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Ausgabe:

Mai/2011

Spalte:

526-528

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Toney, Carl N.

Titel/Untertitel:

Paul’s Inclusive Ethic. Resolving Community Conflicts and Promoting Mission in Romans 14–15.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. XIII, 235 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 252. Kart. EUR 54,00. ISBN 978-3-16-149741-4.

Rezensent:

Folker Blischke

Die paulinische Argumentation in Röm 14–15 steht im Mittelpunkt der von Carl N. Toney im Jahr 2007 an der Loyola University Chicago eingereichten Dissertation, die für die Veröffentlichung geringfügig überarbeitet wurde. Anders als es der Titel nahelegt, wird nicht die allgemeine paulinische Ethik als Theorie der menschlichen Lebensführung, sondern der ethische Spezialfall von Speisegesetzen und der Beachtung bestimmter Tage im Blick auf die zielgerichtete Kommunikation mit der römischen Gemeinde untersucht. Der Vf. folgt mit seiner Untersuchung einer wertvollen Tendenz in der aktuellen Forschung zum Römerbrief, die paulinischen Aussagen nicht streng zwischen christologisch-soteriologischen (Röm 1–11) und ethischen (Röm 14–15) Abschnitten zu unterteilen, sondern durch die Verbindung beider einen konstitutiven Beitrag zum Verständnis der paulinischen Theologie zu leisten.
Ausgangspunkt der Arbeit ist die bis heute umstrittene Interpretation der beiden Gruppen der Schwachen und der Starken. In einem ersten Kapitel (1–48) wendet sich der Vf. der Forschungsgeschichte zu, indem er die Ansätze von 29 deutsch- und englischsprachigen Neutestamentlern darstellt und einordnet. Aus diesem Überblick leitet er die notwendig zu klärenden Fragekomplexe ab: Auf welche historische Situation in der römischen Gemeinde reagiert Paulus? Was ist das Ziel der paulinischen Argumentation? Wie ist das Verhältnis zu 1Kor 8–10 zu beschreiben? Die jeweils deutliche Bewertung der einzelnen forschungsgeschichtlichen Ansätze lässt dabei schon klar erkennen, welche Antworten der Vf. selbst geben wird.
Unter der Voraussetzung einer Vertrautheit des Apostels mit der römischen Gemeindesituation werden im zweiten Kapitel (49–90) die beiden zerstrittenen Gemeindegruppen durch einen Vergleich der von Paulus verwendeten Termini mit insbesondere alttestamentlichen und hellenistisch-jüdischen, aber auch mit einigen griechisch-römischen Schriften identifiziert. Für den Vf. sind die Schwachen mehrheitlich jüdisch-christliche Gemeindeglieder, die verschiedene Speisegebote wie die Ablehnung von Fleisch und Wein befolgen und Wert auf die Beachtung bestimmter Tage legen, die im Blick auf den Sabbat interpretiert werden. Eine nicht mehr am jüdischen Gesetz, sondern am Geist orientierte Ethik vertreten dagegen die überwiegend heidenchristlich geprägten Starken. Für die Schwachen gehören die Speise- und Feiertagsgebote zu den »Identity Markers« des Judentums, an denen sie auch im Rahmen der christlichen Gemeinde festhalten wollen, um wei­terhin auch Teil der jüdischen Gemeinschaft zu sein. Mit dieser Zuschreibung setzt der Vf. voraus, dass es trotz der im Claudius­edikt genannten Konflikte zur Zeit der Abfassung des Römerbriefs um 56 keine deutliche Trennung der judenchristlichen Gemeindeglieder von der jüdischen Gemeinschaft gab. Als Streitpunkt zwischen der Mehrheit der Starken und der Minderheit der Schwachen wird also die praktische Frage herausgestellt, an welchen ethischen Richtlinien sich das Miteinander der Gemeinde z. B. bei gemeinsamen Mahlzeiten orientieren soll. Wie das Fehlen der Beschneidungs­frage zeigt, wurde anders als in der galatischen Kontroverse aber nicht die Übernahme des Gesetzes für die Heidenchristen gefordert. Deshalb unterscheidet der Vf. den paulinischen Lösungsversuch im Römerbrief deutlich vom Galaterbrief. Paulus will die Starken zu einem Verzicht ihrer Position ermutigen, um eine jüdisch geprägte Lebensweise im Gemeindealltag zu ermöglichen: »Paul’s advice in Rom 14–15 would make the Christian commu­nity gatherings socially compatible with the wider Jewish commu­nity.« (194)
Diese These verifiziert der Vf. im 3. Kapitel (91–125) durch eine exe­getisch-rhetorische Analyse von Röm 14,1–15,13, die auf dem An­satz seines Doktorvaters Thomas Tobin gründet. Die paulinische Argumentation richtet sich an die Starken, die sich im Rahmen des Ge­meindelebens der Beachtung der Speisegebote und be­stimmter Zeiten durch die Schwachen anschließen sollen. So wie Christus ein Jude wurde (Röm 15,8), so sollen die Starken jüdische Gebräuche übernehmen (108 f.). So inkludiert der ethische Ratschlag zwei Ziele: die Einheit der Gemeinde nach innen und die Möglichkeit einer Mission nach außen in der jüdischen Gemeinschaft.
Um möglichen Einwänden gegen die These der paulinischen Forderung einer jüdischen Gemeindepraxis zu begegnen, stellt der Vf. im 4. Kapitel (126–163) die theologische Begründung anhand einer Exegese von Röm 11 dar: Weil der Unglaube der Juden erst die Rettung der Heiden ermöglichte, haben die Heidenchristen nun die Verpflichtung, innerhalb des Gemeindelebens von ihren Rechten abzusehen, um die Juden zu retten. Wie sein Vergleich mit 1Kor 8–10 im 5. Kapitel (164–190) zeigt, wollte Paulus auch in Korinth durch seinen ethischen Ratschlag, den Verzehr von Götzenopferfleisch zu erlauben, die Gemeinschaft der Chris­ten mit Außenstehenden und damit die Mission ermöglichen – auch wenn sich dieses missionarische Ziel auf die Heiden und nicht wie in Rom auf die Juden bezog. Beide inhaltlich verschiedenen Mahnungen zeigen so die inklusive Ethik des Apostels, die Einheit der Gemeinde nach innen und die missionarische Chance nach außen zu befördern.
Der Grundgedanke einer doppelten Zielrichtung jeder ethischen Argumentation des Apostels Paulus auf die Gemeinde nach innen und auf die missionarischen Möglichkeiten nach außen ist ein wertvoller Beitrag zum Verständnis der paulinischen Kommunikation durch seine Briefe. Eine Stärke des Buches besteht auch in der ausgewogenen Aufnahme von rhetorischen Fragestellungen. Die Zuordnung der Starken und Schwachen zu heidenchristlich und judenchristlich geprägten Gruppierungen wird nicht durch neue Argumente begründet, ist aber auf der Grundlage der ausgesuchten Vergleichstexte in sich schlüssig. Dagegen ergeben sich einige Anfragen an die These eines paulinischen Ratschlags, jüdische Gebräuche im Gemeindeleben der römischen Gemeinde einzu­führen.
Historisch kann man davon ausgehen, dass die römische Ge­meinde Kenntnis von der Position des Paulus im Streit über die Gültigkeit des Gesetzes hatte, die sich deutlich in der galatischen Krise ausdrückte. Unter diesem Vorzeichen ist es m. E. wenig wahrscheinlich, dass die römische Gemeinde den ethischen Ratschlag in Röm 14/15 als Ermutigung zu jüdischen Gebräuchen im Gemeindeleben verstand. Auch wenn bei der Darstellung eines auf die Missionierung der Juden ausgerichteten Paulus vom Vf. eine wichtige Seite seines Wirkens benannt wird, verstand er sich selbst zuerst als der Apostel der Heiden. Weshalb er dann nach dem Konflikt in Galatien für die römische Gemeinde Bräuche fordert, die den Heiden den Weg in die Gemeinde erschweren, wird vom Vf. nicht überzeugend genug begründet. Für eine umfassende Verifizierung der These wäre es zudem ratsam gewesen, die Auseinandersetzung über das Gesetz in Röm 7 und die ethische Grundlegung in Röm 12,1–21; 13,8–10 in die theologische Begründung einzubeziehen.
Auch mit diesen Anfragen ist »Paul’s Inclusive Ethic« ein lesenswertes Buch, das übersichtlich strukturiert ist und mit den mehrfach wiederholenden Zusammenfassungen Wert auf gute Verständlichkeit legt. Über die vollständigen Indizes lässt sich zudem der Umgang des Vf.s mit Quellen und Sekundärliteratur gut nachvollziehen.