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Ausgabe:

Mai/2011

Spalte:

552-554

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Klein, Rebekka A.

Titel/Untertitel:

Sozialität als Conditio Humana. Eine interdisziplinäre Untersuchung zur Sozialanthropologie in der experimentellen Ökonomik, Sozialphilosophie und Theologie.

Verlag:

Göttingen: Edition Ruprecht 2010. 325 S. gr.8° = Edition Ethik, 6. Geb. EUR 48,90. ISBN 978-3-7675-7137-2.

Rezensent:

Ewald Stübinger

Die an der Universität Heidelberg als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätige Autorin legt mit ihrer Dissertation (Zürich) eine umfangreiche systematisch-theologische Untersuchung zum Thema Sozialität und Humanität vor. Das Besondere der Publikation von K. besteht zum einen in einer interdisziplinären und multiperspektivischen Zugangsweise; zum anderen zeichnet sie sich in methodischer Hinsicht dadurch aus, dass sie keinen normativ-theoretischen, sondern einen phänomenal-hermeneutischen An­satz vertritt. Grundthese des Werkes ist, dass nur eine anthropo­logische Beschreibung Sozialität adäquat erfassen kann, die die grundlegende Ambivalenz menschlicher Sozialität (z. B. Altruis­mus/Egoismus) nicht auflöst. Damit grenzt sich K. von anderen, insbesondere systemtheoretischen und sozialethisch-strukturellen Ansätzen ab. Die theologische Perspektive begründet die Un­hintergehbarkeit dieser Ambivalenz, welche durch den Gottesbezug zugleich eschatologisch transzendiert wird (vgl. 291 ff.14 ff.). Hu­manität muss zugleich ihr Gegenteil – die Inhumanität – phänomenal-hermeneutisch reflektieren.
In einem ideengeschichtlich ausgerichteten Kapitel (Kapitel 1, 35–94) geht K. zunächst der Frage nach, mittels welcher Paradigmen Anthropologie und Sozialität in einzelnen Disziplinen thematisiert werden. Insbesondere anhand von Plessner zeigt K., dass es in den Phänomenen des Menschseins und deren jeweils unterschiedlichen theoretischen Erfassung einen »phänomenalen Überschuss« (94) gibt, der weder theoretisch noch handlungspragmatisch fixiert werden kann. Ihren eigenen systematischen Lösungsweg baut K. in drei Schritten auf. Zunächst setzt sie sich aus­führlich mit neueren Ergebnissen der experimentellen Ökonomik (Kapitel 2, 95–181) auseinander. Deren positiven Beitrag er­kennt K. zum einen in der Abweisung einer essentialistischen Bestimmung der Wesensnatur des Menschen zugunsten einer phänomenal-empirischen Erfassung sowie in der Zentralstellung der Mensch-Mensch-Un­ter­scheidung anstelle der in der traditionellen Anthropologie üblichen Mensch-Tier-Differenz sowie zum anderen in der Kritik am Homo oeconomicus, indem nachgewiesen wird, dass der Mensch kein vollständig rationales und ausschließlich am Eigennutz orientiertes Entscheidungsverhalten zeigt. Allerdings führt nach Ansicht K.s die Orientierung der experimentellen Ökonomik an den Neurowissenschaften zu einem Reduktionismus, indem nur materielle Anreizstrukturen (z. B. politische, moralische, religiöse Motivationen) gelten gelassen werden und außerdem durch die künstliche Laborsituation der Anspruch der interagierenden Menschen auf wechselseitige Anerkennung der Unverfügbarkeit des einen für den anderen unberücksichtigt bleibt. Die experimentelle Ökonomik bleibt folglich »ein Erklärungsansatz mit beschränkter Plausibilität«, da »das auf den ersten Blick ›selbstlose‹ Geben stets interpretationsoffen« (181) (hinsichtlich der Motive) ist.
In einem weiteren Abschnitt wendet sich K. der Sozialphilosophie zu (Kapitel 3, 182–236). Für diese steht nicht das einzelne Individuum und sein Verhalten, sondern die zwischenmenschliche Beziehung im Vordergrund. Kenntnisreich werden verschiedene sozialphilosophische Positionen analysiert, die entweder von un­auflösbaren Antagonismen (Hobbes, Laclau, Mouffe, Levinas) oder von der Möglichkeit der Befriedung bzw. Versöhnung von Differenzen qua Anerkennung (Honneth, Taylor, Düttmann, Ricœur) im zwischenmenschlichen Verhältnis ausgehen. Vor allem anhand von Levinas’ Theorie, dass es im Sozialverhältnis eine unvertret­bare Verantwortung des einen für den anderen gibt, die auch durch die gesellschaftlichen Ordnungen von Politik, Recht und Moral nicht substituierbar ist, gelangt K. zu der These, dass die Ambivalenz zwischen Humanität und Inhumanität weder durch die Menschen selbst noch durch gesellschaftliche Institutionen dauerhaft auflösbar ist. Während der Philosophie hier – will sie die Ambivalenz weder in eine optimistische noch in eine pessimistische An­thropologie auflösen – letztlich nur der Appell bleibt, nämlich »zur Wahrung und Einhaltung der Differenz« (236), ist die theologische Sozialanthropologie in der Lage, diese Ambivalenz so zu beschreiben, dass die Gefahr einer Indifferenz zwischen Humanität und Inhumanität vermieden wird. In Anlehnung an Ricœur hebt K. symbolische Anerkennungsformen der Religion hervor, insbesondere die Agape, durch die ein asymmetrisches, nicht-reziprokes Beziehungsverhältnis zwischen Selbst und Anderem konstituiert wird, das auf Geben ohne (die Erwartung von) Nehmen zielt (214 ff.). Interessant erscheint dabei die Frage – worauf K. jedoch nicht weiter eingeht –, ob nicht die Philosophie Kants, insbesondere seine Ethik, Anthropologie und Religionsphilosophie, zur beschrie­-benen Ambivalenz wertvolle Impulse beisteuern könnte, ohne einen konstitutiven Gebrauch von theologischen Loci zu machen.
Im letzten Teil (Kapitel 4, 237–290) wird mittels der theologischen Perspektive ein Lösungsweg generiert. Dabei wird vor allem auf Kierkegaard sowie inhaltlich auf die christliche Nächs­tenliebe Bezug genommen. Das Spezifikum der theologischen Beschreibung ist, dass sie die Immanenz des Sozialen anthropologisch aufbricht, indem die – von Gott gewirkte – Selbstunterscheidung der alten und neuen Existenz des Menschen »zum hermeneutischen Schlüssel für die theologische Beschreibung des Menschen« (238) wird. Auf diese Weise wird das Spannungsverhältnis nicht aufgelöst, da die neue Existenz unter irdischen Bedingungen die alte niemals vollständig substituieren kann. Zugleich erfolgt durch die theologische Perspektive eine Revision der nicht-theologischen Ansätze. K. akzentuiert die christliche Perspektive dahingehend, dass sie diese sowohl von anderen religiösen ( besondere Nähe Gottes im Christentum) als auch von nicht-religiösen Perspektiven (Ausgang bei der Menschlichkeit Gottes in Jesus Christus statt der Selbsterfahrung des Menschen) abgrenzt. Die christliche Anthropologie bringt mittels der neuen Erfahrung des Menschseins einen »Erfahrungsüberschuss« (241) ein, indem sie den Menschen zentral als Nächsten Gottes thematisiert. Der theologische Zugang blendet zwar die Immanenz des Sozialen nicht aus, er transzendiert und überbietet sie jedoch. Auf diese Weise entgeht die Theologie der Gefahr, sich gegenüber lebensweltlichen Phänomenen und deren theoretischen Erfassung lediglich redundant zu verhalten. Vielmehr erhebt sie den Anspruch, die Phänomene der Sozialität sowie der Humanität und Inhumanität adäquater zu beschreiben als andere Zugangsweisen. Anhand einer eingehenden Analyse Kierkegaards macht K. deutlich, dass die soziale Humanität des Menschen nur dann zugunsten der Barmherzigkeit – und nicht der Unbarmherzigkeit – ausgerichtet werden kann, wenn sie sich aus der es­-chatologischen Erwartung des neuen Menschen heraus versteht, und das heißt konkret: den Nächsten primär als Nächsten Gottes (und nicht: als Nächsten zum Mitmenschen) und das barmherzige Verhalten als Wirkung des gegenwärtigen Gottes (und nicht: als eigenes Tun) versteht. So verstandene christliche Nächstenliebe sprengt alle üblichen Grenzziehungen, sie reicht bis hin zur Feindesliebe, und somit auch dahin, wo »der soziale oder politische Status eines Mitmenschen den Umgang mit ihm nicht vorsieht oder ihn sogar untersagt. Eine größere sozialintegrative Kraft zur Mobilisierung zwischenmenschlicher Beziehungen und eine größere Horizonterweiterung gesellschaftlicher Solidarität lassen sich wohl kaum vorstellen.« (289 f.)
K. will somit verdeutlichen, dass die christliche Nächstenliebe nicht nur auf den individualethischen Bereich beschränkt ist, sondern zugleich auch sozialethische Bezüge umfasst. Welche Implikationen sich aus dieser »personalethischen« (A. Rich) Zugangsweise für den »sozialethischen« Bereich (im engeren Sinne) ergeben, ist eine interessante Frage, zu der sich K. nicht detaillierter äußert. Wird die christlich-theologische Perspektive als Revision und Überbietung immanenter Heuristiken begriffen, wie K. dies tut, dann dürfte dies auf Schwierigkeiten hinsichtlich der Resonanz und Rezeption vonseiten der meisten nicht-theologischen Wissenschaften stoßen. Dem wäre möglicherweise dadurch zu begegnen, dass man die spezifisch theologischen Aspekte primär auf der Begründungsebene fokussiert und sie für die Konkretisierungsebene in eine »säkulare Sprache« (J. Habermas) übersetzt (vgl. auch A. Rich). Dies muss nicht notwendigerweise zu Redundanzen führen, wovor K. mit Recht warnt, da die christliche Perspektive auch inhaltlich einige Spezifika (wenn auch nicht in einem streng exklusiven Sinne) aufweist. Schließlich wirft ein phänomenaler Ansatz die (selbstkritische) Frage auf, warum historisch betrachtet gerade religiöse – bes. auch eschatologische – Überzeugungen nicht selten zu Inhumanität und Unbarmherzigkeit geführt haben. Insgesamt bietet das Buch jedoch einen interessanten und neuartigen interdisziplinären Zugang zum Phänomen der Sozialität und Humanität auf anthropologischer Grundlage. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Positionen und Autoren aus verschiedenen Disziplinen bietet außerdem reichliches Anschauungs- und Vertiefungsmaterial für eigene Interessen sowie genügend Anregungen zum Weiterdenken. Hierzu tragen auch das ausführliche Literaturverzeichnis sowie das Sachregister bei.