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Ausgabe:

Mai/2011

Spalte:

536-538

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Wendebourg, Dorothea

Titel/Untertitel:

Essen zum Gedächtnis. Der Gedächtnisbefehl in den Abendmahlstheologien der Reformation.

Verlag:

Tü­bingen: Mohr Siebeck 2009. VIII, 268 S. gr.8° = Beiträge zur historischen Theologie, 148. Lw. 79,00. ISBN 978-3-16-149970-8.

Rezensent:

Christopher Spehr

Das Ringen um eine stiftungsgemäße Abendmahlslehre gehört seit den abendmahlstheologischen Streitigkeiten der Reformation zu den grundlegenden Herausforderungen theologischer Reflexion und konfessioneller Identität. Sowohl in ökumenischer Perspektive als auch in liturgisch-gemeindepraktischer Realisierung nötigt das Abendmahl immer wieder zur Interpretation dessen, was in der durch Jesus Christus eingesetzten Feier geschieht. Aufgrund der Kompaktheit der neutestamentlichen Einsetzungsberichte bleibt eine gewisse Deutungsvielfalt bestehen, die in der Reformation in tragischer Weise kirchentrennend wurde. Es ist daher Aufgabe verantworteter Theologie, den abendmahlstheologischen Interpretationsmotiven kritisch nachzugehen und sie für die kirchlich-theologischen Diskurse des 21. Jh.s fruchtbar zu machen.
Einen gewichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen Durchdringung reformatorischer Abendmahlstheologie leistet die renommierte Berliner Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg mit ihrer theologiegeschichtlichen Studie »Essen zum Gedächtnis«. In ihr konzentriert sich W. auf das in den Abendmahlsbefehlen (1Kor 11,24 f.; Lk 22,19) wurzelnde Motiv des Gedächtnisses, das sie in den Abendmahlstheologien ausgewählter, am Abendmahlsstreit der 1520er Jahre beteiligter Reformatoren untersucht.
Das Werk beginnt mit der abendmahlstheologischen Bedeutungsvielfalt des Gedächtnismotivs im Spätmittelalter (4–22). Neben der die Leidensgeschichte Christi vergegenwärtigenden Passionsmeditation, durch welche das Gedächtnis des Kreuzestodes (memoria passionis) im Innern des Christen präsent wird, tritt als äußerer Realisierungsort des Gedächtnisses (memoriale passionis) die Messe mit ihrer Vorstellung von der leiblichen Präsenz des gekreuzigten Christus. Vereinzelt findet sich daneben eine Anbindung des Gedächtnisgedankens an die – in der spätmittelalterlichen Abendmahlspraxis zweitrangigen – Kommunion (memoria in gustu), durch die Christus dem Essenden angeeignet wird. Erasmus von Rotterdam, dem das zweite Kapitel gewidmet ist (23–39), entwickelt nicht die an die Realpräsenz des Leibes Christi gebundene Lehre vom Messopfer weiter, sondern unterstreicht durch die commemoratio die vergegenwärtigende Betrachtung des Passionsweges im Blick auf die Nachfolge Christi. In Reaktion auf die Reformation hebt Erasmus in späteren Jahren die Realpräsenz zu Lasten des zuvor zentralen Gedächtnismotives hervor.
Den orientierenden Ausführungen folgt in erhellender, bisweilen minutiöser Textinterpretation die entwicklungsgeschichtliche Untersuchung des Gedächtnismotivs beim frühen Luther, bei Andreas Bodenstein von Karlstadt, Huldrych Zwingli, Johannes Oekolampad sowie beim älteren Luther und Philipp Melanchthon. Mit Ausnahme von Karlstadt und Melanchthon wählt W. den Abendmahlsstreit als Gliederungsmerkmal der einzelnen Kapitel. Der historische Verlauf und die theologischen Differenzen des innerevangelischen Streites werden als bekannt vorausgesetzt.
Quantitativ und aufgrund seines zweifachen Vorkommens (40–60.139–202) bildet Martin Luther den Schwerpunkt der Studie. Luther, der Mitte der 1510er Jahre das Gedächtnis im Sinne der Passionsmeditation versteht, verortet anders als im Spätmittelalter und bei Erasmus den Memoriale-Charakter bereits früh in der Evangeliumsverkündigung. Mit der für seine Sakramententheologie zentralen, 1520 abgeschlossenen Umwertung der Verkündigung von der geistlichen Betrachtung zur göttlichen Anrede, der promissio, und dem gläubigen Annehmen dieser Zusage unter Brot und Wein im dargereichten Leib und Blut Christi tritt das Gedächtnismotiv bei Luther zurück. Wo es dennoch verwendet wird, interpretiert Luther es im Sinne der äußeren Heilsmitteilung und des gläubigen Empfangs.
In Aufnahme von und Abgrenzung zum jungen Luther stellt W. differenziert drei Positionen schweizerisch-oberdeutschen Typs vor. Karlstadt (61–69), der das Gedächtnis Christi als rein innerlichen Vorgang versteht, wendet sich mit der Rede vom Gedächtnis gegen die Realpräsenz und beeinflusst hiermit die schweizerisch-oberdeutsche Lehrentwicklung. Zwingli (70–100) führt das Gedächtnismotiv anfangs als Argument im Kampf gegen das Messopfer an, um es dann im Abendmahlsstreit als Distanz zum einstigen Kreuzesgeschehen hervorhebendes »Instrument gegen die Realpräsenz« (248) zu verwenden. Das Gedächtnis hat bei Zwingli Lob- und Dankcha­rakter (93), so dass das Abendmahl insgesamt zur ge­meindlichen Erinnerungsfeier und Dankhandlung der Glaubenden wird. Oekolampad (101–138), der die commemoratio mortis Christi anfangs als reinen Dank versteht und im Abendmahlsstreit das Gedächtnismotiv als Argument gegen die Realpräsenz anführt, hält aufgrund des von den Kirchenvätern her interpretierten Gedächtnisbefehls neben der Dankhandlung der Gemeinde – anders als Zwingli – an der geistlichen Speisung (manducatio spiritualis) fest.
Nach diesen Ausführungen wird der Fokus wieder auf Luther gelenkt, der im Verlauf des Abendmahlsstreites die Realpräsenz neu gewichtet und die commemoratio nun als leibliche Selbstmitteilung und Selbstvergegenwärtigung Christi interpretiert. In Ablehnung Karlstadts abendmahlstheologischer Inanspruchnahme des Gedächtnismotivs – so W.s Analyse – bleiben Luthers Darlegungen zum Gedächtnisbefehl höchst selten. Umso mehr erstaunt daher die 1530 auf der Veste Coburg verfasste Schrift Vermahnung zum Sakrament des Leibes und Blutes Christi (WA 30,2; 595–626), in der Luther das Gedächtnismotiv explizit in den Mittelpunkt der abendmahlstheologischen Aussagen rückt. In dieser von W. als »singuläre Konzeption« (251) charakterisierten und ausführlich dis­kutierten (158–186) Argumentation bestimmte Luther das We­sen des Abendmahls nicht als »herabsteigendes« Mitteilungsgeschehen, sondern als »aufsteigende« Dankhandlung der Gemeindeglieder. Warum Luther eine derartige, seinem üblichen abendmahlstheologischen Standpunkt widersprechende Position ver­tritt, die ihn in die Nähe der altgläubigen Messopfervorstellung auf der einen wie der schweizerischen Dankhandlung auf der anderen Seite bringt, stellt jegliches systematisch stringente Lutherbild in Frage. M. E. werden an dieser gemeindezentrierten Indienstnahme des Gedächtnismotivs beispielhaft die überraschend facettenreichen Spielarten des Wittenberger Problemdenkers anschaulich. In seiner an die Pfarrer als Predigthilfe gerichteten Vermahnung interpretiert Luther nämlich den Gedächtnisbefehl als Aufforderung an die von Abendmahlsmüdigkeit befallenen Gemeindeglieder und pointiert ihn rechtfertigungstheologisch auf der Linie der Erfüllung des 1. Gebotes als Ehre, Dank und wahren Gottesdienst.
Abschließend werden Melanchthons allgemeine Sakramentenlehre und seine Abendmahlstheologie auf das Gedächtnismotiv hin untersucht (203–243). Zeitlebens hielt Melanchthon an Luthers um promissio, fides und bestätigendes signum kreisender Abendmahlsposition der frühen 1520er Jahre fest (251) und betonte z. B. das Gedächtnis als vergewisserten Glauben an die Zusage Christi. Hinzu trat der ekklesiale Gedächtnisaspekt, so dass Melanchthon das Abendmahl unter Wahrung des Empfangscharakters als kirchlichen und damit öffentlichen Gedächtnisvollzug (memoria publica) kennzeichnen konnte.
Es dürfte spannend sein, W.s gedächtnistheologische Beobachtungen, die in einer »Zusammenfassung in Thesenform« (244–253) am Ende noch einmal aufscheinen, weiter zu verfolgen und ins Gespräch mit den hier leider nicht einbezogenen Reformatoren wie Martin Bucer, Johannes Brenz oder Johannes Calvin zu bringen. Für die kirchlich-theologischen Abendmahlsdiskurse des 21. Jh.s ist die lehrreiche Abendmahlsstudie ein echter Gewinn.