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Ausgabe: | Mai/2011 |
Spalte: | 504-506 |
Kategorie: | Altes Testament |
Autor/Hrsg.: | Geiger, Michaela |
Titel/Untertitel: | Gottesräume. Die literarische und theologische Konzeption von Raum im Deuteronomium. |
Verlag: | Stuttgart: Kohlhammer 2010. 368 S. gr.8° = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 183. Kart. EUR 39,80. ISBN 978-3-17-020733-2. |
Rezensent: | Steffen Leibold |
Wie kein zweiter Text der Hebräischen Bibel prägt das Sch’ma Israel (»Höre Israel«; Dtn 6,4–9) die Gestaltung jüdischer Räume und Körper: Das besondere Konzept dieses bekannten Glaubensbekenntnisses findet Ausdruck in den Mesusot – den Kapseln an den Türrahmen – und den Tefillin – den Gebetsriemen an Hand und Stirn. Diese Wahrnehmung einer Beziehung zwischen Text und Raum- sowie Körperpraxis bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit, der geringfügig überarbeiteten Fassung einer von Rainer Kessler betreuten und 2008 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg angenommenen Dissertation.
Die Arbeit von Michaela Geiger bietet eine Analyse des masoretischen Endtextes des Dtn aus raumtheoretischer Perspektive. Im Anschluss an einen methodischen Teil (13–58) werden die einzelnen Raumkonzepte des Textbereiches Dtn 1–12 über eine fortlaufende Exegese entwickelt (59–292), um sie in einem weiteren Schritt zu einer Raumkonzeption des Dtn zu systematisieren (293–347). Die Begrenzung des Textkorpus begründet sich in der Feststellung der Vfn., dass mit dem Ende des zwölften Kapitels alle zentralen Raumkonzepte eingeführt sind. Zur Profilierung dieser Konzepte werden allerdings weitere Texte des Dtn herangezogen.
Mit der Untersuchung des masoretischen Endtextes knüpft die Vfn. an wenige, wenngleich im deutschsprachigen Raum aktuelle Studien zum Dtn an. Im einführenden Kapitel werden neben den Studien von Robert Polzin (1980) und Jean-Pierre Sonnet (1997) besonders die Arbeiten von Karin Finsterbusch (Weisung für Israel. Studien zu religiösem Lehren und Lernen im Deuteronomium und seinem Umfeld [FAT 44], Tübingen 2005) und Johannes Taschner (Die Mosereden im Deuteronomium. Eine kanonorientierte Untersuchung [FAT 59], Tübingen 2008) vorgestellt. Über die raumtheoretische Perspektive allerdings bietet die Arbeit einen Zugang, der in seiner Detailliertheit bisher für die alttestamentliche Exegese nur sehr marginal und für die Forschung zum Dtn noch nicht berücksichtigt wurde.
Die raumtheoretische Perspektive wird über das Modell der Soziologin Martina Löw zur Beschreibung realer Räume (Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001) definiert: Raum wird nicht als ein unveränderlicher und objektiv wahrnehmbarer Behälter verstanden, sondern als Ergebnis eines Gestaltungsaktes einer fest begrenzten Sozialgruppe. Diese Raumkonstitution ist durch zwei unterschiedliche, aber eng miteinander verbundene Prozesse determiniert: Räume entstehen durch Spacing als »eine relationale (An-)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten« (Löw 2001, 271) und Syntheseleistung als eine gemeinschaftliche Wahrnehmung der jeweiligen Raumschaffungen. Diese soziologische Theorie wird für die Analyse von Erzähltexten modifiziert, um Raumkonzepte als Formen literarischer Spacings und Syntheseleistungen zu analysieren. Die wie im Sch’ma Israel genannten Körper können nach der Erweiterung von Löws Konzept durch die Vfn. in zweifacher Weise sowohl als Bestandteile eines geschaffenen Raumes als auch als ein eigener Raum mit eigenem Spacing beispielsweise durch Bekleidung und Gewohnheiten gedeutet werden.
Die Raumkonzepte des Dtn werden über geographische Namen wie Ägypten, Horeb, Moab und Jordan, über Gegenden wie die Wüste, über Objekte wie das Haus, die Türpfosten und das Tor, über Körperteile wie das Herz, die Hand und die Augen sowie über abstrakter zu verstehende Begriffe wie den einen Ort und der Mitte unterschieden. Die Auswahl der Bezeichnungen gründet sich auf die Häufigkeit der jeweiligen hebräischen Raumbegriffe, die Verwendung dieser Begriffe sowohl auf der Ebene der Erzählstimme als auch auf der Ebene der Moserede sowie deren Stellung an strukturell exponierten Stellen in Dtn 1–12. Allerdings ist an dieser Stelle einzuwenden, dass diese Konzepte nicht gleichwertig sind: Die Türpfosten beispielsweise gehören (auch) zum Konzept Haus und die einzelnen Körperbegriffe bilden erst zusammen das Raumkonzept eines Körpers. – Obgleich Löws Modell grundlegend für die exegetische Entwicklung dieser Raumkonzepte sein soll, ist diese Perspektive nicht durchgängig erkenntnisleitend; stellenweise reicht dieser Teil der Arbeit nicht über eine Aufnahme verschiedener Ergebnisse der Endtextexegese zum Dtn hinaus.
Die daran anschließende Systematisierung der Konzepte zu einer Raumkonzeption des Dtn ist über verschiedene Schwerpunktsetzungen strukturiert: Die einzelnen Räume werden beispielsweise geographisch gemäß der erzählten Reise des Volkes Israel von der Wüste über den Horeb und das Land Moab bis ins verheißene Land angeordnet, der Horeb neben Ägypten als Ursprungsort Israels profiliert und der Weg von Ägypten und dem Horeb zum Standort der Versammlung in Moab mit Ausblick ins Land als Lernweg beschrieben. Über einen chronologisch geprägten Zuschnitt werden diese Konzepte den jeweiligen Zeitformen der in Moab östlich des Jordans situierten Erzählung zugeordnet.
Obgleich sich die Arbeit auf den Endtext konzentriert, wird in diesem Abschnitt überdies der Versuch unternommen, eine Entwicklung der Raumkonzeption im Rahmen der gängigen literar- und redaktionskritischen Hypothesen zu konstruieren und das Dtn als einen für die Exilssituation tragfähigen Gegenentwurf zur Zionstheologie zu positionieren. Den Abschluss der Systematisierung bildet eine Einordnung der Raumkonzepte in den Kontext von Ex–Dtn.
Dieses Hauptkapitel der Arbeit lässt zahlreiche Redundanzen zu den Ergebnissen des vorhergehenden Teils erkennen. Es wäre sinnvoller gewesen, die Exegese nicht gemäß der Erzählstruktur und darin unabhängig von der Systematisierung, sondern primär im Rahmen der Entwicklung der Raumkonzeption durchzuführen. Da sich die Raumkonzeption dieser Arbeit über das gesamte Dtn erstreckt, erwiese sich über diesen Zugang die exegetische Fokussierung auf Dtn 1–12, die ohnehin durch Verweise auf weitere Texte des Dtn erweitert wurde, als nicht notwendig.
Letztlich kann die in sich nachvollziehbar erarbeitete Raumkonzeption des Dtn zum besseren Verständnis strukturell noch deutlicher am Jordan als Grenze ausgerichtet werden. Diese Orientierung lässt sich erzähltheoretisch (331–335) und über die Konstitution der ermittelten Raumkonzepte (341–347) plausibilisieren: Die Räume östlich des Jordans und der Gemeinschaft Israels in Moab liegen in der Vergangenheit der Erzählung und können primär als ein Spacing durch JHWH verstanden werden, währenddessen die Raumschaffungen im Land westlich des Jordans als ein zukünftiges Spacing des in Moab innehaltenden Volkes Israel – als im Dtn genannte Größe und als mögliche Größe der Rezipienten – zu deuten sind. Über die Analyse der Funktion der Raumschaffungen lässt sich diese Unterscheidung profilieren: Die zukünftige Wiederholung der Horebgemeinschaft an dem einen Ort im Land ersetzt nicht die vergangene Raumschaffung am Horeb diesseits dieser Grenze, die neben den anderen beiden vergangenen und gleichsam diesseitig verorteten Raumkonzepten Wüste und Ägypten Israel unter JHWH konstituiert und einen Landverlust der Rezipienten – wie in der Exilserfahrung – in ein theologisches System integrieren kann.
Schließlich eröffnet der raumtheoretische Zugang dieser Arbeit der biblischen Exegese grundsätzlich neue Erkenntnisse und darin neue Möglichkeiten der Vernetzung: In der systematischen und der praktischen Theologie kann der Umgang mit textlich ermittelten Raumkonzepten als Vorlagen für reales Spacing und dessen Syntheseleistung reflektiert werden und auf interdisziplinärer Ebene ergeben sich Anknüpfungspunkte für kulturwissenschaftliche Forschungen, über welche in der Annahme einer kulturpoietischen Kraft von Texten eine Abhängigkeit realer Raumschaffungen von literarischen Spacings wie beispielsweise dem eingangs genannten Sch’ma Israel untersucht werden kann.