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Ausgabe:

Mai/2011

Spalte:

522-523

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Maschmeier, Jens-Christian

Titel/Untertitel:

Rechtfertigung bei Paulus. Eine Kritik alter und neuer Paulusperspektiven.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2010. 312 S. gr.8° = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 189. Kart. EUR 39,80. ISBN 978-3-17-021305-0.

Rezensent:

Mark A. Seifrid

Wie aus dem Titel selbst schon ersichtlich, versucht Jens-Christian Maschmeier in seiner Dissertation (Wick, Bochum, 2009/2010), einen dritten Weg zwischen der neuen Paulusperspektive und den traditionellen Interpretationen des Apostels einzuschlagen. Einer von beachtlicher Belesenheit zeugenden Forschungsgeschichte folgen vier exegetisch orientierte Kapitel (2Kor 3,6; Gal 2,15–21, Gal 3,10–14; Röm 2,25–29) und eine relative kurze Synthese.
Der oft wiederholten These der Arbeit zufolge ist die Theologie des Apostels und damit seine Rechtfertigungslehre grundlegend heilsgeschichtlich ausgerichtet. Paulus argumentiere weder gegen eine »legalistische Werkgerechtigkeit« noch prinzipiell gegen Synergismus, den er zusammen mit der Willensfreiheit des Menschen voraussetze (16–19). Was Paulus von seinen jüdischen Zeitgenossen getrennt habe, sei sein Glaube gewesen, dass in Kreuz und Auferweckung Christi die Gläubigen schon neue Schöpfung sind. Der Jude, der im Bund Gottes lebte, sollte und konnte die gottgewollte Tora befolgen. Faktisch habe Israel dies aber nicht getan. Gottes eschatologisches Handeln im stellvertretenden Tod Jesu schaffe den Weg, der es dem Sünder ermöglicht, dem Zornesgericht Gottes zu entrinnen (285–287).
Eine Vorgängerin hat M.s Arbeit in der von Terence Donaldson, der ebenfalls die Bekehrung und Theologie des Paulus primär heilsgeschichtlich interpretiert (Paul and the Gentiles: Remapping the Apostle’s Convictional World, Minneapolis, 1997). Trotzdem ist M.s These selbst neu und originell. Das Werk leidet allerdings daran, dass grundlegende Elemente der These gleich am Anfang als relativ unbegründete Behauptungen eingeführt werden. Es mag wohl sein, dass Paulus nicht gegen eine »legalistische Werkgerechtigkeit« und einen »prinzipiellen« Synergismus kämpfte. Man kann aber diese These nicht beurteilen, ohne zu wissen, was genau damit gemeint ist. Das ist umso wichtiger für die Frage nach der »Willensfreiheit«. Das Verständnis des Willens als menschliche Eigenschaft ist erst mit Augustin entstanden (s. dazu Albrecht Dihle, Die Vorstellung vom Willen in der Antike). Weiterhin geht es in der Rezeptionsgeschichte der paulinischen Briefe auch um die Frage, ob die Fähigkeit, die Tora zu erfüllen, als Paradox zu verstehen ist – ob also dem Menschen diese Fähigkeit eigen und zugleich auch nicht eigen ist. Alles kommt natürlich darauf an, in welchem Sinne man vom »freien Willen« spricht. Offensichtlich muss die Festlegung dieses Begriffs mit Hilfe des Textes selbst gewonnen werden, und das mittels eines tiefen Blicks in die Begriffsgeschichte.
Es sind dann grundsätzliche Fragen an diese Arbeit zu stellen. Auch wenn die Wende vom Sinaibund zu Kreuz und Auferstehung Christi im Zentrum der Theologie des Apostels liegt, bleibt es problematisch, diese Wende kategorisch »heilsgeschichtlich« zu deuten. Die Kontinuität zwischen Sinaibund und Christus, die die Arbeit behauptet, droht zur bloßen menschlichen Verantwortlichkeit zu schrumpfen. Dagegen versteht der Apostel die Geschichte Israels, die des frühen Judentums und auch seine eigene Lebensgeschichte als die Geschichte Gottes – und deshalb als eine Vorbereitung auf das Kommen bzw. die Offenbarung des Messias. Er findet in dieser Geschichte das Vorbild der Wege Gottes in Christus mit allen Menschen. Wenn aber das Versagen Israels so im Plan Gottes liegt und nicht nur in menschlicher Verantwortlichkeit, taucht notwendigerweise die Frage auf, warum Gott mit seinem Volk so verfahren ist. Ist es nicht bei Paulus so, dass Gott im Versagen Is­raels dem Sinaibund gegenüber die blinde, elende Verlorenheit aller Menschen aufdecken will? Wir müssen hier diese Frage nicht weiter verfolgen, um zu sehen, dass sie unumgänglich ist.
Nur zwei exegetische Bemerkungen seien hier angeführt. Zum ersten handelt der Kontext von Hab 2,4, den Paulus in Gal 3,11 (wie auch in Röm 1,17) zitiert, nicht nur vom Versagen Israels, sondern auch vom Versagen des Gesetzes selbst: »das Gesetz ist ohnmächtig, und die rechte Sache kann nie gewinnen« (Hab 1,4). Gewiss liegt dieses Versagen des Gesetzes in menschlicher Schuld. Aber gerade in der Abhängigkeit der Macht des Gesetzes vom menschlichen Tun findet man schon den Gedanken des Apostels (Gal 3,21). Weiterhin verspricht Gott dem Propheten, dass er in seinen Zeiten etwas völlig Neues, abseits vom Gesetz, tun wird (Hab 1,5). Findet man nicht hier eine Kontinuität mit der Theologie des Apostels? Wenn das hier und anderswo bei Paulus der Fall ist, gründet sein neues Verständnis seines Volkes nicht lediglich im Handeln Gottes in Christus, sondern auch in der Schrift und in der Geschichte Israels, die darin geschildert wird. Als Erfüllung der Verheißungen Gottes ist es Chris­tus, der die Geschichte Israels endgültig interpretiert, und nicht umkehrt, was der Fall sein müsste, wenn das Kreuz ausschließlich Gottes Antwort auf die faktische Schuld Israels wäre. Gleichfalls ist das Urteil des Paulus über die Unmöglichkeit der Rechtfertigung des Menschen durch das Gesetz ein Echo der Schrift – und damit der Urgeschichte des Menschen – und nicht einfach ein Reflex seines Glaubens an Christus (Gen 6,12; Ps 143,2; Röm 3,20).
Letztlich ist zu fragen, ob diese Arbeit mit dem Verständnis der Neuschöpfung bei Paulus zurechtkommt. Der Einbruch des neuen Äons in diese verfallene Welt, die durch Christi Tod und Auferstehung geschehen ist, passt nicht in ein heilsgeschichtliches Schema. Wenn die neue Kreatur schon da ist, steht sie schon auf der anderen Seite des letzten Gerichts. Wir müssen ohne Frage die Verantwortlichkeit des Menschen vor dem Richterstuhl Christi in Betracht ziehen, aber nur im Rahmen des Paradoxes, dass wir in ihm schon des eschatologischen Lebens teilhaftig sind.