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Ausgabe:

Mai/2011

Spalte:

563-566

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Morgenthaler, Christoph

Titel/Untertitel:

Seelsorge.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2009. 413 S. 8° = Lehrbuch Praktische Theologie, 3. Kart. EUR 22,95. ISBN 978-3-579-05404-9.

Rezensent:

Wilfried Engemann

Dass innerhalb etwa eines Jahrzehnts vier Lehrbücher zu demselben theologischen Fach erscheinen (außer dem hier zu besprechenden Werk: Klaus Winkler: Seelsorge, 22000; Jürgen Ziemer: Seelsorgelehre, 32008; Michael Klessmann: Seelsorge. Ein Lehrbuch, 2008), ist u. a. Ausdruck eines Konsolidierungsprozesses auf dem weitverzeigten Gebiet der Seelsorgelehre. Alles hat seine Zeit: Die leidenschaftliche Integration neuer Einsichten und Methoden aus verschiedensten humanwissenschaftlichen Disziplinen (vgl. dazu auch Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 1999, 42005), der theologische Streit um die Dignität und Leistung entsprechender »Ansätze der Seelsorge« bzw. der hinter ihnen stehenden Schulen, das Verharren in – im Rückblick – kaum mehr nachvollziehbaren Alternativen (z. B. »Heil oder Heilung«, »Therapie oder Verkündigung«), die Entwicklung neuer, theologisch begründeter poimenischer Perspektiven usw.
Diese »Zeiten« sind natürlich mit dem Erscheinen von Lehrbüchern in dichter Folge nicht einfach abgehakt: Werke wie die nun von Christoph Morgenthaler vorgelegte »Seelsorge« lösen – hoffentlich – auch neue Diskussionen aus, markieren offene Fragen und implizieren einen eigenen theologischen Standort; gleichwohl steht hier die distanzierte Sondierung der Argumentationsmuster einer Disziplin notwendigerweise im Vordergrund. Das Interessante an den genannten Titeln sind daher nicht zuerst die jeweils angebotenen Einzelinformationen. (In jedem der vier Bücher wird man zuverlässig informiert.) Interessant ist vor allem der jeweilige Zugriff auf das Fach, die implizit empfohlene Systematik der Seelsorgelehre und last not least das sich darin abzeichnende Verständnis von Seelsorge.
So findet man bei M. zunächst alles das, was ein Lehrbuch braucht: Der Teil I (13–98) bietet eine in der Sache komplexe, in der Ausführung präzise Annäherung an das Verständnis bzw. die Definitionen von Seelsorge, komprimierte Auskünfte zu ihrer Ge­schichte, ein Kurzportrait der Seelsorgebewegung, ein Plädoyer für die Entwicklung eines kohärenten Konzepts sowie eine Erkundung der Ressourcen der Seelsorge, von denen die Theologie nur eine ist. Teil II (»Themen und Zugänge«, 99–221) nimmt den Menschen als Einzelnen und in verschiedenen Lebensbezügen, -phasen und -relationen in den Blick: »Menschen in Beziehung«, »Menschen in Entwicklung«, »Menschen in Krisen«, »Menschen vor Gott«. Dass dies der umfangreichste Teil des Buches ist, zeigt u. a., in welch hohem Maße M. daran gelegen ist, die Orte, die Situationen, kurz, die Wirklichkeit in den Blick zu bekommen, angesichts derer Seelsorge nachgefragt wird.
Diejenigen Themen, die im Allgemeinen als »Ansätze« der Seelsorge verhandelt werden, finden sich vor allem im III. Teil des Buches (»Kompetenzen und Methoden«, 223–296) wieder, wobei M. nicht auf Vollständigkeit bedacht ist, sondern sich – nach einer Erörterung der biographisch-systemischen Hintergründe der Aneignung seelsorgelicher Kompetenzen – auf zentrale Reflexionsperspekiven beschränkt. Er verdeutlicht das Spektrum seelsorgelicher Arbeit mit Bezug auf Prinzipien des Gesprächs (239–253), die Integration der Bibel (255–267), Inszenierungen und Rituale (268–282) sowie die Gruppe (283–296), wobei insbesondere »themenzentriert-interaktionelle« Aspekte zur Geltung kommen. In diesem Teil des Buches wird die Quintessenz klassischer Positionen bzw. Vorstöße der neueren Geschichte der Seelsorgelehre knapp umrissen. An einigen Punkten wünschte man sich ein etwas ausgeprägteres Interesse an einer sowohl theologischen wie konzeptionellen Auseinandersetzung, die – um nur ein Beispiel zu nennen – über die ausgesprochen freundliche Beschreibung bestimmter Ge­wohnheiten und Interessenlagen im Umgang mit der Bibel hinausginge und nach den eher akzeptablen oder inakzeptablen Prämissen solchen Vorgehens fragte, die das »Üben des Gebrauchs biblischer Texte« (266 f.) jeweils implizieren mag.
Der durch seine Systematik besonders bestechende IV. und letzte Hauptteil des Buches (»Orte und Spezialisierungen«, 297–379) verortet Seelsorge in dem sehr weit gespannten Kontext von Kirche. Hier gewinnt klar Gestalt, was M. schon im ersten Satz seines Vorwortes als »Traum von einer seelsorglichen Kirche« kennzeichnet, »die Menschen ›in Freud und Leid‹ begleitet, trägt, ermächtigt und freisetzt …« (11): Dabei versucht M. zunächst, verschiedene »gesellschaftliche Trends«, die Frage nach heutigen Lebensräumen, die Funktionen von Gemeinde und Amt usw. als Koordinaten der Seelsorge zu reformulieren und in zehn grundlegenden Thesen zusam­menzufassen, die eine explizite Ekklesiologie der Seelsorge ergeben. In den ersten drei Thesen heißt es u. a.: »Eine seelsorgliche Kirche ist eine Kirche für die Menschen. Sie hat den Menschen, wie ihn Gott erträumt, als Maß. … Eine seelsorgliche Kirche versteht sich als ganze als seelsorglich. Sie delegiert Seelsorge nicht nur an Spezialisten. … Eine seelsorgliche Kirche wagt Zukunft in Loyalität zu ihren Ursprüngen. Zu ihren Traditionen gehört das Wissen, dass Seelsorge nicht an ein formelles Amt gebunden ist« (311 f.).
Nach diesem ekklesiologischen Auftakt nimmt M. all jene Aspekte in den Blick, unter denen Seelsorge in der Ortsgemeinde erfahren bzw. angeboten wird. Dabei spannt er den Bogen vom professionellen Kurzgespräch über den Hausbesuch bis hin zu Selbsthilfegruppen (315–328). Darüber hinaus kommen die wichtigsten Spezialisierungen und Institutionalisierungen der Seelsorge zur Sprache, insbesondere die Familien- und Lebensberatung sowie die Krankenhaus- und die Notfallseelsorge (329–348). Die Telefonseelsorge verhandelt M. (u. a. neben der »Seelsorge per Brief, Email und SMS«, »Seelsorge in Chatrooms« usw.) in einem eigenen Kapitel über mediengestützte Seelsorge (349–361).
Bedenkenswert in diesem Zusammenhang ist M.s doppelte These zur »virtuellen Dekonstruktion von ›Seelsorge‹« (359), wobei einerseits erklärt wird, dass »durch mediengestützte Seelsorge … Basisannahmen, auf denen Seelsorge während langer Zeit aufbaute, in Frage gestellt, ja dekonstruiert« werden; andererseits zeigt sich M. überzeugt, dass es nicht als Schaden abzutun ist, wenn »jahrhundertealte Traditionen … durch medienbasierte Seelsorge in Frage gestellt« werden: »Dadurch wird der Inhalt zwar auch tangiert, aber dennoch findet sich in den Veränderungen auch eine gewisse Kontinuität« (359 f.). Es wäre interessant zu erfahren, an welche Konstanten bzw. Kontinuitäten M. hierbei gedacht hat, worin die inhaltlichen Verluste bzw. Veränderungen bestehen, die er »tangiert« sieht – und wie dies schließlich zu beurteilen ist.
Das letzte thematische Kapitel »Seelsorge als Beruf« (362–379) geht schließlich auf die professionellen Aspekte der Seelsorge ein und läuft auf ein (leider sehr knapp geratenes) Plädoyer für »Qualität und Qualitätssicherung in der Seelsorge« hinaus. Hier hätte man sich z. B. einen etwas differenzierenden Rekurs auf das Verhältnis der professionellen zur »Laienseelsorge« vorstellen können, der M. im Rahmen der ihn leitenden Ekklesiologie einen hohen Stellenwert beimisst. Abgerundet wird das Buch durch knappe Hinweise zu wichtigen poimenischen Titeln der letzten 20 Jahre, ein Literaturverzeichnis und ein Namenregister. Angesichts der Konzeption als Lehrbuch wäre ein Sachregister m. E. ein »Muss« und sollte bei der 2. Auflage nicht fehlen, zumal das Buch keine Fußnoten bietet (sondern im Fließtext zitiert) und somit auch diese Art der raschen Spurensuche verwehrt bleibt.
M. ist ein großer Wurf gelungen, der das Ganze der Seelsorge im Blick hat und ohne jedes Pathos dem kirchlichen und gesellschaftlichen Horizont dieses Fachs Rechnung trägt. M. arbeitet wichtige Einsichten aus den dogmatischen, pastoralpsychologischen und humanwissenschaftlichen Perspektiven der Poimenik heraus und argumentiert mit ihnen unaufgeregt und selbstverständlich. Die Kämpfe und Auseinandersetzungen um die von M. aufgenommenen Themen und Fragen ahnt man dabei oft kaum noch. Das werden die Studierenden nicht unbedingt vermissen, noch weniger wird sie es stören. Aber vielleicht sollte man ihnen den exempla­rischen theologischen Streit gerade angesichts der elementaren, exis­tenzbezogenen Fragen der Seelsorge auch nicht ersparen. Denn auch darin leistet die Seelsorge der Kirche einen Dienst, dass sie ihr eine zeitgenössische Theologie zumutet bzw. anbietet und zugleich abverlangt. Andererseits ist das vielleicht nur sekundär die Aufgabe eines summarischen Lehrbuchs; dass sie von M. nicht stärker wahrgenommen wird, mag auch Ausdruck der eingangs angedeuteten Phase der Konsolidierung und Bilanzierung sein.