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Ausgabe:

Februar/1996

Spalte:

146–148

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Müller, Hans-Peter

Titel/Untertitel:

Das Hiobproblem. Seine Stellung und Entstehung im Alten Orient und im Alten Testament. 3. um einen Nachtrag erw. Auflage

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995. X, 230 S. 8o = Erträge der Forschung 84. Kart. DM 48,­. ISBN 3-534-07265-0.

Rezensent:

Jürgen van Oorschot

Als Berichterstatter und engagierter Hiobinterpret in einem führt der Münsteraner Professor für Altes Testament und nordwestsemitische Literatur Hans-Peter Müller mit seinem Band in die beständig anwachsende Literatur zum Buch Hiob ein. Die Grundkonzeption der 3. Auflage deckt sich ebenso wie der Hauptteil der Darstellung (1-171) mit der ersten Fassung aus dem Jahr 1978, nunmehr ergänzt um einen Nachtrag (173-213). Darin werden ausgewählte Beiträge der letzten 15 Jahre sowie neuere Tendenzen der Hiobforschung kurz präsentiert.

Wie es bereits der Titel signalisiert, greift die Anlage des Buches über die engeren Grenzen der Arbeiten zum atl. Hiobbuch hinaus. So berücksichtigt M. schon in der einleitenden Darstellung der älteren Forschung von Johann Gottfried Herder bis Rudolf Otto die philosophische Seite des Hiobproblems (1-19). Neueren philosophisch-theologischen Beiträgen widmet er einen eigenen Abschnitt (174 f.), der u.a. die Theodizeefrage und deren Überführung in ästhetische Kategorien berührt (Müller; Brändle; Theobald). Deutlich breiter noch wendet er sich orientalischen Parallelen zur Rahmenerzählung (23-48; 183-186) und altorientalischen zum Buche insgesamt zu (49-72; 180-183). So erwog schon die ältere jüdische und christliche Exegese die Übernahme des Stoffes der Prosateile aus dem außerisraelitischen Bereich sowie deren fiktionalen Charakter. Der Erforschung der arabischen Hiobüberlieferung geht M. ebenso nach wie der jüdischen Wirkungsgeschichte des außerbiblischen Hiobstoffes. Dabei zeigt sich die Popularität der Figur des geduldig leidenden Gerechten und eine "große(n) Kohärenz der jüdisch-mohammedanischen Oralüberlieferung über Jahrhunderte hinweg." (34) Die 3. Auflage ergänzt einen Abschnitt zu den Problemen des Textes und den antiken Übersetzungen (176-180). Darin berücksichtigt M. die Arbeiten zum Hiobtargum aus Qumran, 11QTgJob (Textbereich: Hi 17,14-42,12), zu den Fragmenten 4Q157 (zu Hi 3,5-9; 4,16-5,4) und 11Q10 (zu Hi 23,1-8aa) und den diversen Übersetzungen (LXX, Vetus Latina, Peschitta, Sa’adja Ga’on) sowie die grammatischen und lexikalischen Beiträge der Dahood-Schule (Blommerde, Ceresko, Michel), L. L. Grabbes u.a.

Die Darstellung der inneralttestamentlichen Diskussion konzentriert sich auf die ursprünglichen Bestandteile von Dialog (Hi 3-31* ­ 73-100) und Gottesreden (Hi 38,1-42,6*­ 101-122). So spart M. die Elihureden aus (in 3.Aufl. knapp erwähnt ­ 188 f.), diskutiert allerdings das Weisheitsgedicht in Kap. 28 in einem eigenen Absatz (129-134). Das Interesse gilt in diesen Abschnitten vornehmlich der form- und traditionsgeschichtlichen Einordnung, wobei M. für den Dialogteil als Gesamtbild eine Integration der weisheitlichen und juridischen Elemente in die Grundstruktur der psalmistischen Klage vorschlägt (98-100). Der mit Gott ringende Mensch führe sowohl den weisheitlichen Streit um das Verständnis der Wirklichkeit als auch die juridische Frage nach der Rechtfertigung des Menschen vor Augen. Auch zum Verständnis der Gottesrede und Antwort Hiobs wählt M. einen integrativen Ansatz. Auf diese Weise lasse sich Hiob als Problemträger und damit die weisheitlich und juridisch akzentuierte Ausgangssituation, das Geschehen des Dialogs und der Aktcharakter von Gotteserscheinung, Gottesrede, Antwort Hiobs sowie die intendierte Wirklichkeitsaneignung durch Hiob selbst in ihrer komplexen Durchdringung verstehen. Der jeweils die 1. und 3. Auflage abschließende Passus zu "Hiobinterpretation und Wahrheitsfrage" (135-139; 192 f.) faßt M.s Gesamtverständnis noch einmal zusammen: Klage Hiobs und Antwort Gottes seien als "Sprachgeschehen" zu verstehen, wobei "nicht die Richtigkeit seines kognitiven Inhalts, sondern die performative, verwandelnde Kraft des im Reden beschlossenen Vorgangs... seine Wahrheit" begründet. "Sie liegt im Recht des Schöpfers über seine Kreatur... Sie liegt im Gelingen der Verwandlung, die sich an Hiob und an seiner Welt erweist." (137). Mit Blick auf die literarische Ebene formuliert, vollzieht der Verfasser eine durch Gottes Erscheinen und Reden bevollmächtigte "wagemutige ad-aequatio rei ad intellectum" (138). Durch die Kraft dichterischer Sprache ereigne sich "die mythische Verwandlung der Wirklichkeit", bei der die eigene "Wahrheit des Religiösen" (139) die Wirklichkeit "als geordnete, menschgemäße Welt" zurückgewinne, "wie der Glaubende sie nach seiner Überzeugung wahrhaben darf". "Das Heilige" und "das Ästhetische" (138) zeigen sich dabei in ihrer wechselseitigen Bezogenheit. In der 3. Auflage bringt M. nun, auf eigene Arbeiten verweisend, Einsprüche und Rückfragen zu dieser Sicht vor: "Poetisch-ästhetische Wirklichkeitsassimilation kann realitätsbewußte Wirklichkeitswahrnahme nicht ersetzen." So bleibe das Theodizeeproblem auch theologisch begründet offen, da dem Gott Israels und dem Vater des gekreuzigten Christus ein erst eschatologisch sich aufhebender Leidenszug eigne und menschliche Erkenntnis "Gott und Welt (nicht) anders als hoz me gleichzeitig zu denken" vermöge (193).

Fragen der Genese werden von M. vornehmlich als solche nach der "Entstehung des Hiobproblems (Vf.) in Israel" (123; 191) behandelt. Dabei referiert er die verschiedensten bisher diskutierten Thesen zum soziokulturellen Hintergrund des Buches (Pedersen, Hengel, Whybray, Kreissig, Crüsemann, Clines und Albertz). Zugleich mahnt er eine die geistigen und materiellen Wechselwirkungen betonende Sozialgeschichte an. Dabei bleibt es dem Rez. fraglich, ob entscheidende Fortschritte an dieser Stelle ohne eine breitere Berücksichtigung der Genese des Hiobbuches erzielt werden können. Die "Glasperlenspiele" (188) der entsprechenden redaktionsgeschichtlichen Forschung der letzten sechzehn Jahre finden im Nachtrag der 3. Aufl. auf etwa einer halben Seite (!) Erwähnung. Weist man schon auf die an dieser Stelle unterstrichene Notwendigkeit hin, "die Entstehungsbedingungen des Buches Hiob in ihrer ganzen Komplexität... aufzuweisen" (192), so gehört die basale Wahrnehmung der Mehrschichtigkeit des Textes und ihrer Ursache fraglos mit zu den Aufgaben. Insgesamt erhält der nach Orientierung in der Fülle der Literatur suchende Leser mit diesen "Erträgen der Forschung" eine hilfreiche Einführung, die im Hauptteil des Buches auf dem Stand von 1978 verbleibt und im "bibliographischen Wegweiser" (X) des Nachtrags bis zu den Beiträgen des Jahres 1994 führt.