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Ausgabe:

Mai/2011

Spalte:

530-533

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Marquard, Reiner

Titel/Untertitel:

Mathias Grünewald und die Reformation.

Verlag:

Berlin: Frank & Timme 2009. 281 S. m. Abb. 8° = Theologie/Religionswissenschaft, 8. Kart. EUR 24,80. ISBN 978-3-86596-250-8.

Rezensent:

Christoph Weimer

In seiner Promotionsarbeit aus dem Jahre 1995 beschäftigte sich Reiner Marquard mit dem Isenheimer Altar von Mathias Grünewald und dessen Rezeption durch Karl Barth. Im Fortgang erschienen bislang elf wissenschaftliche Publikationen unterschiedlicher Breite und Art zum Thema Grünewald. Dem Rektor der evangelischen Hochschule in Freiburg und Pfarrer der Evangelischen Landeskirche in Baden gelingt es in diesen Veröffentlichungen, sich als profunder Kenner dieses Malers zu profilieren. Er löst dabei die Rätsel nicht, die diesen Künstler umgeben (97). Sehr wohl aber trägt er dazu bei, das Geheimnis, das sich um Grünewald legt, zu erschließen (17). In dieser Absicht ist 2009 im Franke & Timme Verlag ein weiteres Werk zum Thema erschienen. Es ist die logische Fortsetzung einer Veröffentlichung in der ZOG aus dem Jahre 1998. Schon in dieser Arbeit geht M. der Frage nach, in welchem Verhältnis Grünewald zur Reformation steht. Folgerichtig lautet denn auch der Titel des jüngsten Werkes: Mathias Grünewald und die Reformation. Auf 280 Seiten untersucht M. dieses Verhältnis. Das stellt eine besondere Herausforderung insofern dar, weil die ausschließlich religiösen Bildwerke (20) des Künstlers diesen zwar be­rühmt, aber kaum vertraut gemacht haben (17). Die Person selbst bleibt weitgehend im Dunkeln. Umso reizvoller die Aufgabe, die sich M. gestellt hat, und ertragreich der Gewinn, den der Leser da­vonträgt.
Die Studie weist zwei Teile auf. Im ersten, ausführlichen Teil skizziert M. die Biographie des Künstlers (17 ff.), ordnet diese ein in den reformatorischen Umbruch (87 ff.), weist dann die Versuchungstafel des Isenheimer Altars als Schlüsselbild des gesamten Altars aus (96 ff.) und setzt schließlich Grünewald ins Verhältnis zu Martin Luther und Philipp Melanchthon (157 ff.). Im zweiten, notwendig hinzugehörenden Teil gibt M. das Nachlassverzeichnis Grünewalds von 1528 wieder (203 ff.), den Bericht von Joachim von Sandrart von 1675 bzw. 1679 (220 ff.) und den von Franz Christian Lerse aus dem Jahre 1781 (230 ff.). Ein ausführliches Literaturverzeichnis rundet die Arbeit ab. Auf den Seiten 9 bis 17 bringt die Studie Reproduktionen von Bildwerken Grünewalds, auf die im Laufe der Abhandlung immer wieder hingewiesen werden. Dies macht das Werk besonders benutzerfreundlich – auch für den interessierten Grünewaldfreund, der die Bildwerke nicht vor Augen hat. Das gilt ebenso für die Zeichnungen in der Mitte des Buches (116 f. 128 f.). Diese führen die Konzeption des Isenheimer Altares mit seinen Wandlungsmöglichkeiten auf.
Gleich zu Beginn der biographischen Skizze notiert M., dass in den Grünewaldschen Werken nicht nur der Lohn- und Gerichtsgedanke ikonographisch im Mittelpunkt steht, sondern auch der Versöhnungsgedanke (20). Es gibt in der Kunst Grünewald-Indikatoren für einen religiösen und kirchlichen Aufbruch. Gleichwohl kann der Maler seine Kunst nicht völlig in den Dienst der Reformation stellen (21) – wie das M. bei Lukas Cranach vermutet. Die Anfänge Grünewalds bleiben im Dunkeln. In der Mitte oder gegen Ende des 15. Jh.s wird er in Würzburg geboren (22.28), Ende August 1528 stirbt er (»überschattet von der Tragik der Einsamkeit«; 68) in Halle (21). Bei der Umrisszeichnung der Biographie zeigt M. seine tiefgreifende Kenntnis vorausgegangener Ergebnisse, die Vita des Künstlers zu erfassen. Ausführlich und kritisch rezipiert er den Stand der Forschung und ordnet seine Arbeit so ein in den Strom des »Grünewald-Geheimnisses«. Die Herkunft des Namens, das Signet, Aufenthaltsorte und Arbeitsplätze, Bekanntschaft und Ko­operation mit Dürer (30 ff.), mit Guido Guers, dem Auftraggeber des Isenheimer Altars (37.39), mit Hans Plock (64 ff.) und seine familiäre Situation (43 ff.) werden von M. detailreich aufgeführt. Es ist nur zu verständlich, dass bei der spröden Quellenlage manches bei Andeutungen und Vermutungen stehen bleiben muss (»Mehr zu vermuten wäre aufdringlich.«, 49). Dessen ungeachtet ist es das Verdienst M.s, das Profil des Künstlers deutlich zu konturieren – wenngleich die eine oder andere Entdeckung, im Text notiert, in den Anmerkungen besser aufgehoben gewesen wäre. Pointiert positioniert sich M. insofern, als er Grünewalds Zeit in Frankfurt als Schlüsselstelle für das Leben des Künstlers identifiziert (82 ff.). »In keiner anderen Stadt wie in Frankfurt bekommen wir einen nachhaltigeren Eindruck von der Größe und Tragik dieses Künstlers.« (84) In dem Abendmahlsbild von 1505/10 erkennt M., dass Grünewald in diesem frühen Bild sein Thema ankündigt (93): »Judas, der Mensch, erfährt sich verworfen. … Die Verwerfung stellt Grünewald nicht unter das Gesetz, sondern unter das Evangelium. … Der Himmel ist da, wo die Erde ist.« (93 f.) Diese Einschätzung ist die Schwelle zur nachfolgenden Interpretation des Isenheimer Altars. Diese (und eine weitere) Kreuzigungsdarstellung zeigen den im Leiden verborgenen Gott, den deus ab­sconditus. Grünewald malt die Krankheit aus der Barmherzigkeitsperspektive und be­stimmt die Diakonie ikonographisch neu (95).
So sehr vom Isenheimer Altar auch die Kreuzigungsszene vor dem geistigen Auge des Wissenden gegenwärtig ist, so ist doch der Altar mehr als nur eine Galerie seiner elf Einzelbilder. Der Altar ist Gesamtkunstwerk und folgt einer Konzeption (96). M. geht es darum, »etwas in seiner [Grünewalds] Kunst zu entdecken, was damals wie heute Potentiale barg und birgt« (97). Auch wenn diese Bestimmung zunächst etwas vage erscheint, so zeigt der Fortgang der Studie doch deutlich das Anliegen M.s und belohnt den geneigten Leser mit der Erkenntnis, dass die bisherigen Ausführungen keine Umwege, sondern Hinführungen waren (97). Akkurat gibt M. die interessante und verschlungene Geschichte des Altars bis zur Gegenwart wieder – eine Geschichte, die sich auch immer als ein Spiegel der Zeitgeschichte offenbart (97 ff.). Eindrücklich stellt M. seine Intensität der Beschäftigung mit Grünewald vor Augen in den Ausführungen zum Ignis sacer, der Mutterkornkrankheit (105 ff.143 ff.). Auch der medizinisch nicht sattelfeste Leser wird hier vertraut gemacht mit den Hintergründen der »Versuchung des Antonius«-Tafel. Diese bestärken M. in der Vermutung, dass der Versuchungstafel eine Schlüsselfunktion zukommt (126): Zum einen entdecken sich die Kranken, die bei den Antonitern aufgenommen werden, in der kauernden Gestalt auf der Versuchungstafel, zum anderen korrespondiert bei der Wandlung des Altars das Heilshandeln Gottes in Christus mit dem christlichen Zeugnis, dies aber immer so, dass Bezüge im Bildprogramm hergestellt sind (127). Somit eröffnet dieses Werk Grünewalds den Blick des leidenden Menschen auf den in Christus leidenden Gott und damit auf den barmherzigen Gott. Das Leiden wird nicht mehr dämonisiert, sondern mit dem leidenden Gott in Verbindung gebracht. Bestätigt sieht sich M. durch die reformatorische Ansicht, dass das »Leben nicht ohne den Gedanken des Fragmentes zu denken« sei – ein Gedanke, den M. überraschenderweise mit Bonhoeffer belegt (158). Bestätigt sieht er sich aber auch darin, dass sich in Grünewalds Nachlass 27 Predigten Luthers befinden, darunter die Invokavitpredigten, das Septembertestament und weitere Schriften Luthers wie die »12 Artikel der Bauernschaft in Schwaben« (55 ff.).
Gerade den Einstieg Luthers in seine erste Invokavitpredigt, nämlich »Wir sind alle zum Tode gefordert …«, sieht M. als Bestätigung seiner ikonographisch gewonnenen Sichtweise. Unter den »weiteren Schriften Luthers« erkennt er mit anderen (171) Luthers »Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi« von 1519. Auch wenn nicht abschließend geklärt werden kann, ob Grünewald diesen Sermon wirklich zur Hand hatte (172; M. spricht von einer wesentlichen Quelle; 172, mit Anm. 51), lehnen sich seine Kreuzesbilder inhaltlich daran an, insofern sie im Gekreuzigten radikal den Versöhnungsgedanken vergegenwärtigen (173). Er tut dies unter besonderer Berücksichtigung des persönlichen Er­schreckens. Der Zuschauer soll sich als Betroffener erkennen (… du seist es, der Christum also martert …) und zugleich erfahren, dass Christus auch für ihn gebetet hat (181 f.).
Der zweite, kürzere Teil der Studie bringt abermals das Nach­- lass­inventar von Grünewald von 1528 (203 ff.) – im Unterschied zur ersten Notierung (73 ff.) mit textkritischem Apparat. Vereinzelt entscheidet sich M. hier für eine neue Lesart (Nr. 177). Ergänzend sind diesem Teil Sandrarts kunsthistorische Betrachtungen von 1675 und 1679 (220 ff.) hinzugefügt. Die digitale Adresse beider ist für den interessierten Leser gleich beigegeben. Abgerundet wird die Arbeit durch die Wiedergabe des Berichtes von Franz Christian Lerse (230 ff.). Dieser Studienfreund Goethes (wie man nebenbei er­fährt) hält 1781 einen Vortrag über den Isenheimer Altar. Diesem kommt deshalb besondere Bedeutung zu, weil er »die einzig erhaltene Beschreibung ist, die unmittelbar vor den Eingriffen der Franzö­sischen Revolution in Kultus und Kultur entstanden ist« (230).
Es gelingt M. in seinen umsichtigen Ausführungen, Grünewald als einen Künstler darzustellen, der es zuließ, dass die Reformation seine Welt ins Wanken brachte (82). Grünewald blieb seiner Kirche und seinen katholischen Auftraggebern treu. Zugleich hegte er jedoch Sympathie für die Reformbewegung, ohne aber ihr potentieller Anhänger zu werden.
Die frühe Schrift Luthers von 1519 hält M. für aussagekräftig in Blick auf das ikonographische Bildprogramm Grünewalds. Auch wenn die Studie einige Wiederholungen aufweist, stellt M. eindrücklich klar, wie Grünewald sein christologisches Programm auch unter katholischer Bildtradition entfalten kann. Er sensibilisiert den Leser für einen Menschen in einer Umbruchsituation; für einen Menschen, der auch heute die Sicht auf das Verbindende der Konfessionen eröffnen kann.