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Ausgabe:

Mai/2011

Spalte:

516-518

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Frank, Nicole

Titel/Untertitel:

Der Kolosserbrief im Kontext des paulinischen Erbes. Eine intertextuelle Studie zur Auslegung und Fortschreibung der Paulustradition.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. X, 423 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 271. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-150118-0.

Rezensent:

Lukas Bormann

In ihrer von Annette Merz, Utrecht, betreuten Promotionsschrift schließt sich Nicole Frank eng an die Intertextualitätsdebatte der deutschen Literaturwissenschaft der 80er und 90er Jahre an (Helbig, Holthuis, Lachmann, Pfister, Schulte-Middelich, Stierle, Stocker, u. a.). Die Arbeit von Leppä (Göttingen 2003), die die Textbeziehungen des Kol zu den übrigen Paulusbriefen untersucht hat, ist in einer älteren Fassung aus dem Jahr 2000 beständiger Gesprächspartner.
Die Arbeit gliedert sich in sechs Kapitel. Auf eine Einleitung in die Methode der Arbeit (1–34) folgen vier Kapitel, in denen der ge­samte Text des Kolosserbriefs einer intertextualitätstheore­tischen Untersuchung unterzogen wird (35–326), ein Abschlusskapitel wertet die Ergebnisse aus (327–372). F. geht davon aus, dass der pseudepigraphe Kol angesichts des Todes des Paulus eine drohende »Tradierungslücke« durch eine »fiktive Selbstauslegung« überwinden wolle, um die »Fortschreibung des paulinischen Erbes« zu erreichen (2 f.). Deswegen konstruiere der Autor durch Rückgriff auf die echte Paulusüberlieferung eine »Authentizitätsfiktion« (3), die als »fiktive Selbstreferenz« ihren problematischen »fremdtextbasierten Charakter« verschleiere (4 f.).
F. skizziert zunächst die intertextualitätstheoretischen Argumentationen, die sie in ihrer Arbeit flexibel nutzen wird (17–26). Sie nimmt das Konzept von Leppä auf, nach dem drei lexematische Beziehungen (Wortübereinstimmungen) innerhalb von fünf Zeilen Nestle/Aland-Text ein Beleg dafür seien, dass ein Text als Prätext fungiert habe, und erweitert es um eine »qualitative« Auswertung (16). Zu Recht verweist F. insbesondere auf die »Reziprozität« von Textbeziehungen. Es gehe nicht nur um »Wirkungen« eines Prätextes auf einen Folgetext, sondern auch um die »sinnkonstituierende Funktion« des Folgetextes für den Prätext und dessen Rezeption (21).
Kapitel II untersucht Briefeingang und Briefschluss des Kol (1,1–14; 4,2–18). F. geht hier Vers für Vers vor und zieht mögliche Parallelen aus den authentischen Paulusbriefen heran. Die Auswertung prüft schrittweise Übereinstimmungen, Abweichungen, Neuverknüpfungen und Eigencharakteristika (79–87). Phlm sei »primary model« des Kol, er werde »als Ganzes thematisch evoziert« (79), ja, Kol sei Fortführung und Abschluss dieses Vorläufertextes. So werte Kol die Information in Phlm, dass Onesimus ein entlaufener Sklave sei, aus und führe sie weiter, indem er Onesimus nun einen Mitarbeiter des Paulus nenne (79). Kol vollende sozusagen den offenen Ausgang des Phlm. Dem entspreche die Aufwertung der Mitarbeiter durch die »Übertragung von Merkmalen des apostolischen Amtes« (87).
In Kapitel III geht es um die fiktive Selbstdarstellung des Paulus. F. trennt überraschend den Relativsatz (οὗ ἐγενόμην ἐγὼ Παῦλος διάκονος) von 1,23 ab und versteht ihn als »Beginn der brieflichen Selbstvorstellung« (91), behandelt hier also 1,23b–29. Die apostolische Selbstvorstellung des Paulus setze dessen Tod voraus (110 u. 117). Die Aussage in Kol 1,24 über die Leiden des Paulus, die den Mangel der Bedrängnisse Christi erfüllten, sei analogielos und müsse »christo­logisch« (möglicherweise ist sogar soteriologisch gemeint) inter­- pretiert werden (96). Kol 1,24 greife aber auch vertraute Aussagen aus den echten Paulinen auf, um zu bewirken, dass die übrigen Leidensaussagen des Paulus ebenso im Horizont von Kol 1,24 zu lesen seien (124).
Kapitel IV zur Christologie und Soteriologie geht etwas andere Wege. Da der Kolosserhymnus ein Traditionsstück sei, könne nur untersucht werden, inwiefern im Umgang mit »hymnischen Textformen« eine strukturelle Intertextualität festzustellen sei und inwiefern Teile des Hymnus im Kol sonst noch verwendet würden (125 f.). Die Gemeinsamkeiten des Phil und Kol im Umgang mit einem Hymnus verweisen nach F. darauf, »dass der Philipperbrief bei der strukturellen Ausgestaltung insofern eine direkte Vorlage des Kol bildete, als die jeweilige konzeptionelle Einbettung eines hymnischen Textbereichs ähnlichen Strukturmustern folgt« (142). In der Auswertung gesteht F. ein, es sei »analytisch ebenso unzureichend wie unmöglich, in der bisher angewandten Auswertungsweise« die Befunde »wirklich trennscharf zu systematisieren« (201 f.). Im Ergebnis sieht F. »eine klare Gegenwartsorientierung, die den bereits erlangten Heilsstatus der Christen ins Zentrum stellt« (206).
Kapitel V befasst sich mit der Gegnerpolemik und den ethischen Aussagen des Kol. Ausführlich wird die Forschungslage zur Gegnerproblematik referiert (207–219), um dann herauszuarbeiten, dass Kol 2,6–23 »durch die kreative Eigentätigkeit des Verfassers bestimmt ist« (250). Dieser nehme in Fragen der Askese anders als die Protopaulinen eine »kompromisslose Haltung« ein (251). In ethischen Fragen betone der Kol zwar stärker die Gegenwartsorientierung der ethischen Forderungen als die Protopaulinen, stehe ihnen aber inhaltlich sehr nahe (288 f.). Die Haustafel in Kol 3,18–4,1 erscheine der Authentizitätsfiktion des Kol »nicht zuträglich«, da eine solche in den authentischen Paulusbriefen nicht vorkomme (290). Genau deswegen werde sie sprachlich »paulinisiert« und auf die Problematik des Philemonbriefes, die Flucht des Sklaven Onesimus, ausgerichtet (311–313).
Kapitel VI wertet die Beobachtungen insgesamt in drei Schritten aus (Textproduktion, Textrezeption, Referenzorientierung), um dann mit einem Ausblick zu schließen. Kol nehme die Paulustradition auf und wolle zudem sein Paulusbild in die authentischen Paulinen eintragen (327). Als textliche Vorlage erweise sich aufgrund der Textbeziehungen der Phil, zu Phlm gebe es eine »direkte literarische Abhängigkeit« (346), während sich zu den anderen Paulusbriefen eher partiell verdichtete Bezugnahmen (»Distributionscluster«) feststellen lassen (336). Die Bezüge zum Mk seien letztlich immerhin »Anzeichen textueller Bekanntschaft mit der markinischen Überlieferung« (353). Zwei Übersichten über die Textbereiche, in denen die intertextuellen Berührungspunkte besonders deutlich sind, können als tabellarische Zusammenfassung gelten (348.351). Schließlich werden die Ergebnisse etwas unvermittelt als Ausdruck »hellenistisch-weisheitlicher Schrifttradition«, für die Plato, Plutarch und Philo in Anspruch genommen werden, bezeichnet (354 f.). Der Kol betone so die Gegenwartsperspektive der paulinischen Botschaft, verhalte sich in seiner »Gesellschaftsperspektive« inkohärent, be­sonders in der Sklavenfrage, und fördere die Hierarchisierung, Globalisierung und Institutionalisierung des paulinischen Gemeindeverständnisses. Der Ausblick betont noch einmal, wie hilfreich intertextuelle Methoden seien, um »Kontinuität und Diversität textuell zu verorten und jenen ›Dialog der Texte‹ als solchen transparent zu machen« (371).
F. behandelt den gesamten Kol unter den Gesichtspunkten der deutschen literaturwissenschaftlichen Intertextualitätsforschung. Die grundlegenden Theoretiker Bachtin und Kristeva werden nur aus zweiter Hand besprochen (6 f.), Eco gar nicht. Die exegetische Literatur zum Kol wird recht umfassend herangezogen, die exegetische Intertextualitätsdiskussion (z. B. Hays) allerdings weitgehend ausgeblendet. – Sicher wollte der Kol neben seinen spezifischen Intentionen für seine Adressaten auch ein bestimmtes Paulusbild betonen. Hier wäre aber noch genauer herauszustellen, bis zu welchem Grade es dem knappen Schreiben tatsächlich gelingt, die paulinische Briefüberlieferung einer am Kol orientierten Rezeption (»Sinnkonstitution«) zu unterwerfen.
F. hat in einem exegetischen Forschungsbereich, in dem jeder Stein bereits mehrfach umgewendet worden ist, eine eindrucksvolle, hilfreiche und sorgfältig erarbeitete Studie zusammengestellt, die in der Kolosserexegese ihren festen Platz finden wird.