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Ausgabe:

Mai/2011

Spalte:

528-530

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Dembek, Arne

Titel/Untertitel:

William Tyndale (1491–1536). Reformatorische Theologie als kontextuelle Schriftauslegung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XVII, 508 S. gr.8° = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 50. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-150302-3.

Rezensent:

Martin Brecht

Mit der bei Hellmut Zschoch an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal gefertigten Dissertation liegt (endlich wieder einmal) eine deutsche Untersuchung zur englischen Reformationsgeschichte vor. Dabei ist gerade Tyndale schon mit seiner Vita eine Brückengestalt zwischen der englischen und der deutschen bzw. kontinentalen Reformationsgeschichte, die die Befassung von beiden Seiten her geradezu herausfordert. Arne Dembek ist bei seinem Studium in Edinburgh mit der British Reformation bekannt geworden und hat sich sprachlich und forschungsgeschichtlich mit seinem Gegenstand vertraut gemacht. Der Untertitel lässt eine theologiegeschichtliche Behandlung des Themas erwarten, aber die Schriften Tyndales sind eben auch die wesentlichste Quelle. Mit dem zunächst recht vage wirkenden kontextuell ist die Verortung des Schrifttums Tyndales in konkreten historischen Situationen ge­meint. Man bekommt so geradezu eine Biographie dieses am Anfang der englischen Reformation stehenden Theologen geboten. Die Darstellung bedient sich meist der deutschen Übersetzung und bietet die originalen Texte dann in den sorgfältigen Anmerkungen.
Die Einleitung steigt alsbald in die Erörterung der englischen Forschung ein. Diese hob gerne die Herkunft der englischen Reformation aus wyclifitisch-lollardischen Wurzeln hervor. Erst neuerlich fand Luther stärkere Beachtung. Dabei sind jedoch außer den vielfältigen und andauernden Bezugnahmen Tyndales auf Luther andere Beeinflussungen nur schwer belegbar. Dies gilt selbst für den immer wieder zum Vergleich herangezogenen Bucer. Über die Anfänge des homo doctus, pius et bonus weiß man sehr wenig. Selbst das Geburtsjahr ist von der Aufnahme des Studiums in Oxford 1512 her erschlossen. Allerdings muss die Untersuchung mit mancherlei hypothetischem Schutt aufräumen. Bekanntheit mit Schriften des Erasmus liegt wohl vor, aber bald dominieren Konzeptionen Luthers. Von 1523 an geht auch Tyndale mit dem Projekt einer Übersetzung der Bibel ins Englische um, das ihn ähnlich ausfüllen sollte wie Luther seine Bibelübertragung. Die Bibel ist dabei sogleich als das Fundament für die Theologie begriffen. Den nicht sicher belegbaren Aufenthalt Tyndales in Wittenberg 1524/1525 hält D. für wahrscheinlich, wenngleich eine stärkere persönliche Beziehung zu Luther wohl kaum bestand.
1525 betrieb Tyndale den Druck des englischen Neuen Testaments in Köln, der aber wegen der Intervention von Johann Cochläus abgebrochen werden musste (Cologne Fragment) und erst in Worms ausgeführt werden konnte. Die Übersetzung wurde zu einem Kristallisationskern für die Reformation in England und zog sich deshalb auch energische Nachstellungen zu. Die Eigenständigkeit Tyndales bzw. seine Abhängigkeit von Luther wird meist national strittig beurteilt. D. mahnt genauere Vergleiche an. In der Anlage der Ausgabe und bei den Marginalien ist die Übernahme von Luthers Übersetzung offensichtlich. Die Vorrede weist Gemeinsamkeiten, aber auch bezeichnende Eigenheiten Tyndales auf, so bereits im Verständnis des Gesetzes. Die luzide Untersuchung von Tyndales Arbeit am englischen Neuen Testament präzisiert gegen die herrschende Meinung dessen weitgehende Übereinstimmung mit Luther gerade in der Rechtfertigungslehre und arbeitet zugleich das eigenständige Interesse an der Heiligung heraus.
Von den beiden programmatischen Schriften von 1528 folgt The Parable of the Wicked Mammon einer Lutherpredigt über Rechtfertigung und gute Werke von 1522, dies jedoch wieder ähnlich modifizierend. The Obedience of a Christian Man wendet sich in Anlehnung an mehrere Lutherschriften wie den Freiheitstraktat und die Obrigkeitsschrift in der aktuellen englischen Situation von der Zwei-Regimenten-Lehre her gegen die Gewalt des Papstes und dessen Sakramentenlehre. Die durchsichtige Interpretation arbeitet den bezeichnenden Vorrang der Pneumatologie anstelle der Chris­tologie bei Tyndale heraus. Die Liebe ist für die Beziehung zwischen Gott und Mensch bestimmend.
In der Folgezeit widmete sich Tyndale vor allem weiter der englischen Bibelübersetzung (Pentateuch und Jona). Ein Aufenthalt in Hamburg wird 1529 wahrscheinlich gemacht, bleibt aber auch wegen der ungünstigen Quellenlage vor Ort unsicher. Tyndale besaß Kenntnisse des Hebräischen. Eine genaue Überprüfung der Benutzung von Luthers Übersetzung wird als Desiderat benannt. In den diversen Vorreden setzt sich Tyndale mit den Widersachern der Bibelübersetzung in der englischen Kirche auseinander. Außerdem entfaltet der Übersetzer seine teilweise über Luther hinaus fortentwickelten hermeneutischen Vorstellungen. In diesem Zusammenhang deutet sich an, dass er im Abendmahlsverständnis Zwingli nahesteht. Einem angeblichen Bruch in Tyndales Theologie wird jedoch widersprochen.
In die englische Situation griff Tyndale 1530 ein gegen Kardinal Thomas Wolsey mit The Practice of Prelates. Wether the king’s grace may be separated from hys queen because she was his brother’s wife und 1531 gegen den Kanzler Thomas More mit An Answer unto Sir Thomas More Dialoge. Tyndale lehnte wie Luther die Scheidung Heinrichs VIII. ab und hielt sie für eine Machenschaft des hohen Klerus (nicht des Königs!). Thomas Morus hatte sich als scharfer Gegner der Reformation präsentiert und reagierte mit einer weitläufigen Confutation. Hintergrund der fundamentalen Polemik Tyndales ist die inhärente Perversion der Papstgewalt durch die Geschichte hindurch, was dann auch für die Gegenwart aktualisiert wird. Mit biblischen Argumenten wird dem König nahegelegt, auf die Scheidung zu verzichten, die nur den Zorn Gottes auf sich ziehen kann. Auf Morus’ breite gegenreformatorische Argumentation reagierte Tyndale mit einem fundamentalen Traktat, in dem es wiederum um das Verständnis der wahren Kirche ging. Ihre Substanz erhalten die Ausführungen durch die breite Heranziehung reformatorischer Argumente, von der aus die Darstellung die theologische Konzeption Tyndales entfalten kann.
In den Jahren 1531 bis 1533 sind vor allem die Auslegungen des 1. Johannesbriefs und der Bergpredigt entstanden, letztere mit wenn auch eigenständiger Benutzung von Luthers Wochenpredigten. Eine stärkere Betonung der Erfüllung des Gesetzes macht sich bemerkbar, aber die Darstellung sieht darin wiederum eher eine Entfaltung als einen theologischen Bruch. Für die Gerechtfertigten sind Liebe und Gemeinschaft bestimmend. Nunmehr be­ginnt der Bundesgedanke eine Rolle zu spielen. Seine Herkunft bleibt offen, Bullinger oder Oekolampad werden vor allem ge­nannt. Als theologisch problematisch wird beurteilt, dass die Gesetzeserfüllung unter den Bedingungen des Bundes erscheint, was der Vergewisserung der Christen dienen sollte, jedoch als eine noch stärkere Umakzentuierung auf die Heiligung hin zu werten ist. Aber als Ahnherr des Puritanismus wird Tyndale damit noch nicht betrachtet. Auch in den 1534 einsetzenden Revisionen zur Bibelübersetzung machten sich die eingetretenen Akzentverschiebungen bemerkbar. In der nachgelassenen Brief Declaration upon the Sacraments sind diese als Bundeszeichen verstanden. Tyndale befindet sich damit in der Nähe Zwinglis. Den von Tyndale durchaus wahrgenommenen innerreformatorischen Gegensatz empfahl er zu ertragen. Die Darstellung endet mit Tyndales Martyrium, das er wie so viele Repräsentanten der frühen englischen Reformation trotz des Exils in Antwerpen zu erleiden hatte. Nach dem Epilog hat es wie bei den anderen »Lutheranern« aus England keine erhebliche Nachwirkung Tyndales gegeben, wenn man von der Bibelübersetzung absieht.
Das Fazit sieht Tyndales Theologie von einem augustinisch-humanistischen Hintergrund aus und tief geprägt von Luther durch die Schrifthermeneutik bestimmt, die in unterschiedlichen Kontexten ausformuliert wird. Sie gilt im Wesentlichen als konsistent, auch wenn die Konsequenz der Ethisierung sich immer stärker bemerkbar macht. Als Analogiefall wird dabei immer wieder auf Bucer verwiesen. Unbefangen betrachtet wurde Tyndale zu einem intensiven Schüler Luthers und Beispiel von dessen Wirkung, freilich auch er mit einer konsequent sich herausbildenden Eigenart. Dies in seiner Entwicklung klarer und genauer als bisher vorgeführt und damit die europäische Reformationsforschung bereichert zu haben, ist das Verdienst von D.s Monographie.