdeutlicht werden. Die Reformation habe keineswegs das Nachdenken durch Soteriologie ersetzen wollen. Sie habe nicht versucht, »die Rationalität in Mystik zu übersetzen« (128). Indem sie auf die Objektivität des Fundaments abhebt, stellt sie sich der Herausforderung der Metaphysik (128).
Die Basis für unser Christsein liegt im »Surrealen« (129), das im Hören auf das Wort als Freiheit begründend erfahren wird. Theologische und ethische Vernunft stellen ein »duales System« dar, indem sie einerseits die Begründung des Subjekts, andererseits dessen Verantwortlichkeit gegenüber den Mit-Subjekten thematisieren (131). Es gibt für die Reformation gerade keinen Übergang vom einen zum andern. Wenn wir die unsere Autonomie begründende Botschaft umsetzen wollen in eine Reihe von Folge-Akten und uns fragen, welches Handeln wohl dem Glauben entspricht, befinden wir uns schon auf einem »falschen, von Fußangeln gespickten Weg« (155).
Die Ethik ist den Menschen überlassen, ihr Terrain ist die Sünde (156). Sie ist eine Funktion nicht des erlösten, sondern des sündigen Menschen (ebd.). Deswegen kommt sie nicht ohne Grenzen, Provisorien und Kompromisse aus (138). Sie orientiert sich an der Notwendigkeit und ist so weder fremdbestimmt noch beliebig. Es gelte, zwischen dem Absoluten und dem Relativen, zwischen dem Übergeschichtlichen und dem Geschichtlichen klar zu unterscheiden (152). Darin sieht R. den ersten Schritt, einer sektenhaft engen Ethik zu entkommen (146). Der Glaube als das Absolute gehöre nicht zur Anthropologie, sondern einer Art »Meta-anthropologie«, sozusagen »jenseits von allem vernünftigem Zweifel« (148). »Ge­wissheit« und »Kontingenz«, die einander zu widersprechen scheinen, gehören auf eine dialektische Weise zusammen: die Gewissheit als die Freiheit, die Kontingenz zu akzeptieren.
Kriterium ethischen Handelns ist dabei im Kontext menschlicher Gegenseitigkeit das, was notwendig ist. Es ist nicht ein vorausgesetztes »Gutes«. Würde man von einem gegebenen Guten ausgehen, dem der Mensch zu entsprechen habe, so wäre damit die Freiheit der Entscheidung bereits entthront, ja annulliert (161). »Das Gute ist die Autonomie (die Regie), die alles lenkt.« (162)
R. sucht nach dem Anschluss des Protestantismus an die Moderne, an die Ursprünge, an das Prinzipielle. Er arbeitet zu diesem Zweck Luthers Grundanliegen der Rechtfertigung mit Verve heraus, mit einer barthianischen Entschlossenheit, manchmal sogar in der Sprache Karl Barths: »… Gott entscheidet und hat entschieden« (135); das Surreale, in dem alles Christsein verankert ist, ist »das Unmögliche, das realer ist als das Mögliche« (129).
Doch bleiben Fragen. Vorweg: Kann man wirklich Luthers Theo­logie aus ihrem im engeren Sinn theologischen Kontext herausnehmen – etwa mittels eines Verfahrens, demzufolge nach Auffassung des historischen Materialismus notwendig religiös eingekleidete Konflikte erst entschleiert und in ihrer eigentlichen (nämlich gesellschaftlichen) Bedeutung erkannt werden sollten? Bei einer Übersetzung von Theologischem ins Philosophische ergibt sich leicht eine abstrakte Welt, in der mit Begriffen gearbeitet wird, die keinesfalls zu Leerformeln werden dürfen und aber im Grunde doch nur theologisch erschlossen werden können: das »Verbum«, die »fides«, die »Notwendigkeit«, die »Verantwortlichkeit«.
»Paradox« ist ein philosophischer Begriff. Müsste man bei Luther aber nicht eher von einer – die Logik einbegreifenden, aber nicht in ihr aufgehenden – Absurdität des Handelns Gottes sprechen? Hätte Luther zudem die Absurdität nicht stärker im Evangelium selbst fest gemacht als in der »fides«, die von der Gültigkeit dieser Absurdität doch erst ermöglicht und getragen wird? Natürlich spricht auch R. mehrfach und deutlich vom Hören der Botschaft, vom Bleiben im Hören. Was lässt sich damit aber dem Dezisionismus-Verdacht, dem er den Protestantismus ausgesetzt sieht, entgegenhalten? Ist die dezisionistische Festlegung, wenn man sich auf das »Paradox« bezieht, nicht von einer vordergründigen willentlichen Bejahung weg- und nur um eine Ebene zurückverlegt: Ich bejahe dezisionistisch eine bestimmte Begründung meiner Bejahung – den Glauben/das Hören/das Evangelium? R. gibt die Ethik der Rationalität des Menschen frei, ohne jeden religiösen Bezug. Dann ist jedoch an die Ratio die Frage zu stellen: »Gegenseitigkeit« – wieso eigentlich? Nietzsche hatte eine andere Antwort als Luther! »Notwendigkeit« – woraus ergibt sie sich? »Verantwortlichkeit« – wem gegenüber? In der Tat, nach Luther darf das Evangelium keinesfalls zum Gesetz werden. Wie aber soll das Notwendige erkannt und verwirklicht werden ohne die Liebe? Die Absurdität des Handelns Gottes begründet nicht nur Freiheit, sondern auch – wenn man es so nennen will – absurde Liebe. Vielleicht plädiert der Protestantismus tatsächlich in seinen diakonischen Leistungen für das Notwendige, aber mit wenig Liebe – auch das könnte ein Problem des real existierenden Protestantismus sein.
Mit Recht legt R. den Finger auf eine andere Wunde des Protes­tantismus, der in seiner evangelikal-pietistischen Fassung zur Sekte zu werden droht. Im katholisch dominierten Italien mag man das deutlicher empfinden als in Deutschland. Wenn es nicht gelingt, reformatorische Theologie mit dem Strom der geistesgeschichtlichen Entwicklungen (den sie einmal wesentlich mitgeprägt und inspiriert hat!) in Kontakt zu halten, ist ein großes Erbe abendlän­dischen Denkens verspielt. Dass das nicht passiert, dazu hat R. einen wichtigen Ansatz artikuliert, an dem auch angesichts mancher offener Fragen die überstarke Betonung des »Paradoxes« und der Unterscheidung zwischen Glaube und »Praxis« tief beeindruckt.