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Ausgabe:

Mai/2011

Spalte:

554-556

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Klinnert, Lars

Titel/Untertitel:

Der Streit um die europäische Bioethik-Konvention. Zur kirchlichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung um eine menschenwürdige Biomedizin.

Verlag:

Göttingen: Edition Ruprecht 2009. 651 S. gr.8° = Edition Ethik, 4. Geb. EUR 84,00. ISBN 978-3-7675-7098-6.

Rezensent:

Stephan Schleissing

Es ist ein Markenzeichen der seit dem Jahre 2008 von Reiner Anselm (Göttingen) und Ulrich H. J. Körtner (Wien) herausgegebenen Reihe »Edition Ethik«, dass sie Grundfragen theologischer Ethik vor dem Hintergrund ihrer kirchlichen und gesellschaftlichen Kontexte zu entfalten sucht. Dabei entstehen nicht selten materialreiche Bände, die die Vielfalt des gelebten Ethos im Protestantismus anschaulich machen. Die Herausgeber legen bei der Auswahl ihrer stets hochaktuellen Themen großes Gewicht sowohl auf eine fundierte Aufbereitung des Quellenmaterials als auch auf eine methodisch versierte, interdisziplinäre Ausrichtung theologischer Fragestellungen. Lars Klinnerts Dissertationsschrift erfüllt diese Kriterien in mustergültiger Weise. Sie sticht durch eine sorgfältige Sichtung der zahlreichen Positionen in der deutschen Debatte um die sog. »Bioethik-Konvention« hervor und findet für diese eine überzeugende Methodik theologischer Interpretation. Die Arbeit wurde von dem Sozialethiker Christofer Frey betreut und 2007 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bo­chum als Dissertation angenommen.
Das vom Europarat initiierte »Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin«, das im allgemeinen Sprachgebrauch kurz »Bioethik-Konvention« genannt wird, ist am 1. De­zember 1999 in Kraft getreten. Von den 47 Mitgliedsstaaten des Europarates haben bisher 22 Staaten das Übereinkommen – zum Teil unter Angabe von Vorbehalten – ratifiziert. Einige Länder wie z. B. Großbritannien und Österreich sind dem Abkommen nicht beigetreten. Auch die Bundesrepublik Deutschland hat sich nach Jahren intensiv geführter Diskussionen dazu entschieden, die »Bioethik-Konvention« nicht zu ratifizieren. Anlass dazu ist die anhaltende Kontroverse, ob die konkreten Bestimmungen der Bioethik-Konvention den von ihr selbst geforderten Schutz der Menschenwürde tatsächlich gewährleisten oder faktisch unterminieren. Umstritten sind vor allem die Regelungen zur fremdnützigen Forschung an einwilligungsunfähigen Personen (Art. 17), zur verbrauchenden Forschung an menschlichen Embryonen in vitro (Art. 18), zur prädiktiven Gendiagnostik (Art 12) sowie zu Eingriffen in die menschliche Keimbahn (Art. 13).
In seiner umfangreichen Dissertation will K. nun klären, »warum ein so weitreichendes Spektrum unterschiedlicher ethischer Bewertungen existiert und warum selbst die ausgeprägte Diskussion der vergangenen zehn Jahre kaum zu einer gegenseitigen Annäherung geführt hat« (18 f.). Dazu untersucht er zunächst die öffentliche Debatte seit 1994, wobei er ausführlich die Diskussionsbeiträge aus dem Raum der Kirchen, der Theologie, von Bürgerinitiativen und Wohlfahrtsverbänden, aber auch aus dem philosophischen und politischen Bereich sowie der Presse nach dem »Härtegrad« ihrer Ablehnung in sechs Gruppen sichtet. Dem schließt sich eine systematisierende Zusammenschau der kirchlichen und gesellschaftlichen Diskussion in Deutschland sowie eine Analyse der umstrittenen biomedizinischen Regelungsbereiche an. Das Panorama an Positionen, das K. auf diese Weise vorführt, macht schlagend deutlich, dass die Anerkennung des Menschenwürdearguments in den bioethischen Debatten selbstverständliche Grundlage jeder Argumentation ist. In der Frage, wie diese Fundamentalnorm in den konkreten Anwendungsbereichen auszulegen ist, scheiden sich allerdings die Geister.
Im Hauptteil des Buches diskutiert K., wie sich eine theologisch-ethische Urteilsbildung mit dieser Vielfalt an moralischen Positionen ins Verhältnis setzen kann. Charakteristisch für seinen methodischen Ansatz ist dabei der unhintergehbare Ausgang von einem Pluralismus der Werthaltungen, wie er angesichts der nicht nur nationalen, sondern eben auch europäischen Differenzen im Umgang mit Fragen der Bioethik evident ist. Angesichts dieses Pluralismus stellt sich für ihn die Frage, wie der Universalismus des christlichen Liebesgedankens davor bewahrt werden kann, zu einer bloß kirchlichen Sondermoral herabzusinken. Es sind vor allem drei Argumente, die K. hier ins Feld führt.
1. Zum einen ist es der universale Wirklichkeitsanspruch des christlichen Glaubens selbst, dessen ihm eigene Tendenz auf dem Gebiet der Sozialethik dazu führt, eine »transpartikulare Konvergenz« (326) anzustreben, wie Peter Dabrock das Konzept eines »overlapping consensus« von John Rawls prozessorientiert reformuliert. Darum ist es für eine theologische Ethik geboten, Fragen der Kompromissbildung im politischen und rechtlichen Raum nicht einfach als Relativierung oder gar bloß pragmatische Anpassung des Menschenwürdekonzepts zu desavouieren. Einem derartigen Verständnis, wie es die radikalen Gegner der Bioethik-Konvention vertreten, liegt vielmehr eine methodische Konfusion zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen einer individual- und einer sozialethischen Argumentation zugrunde. Wo diese unterschiedlichen Anwendungsreichweiten bioethischer Urteilsbildung nicht beachtet werden – das macht K.s Stufenmodell (327 ff.) überzeugend deutlich –, mutieren Fragen individueller Gewissensentscheidungen zu bloßen Postulaten, die mit den Standards des öffentlichen Vernunftgebrauchs und dem Sterben nach einem rechtlich bindenden Konsens nicht mehr vereinbar sind.
2. Dass ein derartiges ethisches Mehr-Ebenen-Modell sehr wohl mit einer normativen Kriteriologie des Menschenwürdebegriffs auch aus einer theologischen Perspektive vereinbar ist, macht K. anhand seines »transempirisch-leibphänomenologischen Personkonzepts« (392 ff.) plausibel, das den Anspruch erhebt, elemen- tare Verwirklichungsbedingungen interpersonaler Anerkennung (Schutz des Lebens, Integrität des Körpers, Achtung der Autonomie und Wahrung der lebensgeschichtlichen Integrität) so zu entfalten, dass es die Allgemeingültigkeit des Menschenwürdearguments zu fördern in der Lage ist.
3. Weil es K. aber vor allem darum geht, einer »dualistischen Weltsicht« in der Ethik zu wehren (534), argumentiert er gegen die Entgegensetzung einer »Ethik der Würde« gegen eine »Ethik der Interessen«, die die Frage der Realisierungsbedingungen von Menschenwürde einseitig aus ihren normativen Voraussetzungen und unter Absehung der Vielfalt menschlicher Lebensvollzüge behauptet (536).
Das so gewonnene Konzept von Menschenwürde als einem »politisch-rechtliche[n] Gestaltungstopos« (536) findet seine Konkretion in K.s abschließender Beurteilung der umstrittenen biomedizinischen Regelungsbereiche der Bioethik-Konvention. Auch wenn einzelne Bestimmungen wie z. B. die Regelungen über die fremdnützige Forschung an einwilligungsunfähigen Personen diskutabel und auch von einem ethischen Standpunkt kritisierbar sind, kommt K. doch zu dem Schluss, dass die Bioethik-Konvention mehr zu bieten hat als einen bloßen Minimalkonsens. Denn sie lässt »Spielräume sowohl für kulturelle Gewichtungen (im Rahmen der nationalen Implementierung ihrer Regelungen) als auch für die wachsende Ausformung einer gemeinsamen europäischen Rechtskultur (im Rahmen von Zusatzprotokollen)« (508). Dass sie aufgrund dieser Funktion einen echten Fortschritt für die Beförderung eines europäischen Rechtsbewusstseins darstellt, macht K. schließlich in einer rechtsethischen Würdigung des Dokuments deutlich. Und der Rezensent dieser überaus differenzierten und klar strukturierten Dissertation kann K. am Ende nur zustimmen, wenn er fordert: »Diesen Prozess sollte Deutschland durch seine Unterzeichnung unterstützen.« (549)